Ein nostalgisches Scheitern
Die vierzehnte Ausgabe der Literaturzeitschrift „Otium” nimmt sich zum Thema Nostalgie: die „Sehnsuchtsorte”, die durch räumliche oder zeitliche Distanz entstehen und gerade durch diese Distanz erst ihren Reiz gewinnen. Bereits in der Ankündigung der Lesung, die am 13.10 in der Naxos-Halle in Frankfurt stattfand, findet sich die Erinnerung an durchzechte Nächte: „Wenn man morgens heimfährt und die Sonne aufgeht, dann scheint so ein Licht auf den Imbissstand an der Baustelle, das alles unwiderstehlich macht. Es geht um dieses Licht.”
Kurz, nachdem Ossian Hain diese Worte gegen Beginn der Lesung vorträgt, wird die Szene verdunkelt. Waren vorher noch auf der Bühne Objekte zu sehen, die an einem Badestrand nicht schlecht aufgehoben wären – Wasserbälle, ein Sonnenschirm, eine Eistruhe, eine Eiskarte von Langnese – wird nunmehr ein Song von „The War on Drugs” mit markanten Synthesizer-Arpeggien eingespielt. Nach einiger Zeit geht das Licht wieder an und ein Dia-Projektor, der während der ganzen Lesung immer wieder die Pausen zwischen Texten markieren wird, zeigt ein Foto einer Taube am Bahnhof, projiziert auf ein an der Leine aufgehängtes Handtuch. Kurz danach dann auf der großen Leinwand ein Video, wie alle Videos und Fotos der Lesung erstellt von Corinna Hackel, das eigentliche Intro zur Show: Senkrecht in zwei Hälften geteilt Aufzeichnungen von einem sonnigen Strand – Spuren im Sand, manchmal auch Füße, in der Ferne Menschen im Meer, viel Bilder vom Wasser. Ein Gefühl von Sehnsucht nach der Jugend, nach der Musik von damals, nach vergangenem Urlaub und Verreisen stellt sich mehr als deutlich ein. Aber es werden nicht nur Eindrücke präsentiert; was sich durch alle Texte der Lesung zieht, ist eine Auseinandersetzung mit einem gewissen Scheitern an der Unwiederbringlichkeit der Sehnsuchtsorte und, parallel dazu, mit dem Scheitern der Liebe zu anderen Menschen.
Gerade der erste Text nach dem Intro, „Badesaison” von Andreas Engelmann, beschäftigt sich intensiv mit diesem Scheitern, besonders auf der zwischenmenschlichen Ebene einer Beziehung. So planen die unbenannten Protagonisten, ins Schwimmbad zu gehen, aber es ist zu und sie hätten auch gar kein Badezeug dabei. Zwischen diesen kurzen Dialogen – die Engelmann zusammen mit Marten Weise vorträgt –, in denen mit einer sparsamen, naturalistischen Sprache bereits viel gesagt wird, entspannen sich die Gedanken des Erzählers, der rückblickend die Ereignisse reflektiert. Hier, in den pointierten Sätzen, die mühelos den Kern der Geschichte auszudrücken scheinen, kommt die Stärke von Engelsmann Schreibweise am besten zum Ausdruck: „So spannten sich zwei Fäden aus, die in unterschiedliche Richtungen wucherten, und am Ende wussten wir nicht, ob die Gespräche, auf die wir uns in unserem Schweigen bezogen, die zwischen uns oder die in unseren Köpfen gewesen sind.” Diese Verbindung zwischen ernüchternden Erinnerungen an etwas Gescheitertes und der intellektualisierten Ausdrucksweise, stets mit einer gewissen ironischen Distanz, die Engelmann im Vortrag seines Textes noch stärker zum Vorschein bringt, macht diesen Text zum interessantesten der ganzen Lesung.
Der darauffolgende Text, „Anvertrauen II.” von Viktor Fritzenkötter, ebenfalls vorgelesen von Engelmann, schließt an die Thematik des vorhergehenden Textes an. Wiederum zwei Protagonisten, scheinbar romantisch verbunden; diesmal jedoch versucht die Protagonistin, ihrem Begleiter einen Ort zu zeigen, der ihr einst wichtig war. Dass es scheitert, nimmt der Text bereits vorweg, noch bevor es erzählt wird: „Es war ein Ort der Nostalgie, doch keiner, der teilbar wäre.” Die Kürze und Deutlichkeit, mit der ein kleines Ereignis erzählt wird, verleihen dem Text etwas Illustratives; es sind jedoch die ausschmückenden Details, die das Wesentliche nur andeuten, anstelle es auszusprechen, die dem Text seinen Reiz geben.
Alexandra Colligs’ „Sommernacht” betreibt eine plastischere Art der Erzählung. Die Ereignisse eines Abends werden in eindrücklichen Bildern wiedergegeben, wie in der Beschreibung eines Paares: „Bestimmt verbringen die Beiden ihr Wochenende auf Instagram und in der gemeinsamen Küche liegt ein poppig aufgemachtes Heft, in dem es um Feminismus geht oder darum, wie man glücklich ist.” Solcherlei humoristische Pointen kontrastieren, teilweise schon zu sehr, mit der Härte der Ereignisse, die wiederum nüchtern-distanziert betrachtet werden, sodass sich beim Lesen ein emotionaler Effekt einstellt, der im Text nicht explizit heraufbeschworen wird. Dazu kommt eine Eigenständigkeit einzelner Bilder, die sie aus dem Erzählfluss hervorhebt und verhindert, sie als bloße Metapher zu lesen. So heißt es zum Beispiel: „Wenn ich die Augen zumache, sehe ich den Riss in der Decke seines Zimmers, den wir so oft angestarrt haben. Ich sehe jede Kurve, jede Verästelung, jede Vertiefung.” Colligs’ Geschichte, von ihr selbst im gleichmäßigen, unaufgeregten Ton vorgetragen, fordert eine nähere Lektüre geradezu heraus.
