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Essay
Ben-Witter Preis 2009 für Ulrich Holbein
Preisverleihung am 23. September 2009
um 19 Uhr im Hamburger Literaturhaus
Laudatio von Ulrich Stock
Lieber Herr Kersten von der Ben-Witter-Jury,
werte Festgemeinde,
sehr geehrter Preisträger Ulrich Holbein!
Ben Witter war ein Mann, der auf seinen Eindruck vertraute. Er hatte kein Tonbandgerät dabei, wenn er seine berühmten Spaziergänge mit Prominenten unternahm, auch kein Notizbuch. Er sah hin, hörte zu, hielt inne, atmete durch, fragte, widersprach. Aufschreiben tat er nichts. Das kam erst hinterher, abends im Hotelzimmer, und den Konjunktiv gebrauchte er so gut wie nie. So gelang ihm die Vermittlung mancher Wahrheit, die heute in der Rechtsabteilung hängen bleibt, wenn ein kritischer Anwalt noch einmal über das druckfertige Manuskript schaut und nach Belegen fragt.
Ben Witter war ein Grenzgänger, Ulrich Holbein ist ein Grenzgänger. Aber die Grenze ist eine andere. Ben Witter durchstreifte St. Pauli, Ulrich Holbein hält sich tief in Hessen versteckt.
Witter schrieb Aphorismen, Kurzgeschichten, Reportagen. Holbein schreibt Glossen, Essays, Kompendien. Beiden gemein ist das Antippen, das Schweifen, der Sinn für das Große im Kleinen und der sehr eigene Umgang mit Sprache.
Als ich erfuhr, daß Ulrich Holbein den Ben-Witter-Preis bekommt, da war ich sofort begeistert. Ja, natürlich, und gerade jetzt, da er das Narratorium veröffentlicht hat, eine wahre Wucht von Buch, das ich Ihnen, liebe Festgemeinde, sollten Sie noch keinen Holbein haben, gleich zum Einstieg empfehlen kann.
Meine Freude über den Preisträger wurde etwas gedämpft durch die ehrenvolle Aufgabe, die mir angetragen wurde. Holbein würdigen ich? Mein einziger Trost war, daß auch jeder andere es schwer hätte.
Ulrich Holbein wollte mir durchaus Mut machen. In einer E-Mail schrieb er mir:
Egal, was Sie sagen, ich könnt jetzt schon jeden Satz mit Zitaten aus meinem Werk grundlegend aushebeln. Also nur zu!
Und dann öffnete ich den freundlicherweise beigefügten Anhang seiner Mail mit der kompletten Holbeinschen Publikationsliste und mir stockte der Atem. 914 Werke fand ich dort eingetragen, einzeln numeriert, teilweise kommentiert, gefolgt von einer seitenlangen Aufzählung des Unvollendeten, darunter allein
22 Romananfänge. Ich wollte das sofort ausdrucken, aber ich musste erstmal Papier nachfüllen: 66 engbeschriebene DIN-A4-Seiten! Da braucht man einen Schnellhefter und starke Nerven.
Ich sah nochmal in die E-Mail und las:
Walter Benjamin brauchte für seine Karl-Kraus-Laudatio vier harte Monate. Jörg Drews rühmte sich einmal, an einer Holbein-Laudatio bloß vier Stunden geschrieben zu haben, aber er kannte akribisch alle meine Bücher. Problem: Bin phänomenologisch so schwer zu umzingeln, dass selbst Profiexperten mit Kenntnis meiner 24 Bücher gleichfalls ziemlich danebentapsen. Nun können Sie der Hamburger Menschheit endlich Lichter aufsetzen – nur wie!? Markante Superlative können sicher nicht schaden.
Also, lieber Preisträger, großes, größtes, allergrößtes Lob heute von meiner Seite, wenn auch gestützt auf grobe Unkenntnis und viele Behauptungen, aber nehmen Sie das als Literarischen Journalismus und als das Gegenteil dessen, was Sie tun: nämlich geduldig die Wirklichkeit in all ihren Erscheinungsformen häuslich abzuschöpfen und auszudeuten, gestützt auf Zettelkästen, Tausende von Büchern und angetrieben von einer rund um die Uhr reichenden Produktivität.
Ich lege gleich los mit der Behauptung, das Werk viel besser zu kennen als den Autor. Ulrich Holbein und sein Laudator sehen sich heute abend zum ersten Mal. Ich habe ihn vorhin am Eingang aber gleich erkannt, er mußte der Herr mit dem Bart sein, ich habe Bilder von ihm gesehen.
