Kolumne
Was erhoffen Sie sich von Reisen?
In der Bunten Stube in Ahrenshoop entdeckte ich gleich am ersten Tag ein Buch von Max Frisch. Es heißt, wie auf den Kopf zugefragt, Halten Sie sich für einen guten Freund?, Insel Taschenbuch Verlag. Das Büchlein enthält Fragebögen, die er in sein Tagebuch, zwischen 1966 und 1971, geschrieben hatte. Ich kaufte es und konnte mich vor dem Abendessen, das meine Freundin zubereitete, lange an Fragen wie Möchten Sie ihre Frau sein? oder Tun ihnen die Frauen leid? aufhalten.
Eine Frage befremdete mich nach dem Essen etwas: Befremdet sie eine kluge Lesbierin? Hm, tja, das habe ich bisher noch nicht in Betracht gezogen. Sollte ich mal ausprobieren. Ich las meiner Freundin, die unterdessen abwusch, weitere Fragen vor, was ihr bald auf die Nerven ging. Ich versuchte sie aufzumuntern und sagte, daß wir von der Lesbierin langsam zur Lesweinin übergehen sollten. Und weil wir sehr fett zu Abend gegessen hatten, könnten wir uns eine Lesschnapsin durchaus genehmigen. Nun ja. Je höher der Alkoholpegel, desto mehr konnte ich mich über meine Bemerkungen amüsieren, und wäre im nüchternen Zustand ungern meine Freundin gewesen, die zu ihrem Glück nicht nüchtern geblieben war. Eine Einsicht, die mich die Frage: Überzeugt Sie ihre Selbstkritik? mit einem überzeugten Ja beantworten ließ.
Anderntags sind wir am wilden Weststrand entlanggelaufen und entdeckten, daß gerade eine von den Burgen aus vom Wind und Wasser abgeschmirgeltem Totholz, die überall dort herum stehen, von einem Pärchen verlassen wurde. Das traf sich gut, wir konnten sie direkt ablösen. In einer etwas mickrigen Burg, gleich nebenan, sprang plötzlich eine Frau auf und rannte in unsere Burg hinein. Ihre etwas trägere Bekannte blieb noch in der mickrigen Burg sitzen und meinte, die große Burg gehöre jetzt ihnen, wir könnten ja die kleine hier gerne übernehmen. Wie sollte ich das Verhalten dieser energischen Frauen deuten? Ich dachte, SO NE BLÖDEN KAMPFLESBIERINNEN und wünschte ihnen schwanzeinkneifend noch viel Spaß mit der Burg. Nein, das dachte ich nicht. Ich hatte Mitleid mit diesen armen, rechthaberischen Frauen und gönnte ihnen von Herzen diesen Triumph. Daß wir in die von ihnen uns gnädig überlassen wordenen Mickerburg gekrochen wären, schloß sich natürlich aus. Apropos Schwanz. In den anderen Burgen sah ich meist ältere Typen wie überdimensionierte Erdmännchen herumstehen, die Warnlaute ausstießen, sobald man ihrer Burg zu nah kam. Sie hatten Pullover angezogen, die kurz über der Manneszier endeten, und sich einen grauen Vollbart stehen lassen, oben wie unten. Das war der Kompromiß der Puller im Pullover. FKK, aber sich nicht den Darm verkühlen wollen.
Nach dem Weststranddebakel regte sich in mir eine latente Frauenfeindlichkeit, für die ich am Abend von meiner Freundin bestraft wurde. Ich fand bei Max Frisch die zu meinem Gefühlszustand passende Frage: Warum müssen wir die Frauen nicht verstehen? Obwohl ich die Frage – Wenn in den Händen und Augen und Lippen einer Frau sich Erregung ausdrückt; Begierde usw., weil Sie sie berühren: beziehen Sie das auf sich? – heute abend viel lieber beantwortet hätte, und zwar mit einem eindeutigen Ja.
Anderntags wollte meine Freundin in Wustrow Haargummis bei Schlecker kaufen. Ich wartete draußen und schaute mir einen Ständer an, und zwar den mit den Strandutensilien, vor allem den mit den Wasserpistolen. Nicht auf Augen und Gesicht zielen, stand auf der Verpackung, was mir ein sardonisches Grinsen ins Gesicht zauberte. Unsere Fahrräder parkten auf dem Bürgersteig, als unversehens eine Horde einheimischer Omis heranhinkte, eine am Rollwägelchen, die anderen an Stöcken. Wem wären sie lieber nie begegnet? war die erfrischende Frage des Tages und leicht zu beantworten. Krummbeinig nahmen sie den ganzen Bürgersteig ein. Mißtrauisch beäugten sie unsere Fahrräder, bauten sich davor auf. Wer war die Anführerin?, fragte nicht Max Frisch, aber ich mich. Denn es mußte schnell gehen. Bevor sie ihren Krückstock gegen mich zöge, sollte ich sie mit ein paar gezielten Spritzschüssen ins netzhautgetrübte Auge erledigt, das Überraschungsmoment ausgenutzt haben, mich aufs Rad geschwungen und davon geradelt sein. Arglos, wie meine katholische Freundin ist, kam sie nun mit den Haargummis aus dem Schlecker. Ich hatte die Wasserpistole immer noch in der Hand, die Omis ihre Krückstöcke, die sie, dank Frauenselbstverteidigungstechnik, schädelzertrümmernd einsetzen konnten. Zwölf Uhr Mittags, die Glocke klang vom Wustrower Kirchturm her, die Rollwagenomi drehte ab, die anderen folgten, lachend und schwatzend. Wir waren keine Gegner für sie.
