Apocalypso

Interview

Im Gespräch:
Ulrich Bergmann und Hel Toussaint
 

Interview

Apocalypso - Aus Briefen von Ulrich Bergmann (Bonn) und HEL Toussaint (Berlin) 1993-2010

UB: Es hat mich in diesen sympathischen Literaturbetrieb unterhalb der Opportunismusgrenze hinein gebracht, wo die Keime der Korruption noch niedlich sind, wie Mädchenaugen.

HEL: Manchmal rächt sich der untergrund doch, oder das hirnunterholz, wenn Sie so wollen, wo es zu viel denkt und zu wenig lenkt. Jedes von den bildchen glaubt, unendlich zeit zu haben, das heißt die wissen nicht was zeit ist, die andern sind ja auch noch da. Das sind zeithasardeure, wenn sie mal wach sind. Aber ich sprach vom untergrund; ich geh eben nicht die doppl dipl tappl tour von prof. riha. Mein komfort ist, ich hab luft zum atmen, aber in der luft wuchern die luftwurzeln. Ich will zu viel als daß ich alles wollte. Ich wiege zu leicht für das nichts, ich wiege zu schwer für das gewicht der welt. – Schmus schmus ist alles gebilde aus vier uhr blues. Vergessen Sie’s. Jeder ist seiner tücke schmied. ...
Ich erfinde nicht, ich schreibe immer nur ab, und bei bedarf wird das lied weitere strophen bekommen. Warum neue lieder bauen, wo die alten noch gut sind.

UB: Dichten ist verbale Boulimie nach lexikalischem großem Fressen.

HEL: Merkwürdig: Kotzen ist eine zentralaussage unserer zeit. Wer nicht bulimisch ist ist nicht sublim.

UB: Mir gefällt das Kommunikative, die Musik des Rap und der Fluss der metaphysisch hingerotzten Gedanken, jedenfalls dann, wenn sie nicht verlogen sind.

HEL: Social Beat, ja ja, SB. Es ist in erster linie ein gefühl, ein lebensgefühl. Ich teile es nicht, aber wo es ist schwingt bei mir etwas mit. Gefühl ist alles; tao heißt vielleicht gefühl. Wenn Sie es auf den kern zurück führen, haben Sie immer ein – feeling. Der unterschied ist, ich finde es an stellen wo die SBs es nie suchen würden, ihr gesichtsfeld ist zu eng. Ich finde es bei Hüsnü Daglarca, bei Yunus Emre, bei Asik Veysel, um bei den türken zu bleiben. Es ist ja so alt wie die dichtung selbst. Was die SBs heut meinen, hat viel mit bier und noch ein paar ähnlich gelagerten dingen zu tun, die schwer faßbare melange aus rum hängen, getrieben sein, bier, punk ... Sie wissen es selbst. Auch negative eitelkeit ist dabei, sorgsam ungepflegte kleinbürgerei, ein antihabitus mit engen grenzen, borniertheit auch; tief darunter sind sie wach, aber meist wahren sie sich vor zu vielen eindrücken, gleichzeitig muß lautstärke und monotonie stimmen. Stadtbewohner sind sie, auf ihrer weise lieben sie die stadt, den beton. Das alles macht sie aus, ist ihre gestalt, und das schreiben, gedankenlos, aber nicht automatisch, gehört dazu. Doch beat, sagte mal ein jazzmusiker fein, ist noch lange nicht takt, so weit davon entfernt wie social von anarchy.

UB: In Deutschland hat man meist ein falsches Verhältnis zur Arbeit. In diesem Land mußte die kommunistische Idee geboren weden und hier muß sie auch immer scheitern – beides ist fast dasselbe.

HEL: Auf der höhe bleiben, im urteil, in den mitteln, im sinn. Das ist nicht erklärbar, das ist ein gefühl. Da ist eine spur der man folgt, in einem riesigen netz, von dem teile dir gehören. Einige knoten haben mit dir zu tun, andere nicht. Das hörst du. Es läßt sich nicht sagen. Es ist die mitte. Es ist die milchstraße, der du auch nicht folgen kannst, die etwas anderes ist als was du siehst, aber sie ist deine koordinate. Die chaostheoretiker sagen chreode dazu, die taoisten tao. Es liegt in allem. Es sind nicht metren und reime, aber ohne sie ist die schale nicht ausgewischt. Experiment und handwerk fallen auch zusammen, im modell. Das ist, so banal es klingt, das glück der mitte.

UB: Ich hätte von Straßenkindern mehr gelernt als in der Schule und im Elternhaus, das Phantasie und bestimmte Realitäten nicht zuließ. Die Mängel des breiten Bildungsbürgertums haben einen größeren Schaden in der Geschichte nicht nur des deutschen Volkes angerichtet, als man annimmt. Zu positiv wird selbst der Schatten puren Bildungswissens bis auf den heutigen Tag gesehen.

HEL: Was das GUTE betrifft, hab ich einer freundin geschrieben: Bleib ä gudes ludr, abr werd kä gutmensch. ...
Im übrigen sollte es zeit sein, europäisch zu denken, und zwar europäisch mit der großen lösung. Und mit denken meine ich nicht kapitalstrategisch, das geschieht ohnehin, sondern kulturell, sozial, politisch. Für mich gehört der Islam dazu, und es wird eine der großaufgaben sein, die halbzerstörte brücke wieder zu bauen.
Und die Özdamarn ist wirklich so gut. Bei ihr hab ich gespürt was wäre wenn wir unsere nasen nicht mehr nach Amerika hielten. Was für ein kräftiger pollengeladener nährwind weht da vom balkan herauf, was für ein himmelsplankton uns ins maul! wie der geist der indianer auf die amerikaner, wird der geist der türken auf uns übergehn, wir sind dabei, eine türkisierte gesellschaft zu werden. Das ist eine frage der chemie, nicht der politik. So wurde Amerika schwarz und wird hispanisch. Europa wird slawisch und orientalisch, und nicht zu seinem nachteil. Sevgi Özdamar gibt einen vorgeschmack.

UB: Die Türken ersetzen uns die Juden – Allah sei Dank!
Ob wir mit dem Islam und ob der mit uns? Schwierig. Aber eine gute Herausforderung: da brauchen wir viel Geduld und dürfen nicht zu viel erwarten. Appeasement ist gegenüber dem islamischen Fundamentalismus der falsche Weg. Unser Land verlor schon, bevor die Türken kamen, immer mehr seine christlichen Fundamente. Im Grunde gut so, denn es bedeutet Selbstbefreiung von unterdrückender Kultur, die faschistische Phase eingeschlossen. Schlimm nur, was da an Glaubensersatz – esoterische Idiotien und unreflektierte multikulturelle Verbaltoleranz – an die Stelle des Kulturchristentums tritt. Ich vermute, daß tief in unserem europäischen Bewußtsein ein fundamentalistischer Restglaube sitzt. Der müßte sich eigentlich mit dem Islamismus treffen, tut es aber nicht. Warum? Der Imperialismus der weißen Rasse ist noch nicht am Ende. Der Kapitalismus ist da zwar freier, hat aber seinen eigenen, ihm immanenten Faschismus.