Gelesen habe ich von ihm schon 1992; das war in einem ganz unschuldig „Doppel-Moppel“ überschriebenen Artikel der Zeit. Die Überschrift war winzig, dafür nahm der Text die ganze Seite ein, wie das damals so war. Es sollte sich ausweislich des Vorspanns handeln um einen „kleinen Ausflug ins Land der überflüssigen oder ungelüfteten Adjektive“.
Überflüssige Adjektive, okay.
Aber ungelüftete Adjektive? Hey!
Und so ging es los, hören Sie Ulrich Holbein:
Die Welt ist knallvoll von runden Bällen und selbstloser Hingabe. Nirgendwo eine Klippe, der nicht das Attribut schroff angeklebt wird, nirgendwo eine Vergangenheit, eine Schaffenskraft oder ein Klotz, die nicht als unwiederbringliche Vergangenheit, ungebrochene Schaffenskraft und ungehobelter Klotz auftreten.
Holbein widmet sich im Folgenden dem „brennenden Verlangen“ wie der „tödlichen Langeweile“, der „kreativen Schöpfung“ wie dem „erfrischenden Genuß“, dem „alten Opa“ wie dem „grünen Salat“. Einmal in Schwung geißelt er neben Zeitung und Werbung auch anerkannte Autoren, von Patrick Süskind, bei dem es ihm arg nach Düften duftet, bis Christoph Ransmayr, dessen er ausschweifende Doppelmoppelorgien er ebenso ausschweifend karikiert:
Null Wunden ohne das Attribut klaffend, kein Hund ohne das Attribut kläffend, kein Verfall ohne das Attribut unaufhaltsam. Strahlende Helden werden bewegt von unbändigen Leidenschaften, wirren Gefühlen, verzweifelter Wut, zwischendurch auch mal von ungläubigem Staunen, tobendem Kopfschmerz oder berückender Schönheit.
Hier zeichnet sich schon früh eine Eigenart Holbeins ab: die geradezu lüsterne Lust an der sich wiederholenden Repetitivität. Während mancher Leser unter der Lektüre „Stopp! Halt!“ ruft, „Ich hab’s verstanden!“, legt Holbein noch eins drauf und noch eins und noch eins und noch eins und noch eins.
Ich möchte das loben, weil es oft an ihm kritisiert wird, dieser Hang zur Fülle, zur Überfülle. Man fühlt sich, Holbein lesend, bisweilen erschlagen, verschüttet, zugewörtert. Aber ich finde das gut. Ich behaupte: Dieser Mann ist ein Himmelsstürmer, ein Erdrutscher, ein Textturbo, und Sie steigen ja auch nicht auf dem Jahrmarkt ins Karussell, um sich hinterher darüber zu beschweren, daß Ihnen schwindlig geworden ist. Holbein fährt Achterbahn mit einem, ohne elektrischen Antrieb, mit erklecklichem Abrieb, und man kann seine Texte wieder und wieder und wieder lesen, wenn auch nicht alle nacheinander und schon gar nicht alle 914 auf einmal.
Holbeins Doppelgemoppel jedenfalls war an jenem 1. Mai 1992 der Aufmachertext des Feuilletons in der Zeit. Er löste eine Flut von Leserbriefen aus; in der Redaktion brachen alle Dämme, und der Autor bekam eine Kolumne, die Sprachlupe. Im Nu wurde er zu einer Art Sprachpapst. Was sagte Wolf Schneider dazu? Wahrscheinlich nicht mal piep.
49 Texte erschienen, vier Jahre lief die Reihe, sie endete im September 1996. Die Stücke spielten im grammatischen Gebälk, untersuchten die Zwitterhaftigkeit des Semikolons, fragten nach unseren Lieblingsbuchstaben und wehrten sich gegen den Floskelterror von K wie Knackpunkt bis S wie Sich Einbringen. Und da ich mich heute von der Beweispflicht und allen Konjunktiven frei fühle, kann ich sagen: Ich habe die Sprachlupen alle gelesen. Ja, ich habe sie verschlungen.
Verschlungen ist überhaupt gut, denn wenn Holbein was ist, dann ist er verschlungen. Bei ihm geht alles nicht nur durcheinander, sondern auch ineinander über und drüber und drunter.
