Das nordische Du

Kolumne

Autor:
Christian Kreis
 

Kolumne

Das nordische Du - gepflegt im KÜNSTLERHAUS lukas in Ahrenshoop

 

Es klopfte, und bevor ich Herein oder Nein, warten Sie bitte rufen konnte, ging die Tür auf. Ein schnurbärtiger Mann mit einer um den Hals gehängten Spiegelreflexkamera lächelte mich an und fragte, ob hier die Ausstellung sei. Seine Frau spähte neugierig in mein Zimmer. Bevor sie noch näher kamen, ging ich auf sie zu und sagte: Tut mir leid! Hier gibts keine Ausstellung. Das Künstlerhaus Lukas habe nur am Tag der offenen Tür geöffnet, und dieser Tag ereigne sich, trotz der seit zwei Tagen offen stehenden Tür, weil sie frisch gestrichen worden sei, erst in vierzehn Tagen. Aber draußen habe sie gelesen, es sei täglich geöffnet, insistierte die Gattin. Das müsse ein Irrtum sein, entgegnete ich. Ach schade, sagte ihr Mann. Ich drückte ebenfalls mein Bedauern für sie aus und erklärte, daß hinter jeder Tür gerade ein Künstler in seine Arbeit vertieft sei. Dann wies ich mit einer ausladenden Handbewegung in mein Zimmer und verkündete: Das ist der Ort, an dem ich dichte. Sie schauten ehrfurchtsvoll auf meinen Schreibtisch. Das Bett – um die Ecke herum mit zerlümmelter Decke und die gleich daneben gefeuerten alten Schlüpfer – mußte ich ihnen vorenthalten.  

Tags darauf, relativ früh für die Verhältnisse meines Künstlertums, war ich geduscht und zum Glück bereits angezogen gewesen, als erneut an meine Tür geklopft und sie prompt geöffnet wurde. Ein blasser Mann mit Brille und Halbglatze, der aufs Haar, bzw. aufs abhanden gekommene Haar Burkhart Spinnen glich, stand im Türrahmen, flankiert von zwei kleinen blondgelockten Jungen, die wiederum aufs Haar den oft zu Vergleichszwecken mißbrauchten Botticelliengelchen glichen. Dem Burkhart-Spinnen-double gelüstete ebenfalls nach der zumindest nicht hier stattfindenden Ausstellung. Die Jungs guckten mich mit blauen Augen an. Sie konnten ja nichts für ihren Vater. Ich wünschte ihnen auch im Hinblick auf die Ödnis seines Hauptes, daß er nicht der leibliche war. Schon mit einer gewissen Routine erklärte ich die Umstände des Hauses und dachte mir, was passiert wäre, wenn ich gerade nackt dagestanden und gesagt hätte: Kommen sie nur, schauen sie sich alles an, auch mein Bett ist der Betrachtung durchaus wert und lassen sie ruhig ihre beiden liebreizenden Kinder nähertreten, vielleicht habe ich noch irgendwo was zum Lutschen. Da wäre ich doch schon ein Fall für die Gattin unseres Verteidigungsministers. Die Ostseezeitung titelte: Pädophilenskandal im Künstlerhaus Lukas. Was geschieht dort unter dem Deckmantel von Kunstförderung? Und alles nur, weil ich auf humorvolle Weise meine Privatsphäre verteidigt hätte. Aber da versteht die Republik keinen Spaß. Ich frage mich allerdings auch, warum sich keine junge, an Ausstellungen und Exhibitionen leidenschaftlich interessierte Kunststudentin in mein Zimmer verirrt hat, sondern nur der Zwillingsbruder von Burkhard Spinnen? Aus dieser etwas ausufernden Einleitung kann man entnehmen, daß ich vor nicht allzu langer Zeit Stipendiat im Künstlerhaus Lukas gewesen bin und somit zu den Privilegierten zähle. Nicht wenige, die jetzt diese Kolumne lesen, werden sich, wie ich aufgrund eigener Nachforschungen vermuten darf, dort schon sehr erfolglos beworben haben. Begünstigt wie ich also bin, möchte ich den Ex-BDI-Chef Rogowski zitieren: Ich bin gegen eine Neiddebatte!