Der Nachmittag verging eher friedlich und Max Frisch stellte die passenden Fragen, mit der Duftnote eines Mannes als Schriftsteller, der sich einmischt. Fragebogen Nummer sieben hielt folgende Frage bereit:
Kennen Sie Freundschaft mit Frauen:
a. vor Geschlechtsverkehr?
b. nach Geschlechtsverkehr?
c. ohne Geschlechtsverkehr?
Und wie ist das beim Geschlechtsverkehr? Das fragte Max Frisch nicht. Aber immerhin, das waren noch Zeiten, als man dem Mann, in seiner Degradierung der Frau zum Sexualobjekt, noch solch entlarvende Fragen stellen konnte. Wie könnte man heute vergleichsweise fragen? So vielleicht: Kennen Sie, wenn sie ein heterosexueller Mann sind, Freundschaft mit Frauen, bzw. wenn sie homosexuell sind, Freundschaft mit Männern und wenn Sie eine heterosexuelle Frau sind, Freundschaft mit Männern bzw. lesbisch, Freundschaft mit Frauen, und kennen Sie, wenn Sie ein bisexueller Mann sind, Freundschaft mit Männern und Frauen, wenn Sie eine bisexuelle Frau sind, Freundschaft mit Frauen und Männern, und kennen Sie als Frau, die ursprünglich mal ein Mann war, aber eine homosexuelle Ausrichtung hat, Freundschaft mit Frauen, die ursprünglich mal ein Mann gewesen sind?
In der alten Fischerkirche von Prerow stand überall Kunst von Roland Lindner herum. Eine Skulptur hieß „Was Menschen – Menschen antun“. Sie stellte eine überdimensionierte Christushand aus Holz dar mit einem Nagel drin. Kunst also, die den Nagel auf den Kopf trifft. Am Eingang konnte man die Preisliste einsehen. Für Menschen, die das ihrem Konto antun wollen. Sammeln Sie auch Kunst?, fragte aus dem Off Max Frisch. Ich durfte mich frei von solch niederen Gelüsten fühlen.
Den letzten Tag verbrachten wir im Deutschen Bernsteinmuseum der Bernsteinstadt Ribnitz. Am Eingang sagte ein kleiner Junge „Hallo Kapitän“ zu mir. Ich sollte meine Mütze überdenken und meine Bartlänge ebenfalls, oben und wahrscheinlich auch unten. Zu DDR-Zeiten, als ich Kind war, war ich auch schon mal hier, da hieß es Heimatmuseum. Inzwischen ist viel investiert worden und man zahlt sieben Euro und fünfzig Cent Eintritt. Zu DDR-Zeiten hatte es allerdings auch den Charme eines Heimatmuseums.
„Wann fährt unser Zug?“, fragte ich meine Freundin.
„Laut Fahrkarte, 17:39, der IC in Richtung Rostock.“
Laut Fahrplan fuhr um diese Uhrzeit allerdings kein Zug nach Rostock, sondern nach Stralsund. Meine Freundin meinte, daß sei bestimmt unser Zug, eine Station vorher müsse Rostock sein. Ich wurde langsam nervös, das heißt, plötzlich sehr schnell sehr nervös, weil Rostock in der entgegengesetzten Richtung von Stralsund liegt, was meine Freundin nicht wissen konnte, die nur auf Hiddensee höchstens mal alleine Urlaub machen kann, da sie dort, aufgrund der begrenzten geographischen Möglichkeiten, eher selten die Orientierung verliert. Meine Freundin war mir jetzt keine Hilfe. Als metaphysisch begabtes Wesen überläßt sie sich sowieso der unergründlichen Bestimmung des Geschicks. Ob wir in Rostock ankommen oder in Stralsund in einer Jugendherberge übernachten müssen, weil wir unseren Zug verpaßt, die Fahrkarte in den Ostseesand gesetzt haben, liegt am Ende nämlich nicht in unserer Hand, sondern ist an anderer Stelle längst für uns entschieden worden. Ich schaute auf den Fahrplan und gab alles verloren. „Wir sind auf dem falschen Bahnhof“, rief ich, das heißt in Ribnitz Ost. Kriegen wir noch ein Taxi nach Ribnitz West, durchflackerte es meinen Kopf. Wohl kaum. „Sie sind hier richtig“, sagte eine Frau, die mein entsetztes Gesicht gesehen haben mußte. Nur eine Fahrplanänderung, die am örtlichen Aushang noch nicht vermerkt worden war. Das klärte sich am Schalter schnell auf. Der Taxifahrer hätte uns einmal um den Bahnhof herumgefahren und uns dann kräftig abkassiert, wobei ich in meiner Aufregung gar nicht mitgekriegt hätte, daß es derselbe Bahnhof gewesen wäre. Dieser Streß, insgesamt dreißig Sekunden Bodenlosigkeit, verleidet mir das Reisen oft. Ich mag keine Abenteuer. In solchen Momenten bereue ich es, aufgebrochen, meinen vier hallensischen Wänden abhold geworden, ja aus dem Elternhaus ausgezogen, unter den mütterlichen behütenden Fittichen hervorgekrochen, und nicht in meinem Kinderzimmer, als Panzermodelle bastelnder Junggeselle, verblieben zu sein. Auf dem Bahnsteig, beim Einrollen des Zuges, las ich noch eine Frage von Max Frisch, bevor ich das Buch zukünftiger Gleisbettlektüre überließ: Gibt es Orte, wo Sie das Entsetzen packt bei der Vorstellung, daß es für sie Heimat wäre, z.B. Harlem, und beschäftigt es Sie, was das bedeuten würde, oder danken Sie dann Gott?
Ich dankte Gott, in ein paar Stunden wieder in Halle zu sein.