Standbein, Spielbein, Holbein, so muß man es sagen, und dann sind wir nach der Rummelmetapher schon beim Fußballbildchen.
Kickt unser Autor? Interessiert er sich fürs runde Leder, das unhaltbar in den eckigen Kasten fliegt? Ich kann’s mir fast nicht vorstellen. Ich sehe im Narratorium nach, seinem jüngsten Buch, ich sag jetzt mal: seinem Hauptwerk. Erschienen vor einem Jahr bei Ammann, bald zwei Kilogramm schwer, 1008 Seiten stark, 255 Lebensbilder führender und irreführender Persönlichkeiten darin versammelt. Ich suche Günther Netzer, ich suche Beckenbauer, ich suche Lothar Matthäus, aber ich finde nur Mohammed Ali, Rüdiger Nehberg und Michael Jackson. Komplette Fehlanzeige!
Ich suche die Liste seiner 914 Werke nach „Tor“ ab und finde nur „Der tragische Lektor und sein Autor“, ein Doppelporträt für die Frankfurter Rundschau, 1993.
Ich suche nach „Tor“ und finde „Motorisiert durch Indien“, ein Aufsatz über „Indien in der deutschsprachigen Literatur von 1900 bis 1999“, erschienen in der Kultur-Zeitschrift die horen.
Und ich finde den Großadministrator Perry Rhodan, dem Holbein zum 68. Geburtstag gratuliert, das war vor fünf Jahren in der Frankfurter Rundschau. Großartig übrigens die Stichzeile: „Krummes Jubiläum“, historisch-dynamisch die Überschrift: „Stets trieb kosmische Sehnsucht ihn vorwärts“.
Also kein Fußball bei Holbein, aber dies ist jetzt wirklich bloß behauptet; ich erwarte bang die Widerlegung.
Nach den vier Jahren Sprachlupe war für Holbein bei der Zeit nun nicht etwa Schluß. Nein, er war jetzt reich und berühmt, die Auflage der Zeitung stieg dank seines Mitwirkens, und die Redaktion erbat weitere Werke, die sie in Gold aufzuwiegen versprach. Fortan entwarf der Kolumnist aus dem Knüll-Gebirge eine Typologie der Berauschten. Das erste Stück hieß „Der stets Nüchterne“, und sein Redakteur – war ich.
Das war die zweite Stufe meiner Annäherung an unseren heutigen Preisträger. Ich durfte mit ihm telefonieren! Beziehungsweise: Ich mußte mit ihm telefonieren. Nie um zu kritisieren, zu korrigieren, zu streichen, allenfalls um zu loben. Seltsamerweise habe ich seine Aufforderung noch im Ohr, es lange klingeln zu lassen, er schaffe es nicht immer so schnell, er sei oft hinten im Garten.
Und ich ließ es klingeln. Oft klingelte es neunmal, zehnmal, zwölfmal, minutenlang, und ich dachte: Was muß das für ein Garten sein? Sehr weitläufig oder sehr verwunschen. Ein Garten Uneden, vor dem die Anrufer Schlange stehen. – Dann ging er ran.
Damals wußte ich kaum etwas über Ulrich Holbein, also noch viel weniger als heute. Es mußte erst der Herbst 2008 kommen, daß eine Reportage in der Berliner taz mich ins Bild setzte. Sie schilderte einen Besuch im Hause Holbein, und ich war so angetan von der Lektüre, daß ich gleich zu ihrem Autor, Frank Schäfer, Kontakt aufnahm: Ob er mir für die Zeit einmal etwas schreiben wolle, Thema egal. Wer über Holbein schreiben will und kann, der kann und soll auch über alles andere schreiben.
Der Hausbesuch beginnt mit einer geradezu filmischen Annäherung. Der Reporter sucht das Haus. Hören Sie Frank Schäfer:
Er hatte mich gewarnt, man finde ihn nicht so leicht. Glücklicherweise ist gerade die Postfrau unterwegs. "Ulrich Holbein?" Ja, den kennt sie und beschreibt mir den Weg ortsauswärts in ein Wäldchen. Und weil sie ahnt, dass ich weitere Hilfe benötigen werde, hängt sie noch an: "Ich komm da auch gleich hin!"
Und tatsächlich stehe ich direkt vor dem Grundstück und sehe trotzdem das Haus des Künstlers vor lauter Bäumen nicht. Aber da fährt auch schon die Frau im Post-Kombi heran, die mir die Schneise in den verwunschenen Dschungel zeigt und den 40 Meter langen Pfad zum Hexenhaus. Die Tür steht offen, sodass man in den düsteren, dielenartigen Vorraum sehen kann.