Im Erdgeschoß des Hauses, das aus einem großen Aufenthaltsraum mit Bibliothek, einem Fernseher und einer abgeteilten Küche besteht, waren seit Beginn meines Aufenthalts überall Kisten verteilt. Darin steckten die Bewerbungsunterlagen derjenigen, die nicht das Glück haben werden, hier zu sein. Wir wurden ermahnt, uns von den Unterlagen fernzuhalten. Alphabetisch geordnet stellte jeder Umschlag eine potentielle Enttäuschung für einen Literaten, Musiker, Maler, Fotografen oder eine choreografierende Tänzerin dar. Die rückfrankierten Umschläge waren nicht verschlossen, es würde noch das obligatorische Beileidsschreiben hinzugefügt werden mit dem Satz: Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für ihren weiteren künstlerischen Weg. Im Laufe einer ruhigen Abendstunde hatte ich die Namen von fünfzehn mir persönlich bekannten Autoren entdeckt. Womit sollte ich mir die Zeit sonst vertreiben, wenn keine trinkfreudige, freimütig vor sich hin choreografierende Tänzerin die Stimmung belebt?

Ab und zu wurde meine Stimmung jedoch beerdigt, wenn nämlich Juliane Schimansky in die Küche kam, was mich nun zu dem Hinweis veranlaßt, daß ich bekannt dafür bin, Namen auf überzeugende Weise unkenntlich zu machen, damit die Identifizierung realer Personen ausgeschlossen ist und die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben; Juliane Schimansky kam also, um sich einen Kräutertee zu kochen. Während sich das Wasser erhitzte, las sie stur in der Zeitung und kehrte, nachdem sie den Tee aufgegossen hatte, wortlos an das demnächst bei einem, um nicht zu sagen bei dem Verlag erscheinende Manuskript zurück. Unsere erste Begegnung fand unter eigentlich überhaupt nicht erschwerten Bedingungen im Seeblicklokal Buhne 21 statt. Die Sonne schien. Juliane Schimansky saß allein an einem Tisch. Ich hätte zwar auch lieber alleine gesessen, fragte jedoch freundlich, ob ich mich dazu setzen könne. Macht man doch so, schließlich verbringt man die nächsten vier Wochen miteinander. Ich plauderte los, über das gute Wetter, die Unterbringung, den ersten Tag hier. Sie antwortete kurz und knapp, nahm den Feuilletonteil ihrer Zeitung wieder in die Hand, las konzentriert. Nach dieser narzistischen Kränkung meines Ichs versuchte es so zu tun, als würde es völlig entspannt auf dem Stuhl sitzen. Unterhaltung war nicht mehr möglich, weggehen konnte ich allerdings auch nicht mehr. Als Übersprungshandlung zog ich mein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte darin herum. Wäre ich ein Huhn, hätte ich jetzt nach nichtexistenten Körnern gepickt. Da kam ihr Fischgericht. Ich fragte, ob es denn schmecke. Ja, sagte sie. Und es schmeckte ihr, bedauerlicherweise ohne daß sich eine Gräte in ihren Hals verirrte. Nach dem Essen las sie wieder in der Zeitung. Ich nahm unterdessen große Schlucke vom Rostocker Dunkel, was mich etwas entspannte. Sie hatte womöglich recht. Man muß nicht scheinheilig so tun, als ob man sich füreinander interessieren würde. Die Personen, für die sie sich interessierte, versuchte sie später durchaus lebhaft von sich zu überzeugen. Zum Beispiel den Ehrengast in unserer Stipendiatenrunde, eine erfolgreiche Malerin, die sogar Gerhard Schröder den Kauf eines Bildes verwehrt hatte, wie sie mehrfach betonte. Ich stelle mir seitdem mindestens einmal am Tag vor, wie ich Gerhard Schröder, der sich zu seinem Geburtstag unbedingt wünscht, aus meinem Gedichtband von mir höchstpersönlich vorgelesen zu bekommen, mit dem Hinweis auf meine knappe Zeit leider absagen muß.

Bei unserem Ehrengast jedenfalls konnte Juliane Schimansky auf geradezu erschreckende Weise charmant sein und natürlich die Bilder auch richtig, richtig toll finden. Da plauderte sie freimütig über ihre Projekte oder ihr letztes erfolgreiches Buch. Das hat übrigens den Titel: Atlas der stillen Wasser. Fünfzig Seen, in denen ich nie badete und niemals baden werde. Oder so ähnlich. Habe ich vorhin gesagt, daß ich gegen eine Neiddebatte sei?

