weitere Infos zum Beitrag
Essay
Flanerie für Fortgeschrittene. Kleine Hommage an den Schlenderer
Ziellos durch die Straßen einer Großstadt zu schlendern gehört immer noch zum besten, was einem in diesen elend mobilen Zeiten übrig bleibt. Auf dem schnellsten Weg von A nach B kommen kann schließlich jeder. Entfernungen muss heute niemand mehr zurücklegen – man überwindet sie, und zwar mit jener ewigen Ungeduld, die den Lebensgenuss zur Strecke bringt. Der Schlenderer hingegen hat es weder eilig, noch hat er Ziele. Er lässt sich vom Zufall an die Hand nehmen und vertraut dabei ganz auf seine Gehwerkzeuge. Stundenlang wandert er kreuz und quer und im Kreis. Denn mehr als um alles andere geht es ihm ums Gehen.
Und wer kann sich in Zeiten der Vollbeschleunigung den Luxus leisten, das Leben eines Teilzeitschlenderers zu führen? Genau – eigentlich jeder. Seitdem die Automatisierung der Arbeitssysteme einen Überfluss an freier Zeit effiziert, steht dem Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich des Müßiggangs objektiv nichts mehr im Wege. Zeit also hätte man. Und den Raum ebenso, sprengt der Fortschritt doch mittlerweile auch die architektonischen Fesseln: Da, wo einst die Unwirtlichkeit unserer Städte beklagt wurde, hat sich der Zeitgeist auf urbane Zentren des Komforts verständigt. Musste man früher noch durch die Vorhölle einer Fußgängerzone, um anschließend ins Fegefeuer des Autoverkehrs geworfen zu werden, so erwarten den Zweibeiner von heute die künstlichen Paradiese des Vergnügungskapitalismus, historisierte Erlebnisräume, Shopping-Passagen und Flaniermeilen.
Dennoch zeigt sich der neue Typus des Großstadtgängers nur sehr vereinzelt. Mit seiner massenhaften Verbreitung ist auch nicht zu rechnen. Als notorischer Einzelgänger, der das Bad in der Menge anonym genießt, pflegt er eine Form des Abstandhaltens, die naturgemäß nicht jedermanns Sache ist. Hinzu kommt, dass die Gangart des Schlenderns, also die glückliche Verbindung von Schlingern und Schlenkern, der Inbegriff der zweckfreien Beschäftigung ist. Einer Beschäftigung, der man zwar, bei Tage wie bei Nacht, mit Leidenschaft nachgehen kann – die aber zu gar nichts führt. Wem so viel emsige Unproduktivität ein schlechtes Gewissen macht, ist den Anforderungen des Extremschlenderns nicht gewachsen. Diese Kunst vermag nur den zu beglücken, der jedes Nützlichkeitsdenken weiträumig umgeht. Ist einem freilich der Schlendrian erst einmal unentbehrlich geworden, drohen ungleich größere Plagen als ausgerechnet ein böses Gewissen; man denke bloß an jene klemmbrettbewaffneten Darf-ich-Sie-was-fragen?-Leute oder diese umherschweifenden TV-Teams, die dem Passanten mit Handlicht und Mikrophon zu Leibe rücken. Von Hundehaufen und verirrten Pedalrittern gar nicht zu reden.
Ohne Metropole aber geht es nicht. Denn wer legeren Schrittes unterwegs ist, will sehen, was läuft. Wo also ließe sich das Sensorium schöner spazieren führen als im Tumult der Städte. Hier, im pulsierenden Tempodrom, wo Hybris und Schrecken, Triumph und Krise rund um die Uhr sich begatten, wo der Zeitgeschmack nistet und die räumlichen Perspektiven ständig wechseln, in diesem Fluidum der ameisenhaft durcheinander krabbelnden Eindrücke hat der Schlenderer die Augen sperrangelweit offen. Selbstredend analysiert er nicht die Stadt – er zappt durch ihre Bilderwelten, nimmt Ausschnitte wahr, Details, Nuancen, liest Text, registriert Veränderungen, macht Entdeckungen, staunt über Neues, bemerkt Verluste. Er ist ein Ästhet des Flüchtigen. Das Geschehen, das fortlaufend auf dem Schirm seines Bewusstseins erscheint, speichert er unterschiedslos ab. Seine körpereigenen Archive sind voll mit Stadt. Der da unentwegt im Andante-Schritt umherstreunt weiß mehr von der Stadt als diese von sich selbst. Denn die Stadt ist blind. In ihrem furiosen Tempo kreist sie immer nur um sich selbst. Zu Bewusstsein kommt sie im Typus des Schlenderers, indem er weiter nichts tut, als all die Dinge und Vorkommnisse zu registrieren, die ihr entgehen. In Alltagsbeobachtern wie ihm vergewissert die Stadt sich ihrer selbst.