"Herr Holbein", ruft die nette Postillionin laut.
Er kommt aus der Küche, begrüßt sie und sieht mich dann auch.
"Ah, hallo, hast du deine Freundin mitgebracht?"
Was für eine Szene! Wie gern hätte ich sie erlebt! Aber das Äußerste, was ich je geschafft habe, war eine Hausbesichtigung bei Arno Schmidt, posthum.
Folgen wir Frank Schäfer noch einen Moment, ins Arbeitszimmer des Künstlers:
Holbein hat sich eingesponnen in Büchern, Papieren, Zeichnungen, Zeitungen und Magazinen, Alben, Zettelkästen, Ablagen mit weiteren Notizen und Materialien und noch mehr Büchern. Sie stehen halbwegs sortiert in übervollen Regalen, teilweise zweireihig, liegen scheinbar achtlos auf Haufen, stehen zu Türmchen drapiert an noch freien Wandplätzchen, sind längs und quer und übereinander geschichtet, um jeden Quadratzentimeter auszunutzen und vollzumachen. In der Mitte des Hauptarbeitszimmers steht ein mit Papieren überwucherter Schreibtisch mit PC.
Holbein lebt in der Wildnis. Dieser florale und papierene Wildwuchs um ihn herum ist sichtbare Signatur für das weit rankende, wild mäandernde, ins Kraut schießende, von einem einzelnen Leser kaum zu durchdringende Prosawerk, das hier seit den 90er-Jahren entsteht. Es umfasst den kulturkritischen, meinungsstarken, aber nie bigotten Essay, die literarische Collage, gern auch in Dialogform, und die autobiografische Erzählung.
Das ist großartig, oder? Ich hoffe, es stimmt.
Meine Arbeitsbeziehung zu Ulrich Holbein – fällt mir da gerade ein – erlebte ihren ersten Höhepunkt schon im Jahre 1993, also noch vor der Typologie der Berauschten, insofern stimmt das so gar nicht, was ich Ihnen vorhin erzählt habe mit dem Telefon und dem Garten. Ich war damals verantwortlich für eine wöchentlich erscheinende Seite, die von jeder Grundverpflichtung frei war. Sie hieß Themen der Zeit, und Ulrich Holbein machte einen Vorschlag, den manch anderes Blatt als widerstehlich empfunden hätte: „Hundert Jahre Odol, fünfzig Jahre LSD – ein Doppelporträt“!
Hören Sie den Vorspann:
Hier der Wunsch, den Muffelatem loszuwerden, dort das Recht auf Rausch – das waren schon zwei Themen der Urzeit. Aber erst seit hundert bzw. fünfzig Jahren produziert die Industrie jene beiden schnellöslichen Substanzen, die dem Menschen helfen zu gurgeln und zu schweben: Odol und LSD.
Ein Knaller, oder? In der Redaktion waren sie sich nicht ganz so sicher. Aber die Seite ist erschienen, hier ist sie, ich hab sie Ihnen mitgebracht die Aufmachung hatte selber etwas Berauschendes.
Ich kann mich nicht erinnern, daß dies eine Leserbriefflut auslöste, aber der Text zählte zum Besondersten, das in der Zeit je erschienen ist.
Das Doppelporträt war ein hammerharter Substanzvergleich von der ersten bis zur letzten Zeile, auf allen erdenklichen Ebenen so erfrischend wie das Bewußtsein erweiternd.
Kleine Kostprobe, Ulrich Holbein über die Marktbeherrschung der beiden so unterschiedlichen Substanzen:
Odol rühmt sich seit jeher als Marktführer, derweilen LSD als stärkstes und nebenwirkungsfreiestes Halluzinogen gilt. Beide erfreuen sich gigantischer Popularität: Siebzig Prozent aller bundesdeutschen Mundwasserverwender, also über zwanzig Millionen Bundesbürger, bevorzugen Odol. Bloß sechsundneunzig Prozent aller Deutschen kennen Helmut Kohl; immerhin weit über neunzig Prozent kennen Odol. Der LSD-Markt soll seine Flauten überwunden haben und genausowenig sich das Boomen nehmen lassen wie alles, was gegenwärtig boomt; es wird heute sogar mehr LSD genommen als in der Golden Flower-Power Era der sechziger Jahre – pro Jahr werden allein in Großbritannien 300000 Trips polizeilich sichergestellt. Obwohl LSD nicht süchtig macht, vor allem auch psychisch nicht, prägte die Odol-Industrie den Ausdruck Odolomanie. Odol-Kunden greifen mehrmals täglich zu Odol, acid heads hingegen bloß alle paar Monate einmal, höchstens zweimal die Woche, folglich macht Odol viel süchtiger als LSD.