Die anderen Stipendiaten waren viel sympathischer, obwohl auch sie sehr fleißig und dem Alkohol nicht zugeneigt waren. Jürgen wäre die Ausnahme gewesen, wenn er nicht bereits so viel getrunken hätte, daß es für dieses Leben und auch für alle weiteren mehr als genügte. Er war gesundheitlich auf den Teebeutel heruntergekommen. Den Aufenthalt unterbrach er mehrmals für Arztbesuche. Wie habe ich es bedauert, ihn nicht getroffen zu haben, als man mit ihm noch einen trinken gehen konnte, ohne daß er dabei sein Leben riskiert. Er gehört zu der mich beeindruckenden Sorte von Schriftstellern, die sich das, was sie schreiben, nicht erst anlesen müssen. So saß ich da und trank mein Bier allein. Blätterte ein bißchen in den Biographien der Abgelehnten. Bei einigen Schriftstellerkollegen bedauerte ich die Ablehnung sogar (bei einigen sogar wirklich). Denen hätte ich jetzt ein trübes Abendbier im Künstlerhaus Lukas gegönnt. Beneidenswert wie ich bin, sei gewarnt: Zu den Privilegierten zu zählen, bedeutet nicht immer Hochstimmung. Es kann ganz schön einsam um einen herum werden.  

In der Bibliothek sind mit einem blauen Punkt auf dem Buchrücken jene Bücher gekennzeichnet, die die Stipendiaten als Dank (zum Teil nach strenger Aufforderung der Leiterin) dem Haus freiwillig überlassen haben. Unbekannte Autoren begriffen das als Chance, in einem Buchregal auch mal überproportional vertreten zu sein. Es tat mir also nicht weh, ein paar Exemplare meiner Lyrik auf solche Weise loszuwerden. Außerdem wurde mein Reisegepäck leichter. Burkhard Spinnen war anscheinend noch nicht hier, sonst hätte ich seine Bücher entdeckt. Vielleicht taucht er demnächst als Ehrengast auf, und die halbglatzige Erscheinung im Türrahmen ist die düstere Vorahnung seines baldigen Aufenthalts?

Wer es als Künstler nicht schafft, kann sich im Künstlerhaus Lukas auch als Praktikant bewerben. Für acht Stunden tägliche Fron, erhält man 350 Euro Aufwandsentschädigung. 250 Euro muß man allerdings für den Aufwand der Unterbringung im Künstlerhaus wieder zurückbezahlen, falls man es nicht vorzieht, für 180 Euro pro Nacht im Kurhotel zu logieren, bei den reichen westdeutschen Rentnern. Der Architekt, der es erbaut hat, kommt in die Hölle und erhält dort völlige Baufreiheit.

Als Ehrengast kann man sich nicht bewerben, man wird umworben. Was schade ist. Aus dem Büro des Künstlerhauses drang nach draußen, daß sich jemand als Ehrengast für das Jahr 2017 selbst vorgeschlagen habe. Ein gutes Beispiel für  Initiativ-Bewerbung. Vielleicht könnte im Sommer 2020 das Ehrengastzimmer mit Boddenblick für mich freigehalten werden? Bis dahin bemühe ich mich, eine gewisse Bekanntheit zu erlangen.

Wenn es ein Künstlerhaus Leuna oder Bitterfeld gegeben hätte, wäre die Praktikantin dort wohl besser aufgehoben gewesen. Von früh bis spät hockte sie nur im Büro. Tantalusqualengleich von  einer Landschaft umgeben, von der sie nichts hatte. Ging die herbstliche Sonne unter, kam sie erst nach draußen. Immerhin war sie Raucherin, so daß sie zwischendurch auf eine Zigarette an die frische Luft gelassen wurde. Zumindest für sie hatte das Rauchverbot im gesamten Haus einen Sinn. Für manch Ehrengast, dessen Kunst nikotinaffin ist, bedeutet der Aufenthalt neben der Ehre eine kleine Qual. Der Hintersinn der Maßnahme: Ein Künstler sollte immer ein bißchen leiden, um kreativ zu bleiben, und Ehrengäste, die sich Ahrenshoop längst aus eigener Tasche leisten können, sollten für jedes Unbehagen dankbar sein.   