Gut, Jahre später kam dann die Typologie der Berauschten. Sie ist als kleines Büchlein bei Werner Pieper erschienen, mit Illustrationen unter anderem von Wilhelm Busch, Pfeife am Ofen, der Tabakdampf lässt die Gedanken schweifen, Sie wissen schon. Die Texte im Buch hatte Holbein gegenüber der Kolumne komplett überarbeitet, heute würde man sagen: neu abgemischt. Im Anhang verweist er auf die Erstdrucke in der Zeitung als „mangelhafte Vorfassungen“.
Ich freute mich, die Typologie der Berauschten in seinem Buch Weltverschönerung wiederzufinden, das vergangenes Jahr im Haffmans Verlag erschien. Aber nun war ich erst recht erstaunt. Hier sind die Texte wiederum komplett und entscheidend erneuert, ein drittes Mal! Und das rühme ich jetzt auch an unserem Autor: Sein Nichtablassen¬wollen, sein Immerwiederherangehen, bei ihm gibt es nichts, was je fertig wäre – von seinen Lesern mal abgesehen.
Die Weltverschönerung, auch sie hat über 600 Seiten, nennt Holbein ein „Handbuch der lustvollen Lebensgestaltung“. Es ist seine Antwort auf die große Nachfrage nach Ratgebern, insofern kann man auch sagen: Dieser Autor ist nah am Puls des Zeitgeschehens, er geht auf die Wünsche des Marktes ein. Und das ist doch heute so wichtig geworden!
Gleichwohl gelingt es ihm, feine Unterschiede zu behaupten. Nicht Wege zum Glück verspricht der Ratgeber im Untertitel, sondern Umwege zum Scheinglück. Und das mag der äußere Grund sein, daß er die Beststellerlisten bis heute nicht erklommen hat. Andererseits – und da muß ich einmal mehr zum Lob ausholen: Die Weltverschönerung erklimmt die Herzen der Leser. Die Herzen der Leser erglimmen geradezu! Da gibt’s, lieber Ulrich Holbein, Ihren Brief an die Firma UHU über „Tropfprobleme bei UHU-Tuben“. Es ist ein Beschwerdebrief, das muß man sagen, aber so schön, so gehaltvoll, und dann unterzeichnen Sie ganz kurz und knapp mit UHU: Das steht für „Ulrich Holbein, UHU-Benutzer“.
Keinesfalls prangern Sie in diesem Buch nur Mißstände an. Sie heben auch Positives hervor:
Freuen wir uns… am Faktum, daß gesamtgesellschaftlich fast keiner sich umbringt. Annähernd sämtliche Mitbürger nutzen die Chance, sich wechselseitig zu töten, überhaupt nicht aus. Unfaßbar, wer sich alles – zwischen Nordkap und Ober-ammergau bzw. Gibraltar – am Leben läßt!
Ja, das stimmt! Aber haben wir es je so gesehen? Holbein ist jemand, der uns die Augen öffnet für tausendfach Übersehenes.
Die Weltverschönerung und das Narratorium haben eines gemein, das ist ihre Nichtdurchles-barkeit. Es sind keine Bücher, die man sich auf den Nachtisch legen sollte, um vorne anzufangen und hinten aufzuhören. Meine Empfehlung wäre: Jeder sollte diese Standardwerke im Haus haben, griffbereit, als eine spirituell-philosophische Hausapotheke für den alltäglichen Notfall. Ist die Stimmung mal so richtig gedrückt oder, schlimmer noch: durchschnittlich, fühlt sich das Leben gerade so gar nicht an, dann helfen vier, fünf Seiten Holbein sofort. Erst stellt sich ein superfasziales Grinsen ein, später dann eine existenzielle Heiterkeit. Soweit bin ich mit Dale Carnegie und seinem Sorge dich nicht, lebe! nie gekommen.
Ich sollte die Tage mal bei meiner Krankenkasse anrufen, die bittet immer um Anregungen, Holbein auf Schein, das wär fein – und insgesamt kostendämpfend.
Mir hat das Narratorium Glücksmomente beschert. Ich erfuhr von dem Buch durch einen elektrisierenden Verriß in der Süddeutschen Zeitung. Gleich am nächsten Tag bin ich los und hab es mir geholt. Und dann habe ich nicht nur wochenlang immer wieder darin gelesen, ich habe sogar Freunden daraus vorgelesen. Und nach Monaten hab ich’s dann auch noch in der Zeit besprochen; es war wohl die späteste Rezension dieses Buches. Einerseits mußte ich sie schreiben, weil mich das Buch nicht losließ; andererseits schob und schob ich die Besprechung hinaus – weil ich immer nicht wußte, wie und wo ich da ansetzen sollte.
Das Narratorium ist ja im Grunde ein Lexikon, 255 Wegbereiter und vom Weg Abgekommene, sind darin alphabetisch aufgereiht. Jeder Eintrag besteht aus einer Nano-Charakterisierung, einer launig geschriebenen Expreßbiographie und sodann Zitaten der Person, Zitaten anderer über die Person und Zitaten der Person über sich selber. Formale Strenge und subjektive Formulierung kollidieren hier wie beschleunigte Galaxien, es blitzt und sprüht nur so.
Ein Lieblingseintrag ist der über Betty Dodson, eine 78 Jahre alte Aktivistin aus Kansas. Holbein stellt uns Betty Dodson auf dreieinhalb Seiten als amerikanische „Bodysexworkerin“ und „Masturbationspäpstin“ vor, die offensiv und in der Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung Hand an sich legt. Das tut sie von früh bis spät, auch beim Telefonieren oder wenn Gäste da sind, und Holbein zitiert sie mit dem herrlichen Satz: „Ich mag die kleinen Orgasmen, die ich in meinen viertelstündigen Sexpausen bekomme.“
Holbein empfiehlt sie uns nun aber nicht als Vorreiterin sexueller Emanzipation, sondern mäkelt an ihrer Einseitigkeit herum:
Andere Onanie-Autoren schrieben auch über anderes, Volker Elis Pilgrim über Vegetarismus, Ludger Lütgehaus über Heidegger und das Nichts; Betty schrieb über nichts anderes. Andere Promis erzählten alles über sich und nichts über ihre Onanie; einzig Betty Dodson kein Sterbenswörtchen über außersexuelle Hobbys.
Und in einer Klammer fügt Holbein an, welche Hobbys das sein könnten:
Leckere Rezepte ausprobieren, Kakteenzucht, Orgelkunst?
Das Narratorium läßt sich nicht in ein paar Sätzen einordnen, dazu ist es zu bunt und zu widersprüchlich. Es ist ein Knüller, schon als Versammlung quer durch die Kontinente und Epochen. Wir finden den Propheten Ezechiel, den sagenhaften Orpheus, den Wanderprediger Jesus von Nazareth, den Reisweintrinker Liu Ling, die Sklavin Rabia al-Adawiya, die Aebtissin Hildegard von Bingen, den Sufi-Mystiker Maulana Dschelaluddin Rumi, den Possenreißer Till Eulenspiegel, den Haiku-Dichter Basho, den Schulgründer Johann Heinrich Pestalozzi, den Anthroposophen Rudolf Steiner, den Dschungelfahrer Fitzcarraldo, den Triebtäter Fritz Haarmann, den Longseller Franz Kafka, den Extremexzentriker Salvador Dali, den Romanhelden Oskar Matzerath – – und jetzt sind wir erst in den fünfziger Jahren!
Einer der letzten Einträge ist einem gewissen Uliversum Unwiederholbein gewidmet, der interessanterweise denselben Geburtsnamen hat wie unser Preisträger: Heinz-Ulrich Boehnlich. Er wird vorgestellt als
Versager, Landkommunarde, Wolkenkuckuck, Zuspätromantiker, Müsli-Mysticus, Öko-Dandy, Daologe, Waldbold, Knüll-Idylliker, Metachemiker, Metaromancier, Polysoph.
Über ihn heißt es:
Wer neben ihm lag, blieb von Mücken ungestochen.
Und über ihn heißt es auch:
Wer Schluß mit ihm machte, kam nicht los von ihm.
Ich mach jetzt Schluß – mit Loben.
Herzlichen Glückwünsch, lieber Ulrich Holbein, zu diesem wunderbaren und hochverdienten Preis.