Und wer sich nun fragt, warum ich noch nichts über die Leiterin des Hauses, Gerlinde Kreutzburg, erzählt habe, deren Name nun unverfälscht hier steht, der möge bedenken, daß ich mir meinen Ehrengastaufenthalt im Jahr 2020 nicht verderben möchte. Aber eine Sache sei doch erwähnt. Die ersten Worte, die sie an mich richtete, lauteten: Wir pflegen hier oben das nordische Du, ich bin die Gerlinde. Und ich pflegte es daraufhin auch: Ich bin der Christian. Und weil wir es in dem ganzen Monat nicht oft miteinander pflegten, sozusagen keine Pflegeserie daraus wurde, habe ich nicht viel über Gerlinde zu erzählen (höchstens noch, daß sie Jürgen und mich angemeckert hat, weil wir im Gästebuch nicht die Rückseite vom Vordermann beschrieben und also Papier vergeudet haben). Das ändert sich natürlich, wenn ich als Ehrengast hier sein werde. Dann werde ich mit Gerlinde nicht nur das Du, sondern an ihrer Seite mit dem Ahrenshooper Bürgermeister Konversation pflegen, währenddessen ich zu einem üppigen Dinner eingeladen bin, wie es unserem Ehrengast zuteil geworden ist. Darauf freue ich mich schon jetzt.

Man könnte nun fast meinen, ich hätte etwas auszustehen gehabt. Dieser Eindruck wäre falsch. Mir ging es ausgezeichnet dort oben und daran waren die Landschaft und das Wetter schuld. Wäre ich mit etwas mehr Pathos ausgerüstet, hätte ich Worte finden können für diese herbstliche Erhabenheit, die sich mir im Darßwald bot, der einst Kronheide genannt wurde. So golden glänzte auch das Laub der Linden und Buchen. Dazwischen stand flächenweise der Adlerfarn mannshoch und er schien wie verrostet zu sein, gleich einer filigranen Schmiedearbeit, die dem Wetter ausgesetzt worden war. Auf dem moorigen Grund hielten die Erlen aus, unter ihnen gluckste und schimmerte es. Stechpalmen, denen ich die Lust am Stechen ansah, mit ihrem grünmetalisch glänzenden Blattmordwerk, verwachsenen Aliens gleichend, die es vom atlantischen Florengebiet hierher verschlagen hat, oder vom Beta-Quadranten unseres Universums.

Das genügt. Ich kann mir zum Beispiel herbstlich gefärbte Apfelbäume, wie sie direkt vor meinem Fenster standen, auch anschauen, ohne etwas darüber schreiben zu müssen. Einfach nur den Anblick der roten, gelben, von den Österreichern völlig zurecht Paradeiser genannten Verführungsfrüchte genießen, und den Apfelkuchen danach, den die praktische Praktikantin buk. Zuvor hatte sie die reifsten und fallsüchtigsten unterm Baum eingesammelt und ein paar knackige Prachtexemplare mit Hilfe einer Teleskopstange aus der Krone geangelt. Die schöne Praktikantin mit den Paradeisern, tja, aus ihr wird kein Vers mehr werden. Denn ich hab mich gar nicht verliebt im Künstlerhaus Lukas, weder in sie, noch in eine andere. Wozu auch? Das schafft nur Ärger und Unannehmlichkeiten, und wirkt sich negativ auf die Produktivität aus. Man sollte dort viel spazieren gehen, gut essen, regelmäßig, aber maßvoll trinken, zwei, drei Stunden arbeiten, keinen Sex mit Künstlerinnen bzw. Künstlern treiben. Einen Tipp möchte ich den zukünftigen Stipendiaten noch auf den Weg geben, die sich wie ich mit Spazierengehen, Essen, Trinken und Arbeiten bescheiden müssen. In der Nähe von Ribnitz-Damgarten gibt es einen Swinger-Club. Dafür müßte man allerdings ein Auto haben oder man bildet eine Fahrgemeinschaft.

Nachtrag:
Bevor ich jede Menge Österreicher gegen mich aufbringe. Ich bin doch tatsächlich davon ausgegangen, Paradeiser seien Äpfel. Es sind Tomaten. Sie wachsen nicht auf dem Baum der Erkenntnis und ich sollte die Finger vom Österreichischen lassen.