Danach nimmt die Anspannung ab, wenn Weise seinen Text „Rechts stehen, links gehen“, veröffentlicht in der letzten „Otium“-Ausgabe, liest. Seine gekonnte Vortragsweise, die die humoristischen Elemente des Textes angemessen unterstreicht, hat etwas Unterhaltendes. Die ernste Seite der Geschichte – auch hier geht es um eine Beziehung – kommt auch rüber, scheint aber nicht allzuviel Neues zu bringen, was an dem Abend nicht schon behandelt wurde. Darauf folgt ein weiteres zweigeteiltes Video: Außenansichten von Wohnhäusern, Autos und der Straßenbahn, wobei der Fokus auf der Bewegung zu liegen scheint, auf den konträren oder parallelen Verkehrsrichtungen. Im Gegensatz zum Video vom Strand, das eingangs gezeigt wurde, lässt sich hier also häuslicheres, heimischeres sehen, aber eben nur von Außen und in Bewegung.
Auf das Video folgt „Tagebuch” von Alexander Kern, gelesen von Fritzenkötter. Hier wird New York als Sehnsuchtsort dargestellt; diesmal ist es die räumliche Distanz, durch die die beschriebenen Eindrücke der Stadt sich zu etwas Ansehnlichem zusammenfügen – gleichzeitig, ohne die sozialen Probleme zu ignorieren; sie werden überdeutlich angesprochen. Aber eine wirkmächtige Stelle des Textes ist ein poetologischer Satz, der Oscar Wilde zugeschrieben wird: „Die Kunst deutet nicht auf das Geheimnis hinter der Oberfläche, sondern lässt die Oberfläche selbst geheimnisvoll”. Es fällt in dieser Lesung auf, dass die Texte sehr viel direkter und zugänglicher sind, als es für „Otium“ üblich ist. Unter diesem Blickpunkt wirkt der zitierte Satz wie eine Apologie oder vielleicht besser: als ein Hinweis darauf, wie die Texte zu lesen sind. Mögen an Kitsch erinnernde Elemente in einzelnen Texten beim ersten Hören unangenehm auffallen, sind sie naheliegend bei der Thematisierung von Nostalgie, die eben einfache Bilder mit mehr Bedeutung auflädt, als sie aus sich heraus entwickeln.
Bei Fritzenkötters „Anvertrauen III.”, einer simplen Geschichte von einem Komponisten, der sich des Gesangs eines Obdachlosen bedient, um berühmt zu werden, liegt die Fragestellung nach dem Kitsch besonders nahe. Wiederum kommt der Text den Überlegungen der Leserin zuvor, indem er es geradeheraus anspricht: „Er wusste, dass die Kritiker ihm einen Hang zum Kitsch vorwerfen würden und redete sich ein, dass es in der Welt um etwas anderes ginge.” Diese ironische Verteidigung dessen, was der Text selber macht, ist deshalb interessant, weil jenes Andere nicht näher benannt wird; es scheint nur klar zu sein, dass die eigentliche Handlung nicht das Wichtige ist.
„der Ausländer seine Rose ihr Stein”, ein Langgedicht von Alexandru Bulucz, setzt sich formal stark von den anderen Texten ab, die allesamt Prosa-Erzählungen sind. Beim Hören bleiben zunächst einzelne Teile hängen, mehr des Klangs wegen denn der Bedeutung: rumänische Mutter, Wassermelonen, gelegentlich ein biblischer Tonfall. Beim Lesen stellt sich erst allmählich heraus, dass es um solche Fragen wie das Entwachsen aus der Kindheit geht und wo es sich nicht vollzieht, wo sich in der eigenen Sprache der religiöse Grundton durchsetzt, zu dem man vielleicht schon früh erzogen wurde, aber auch, wie sich all das nicht als einfache zeitliche Relation begreifen lässt: „Wie eine irreparable Verkalkung von Gefäßen im Hirn, durch die man das Gefühl für Chronologien verliert.” Auf eine andere, wesentlich dichtere Art setzt sich also auch dieser Text mit dem Thema der Ausgabe auseinander.
Der letzte der drei Texte von Fritzenkötter, „Anvertrauen I.”, wieder von ihm selber gelesen, führt die Konzentration der Miniatur in solch eine Richtung, dass es schon etwas von einem Märchen gewinnt: Eine Grönländerin besucht Amerika und überbringt Eindrücke, und zwar Naturgeräusche, aus ihrer Heimat, quasi als Botin einer fremden Welt; wieder zu Hause gibt sie, zu großer Begeisterung ihres Dorfes, weiter, was sie in den amerikanischen Wäldern gehört hat. Der saubere Schematismus, nach dem die Geschichte verläuft, lässt kaum Platz für andere Überlegungen als die, was es mit der Weitergabe von Sinneswahrnehmungen, (akustischen) Eindrücken auf sich hat – wie sie je nachdem als Bedeutungsträger oder als bloßes Geräusch, ohne jegliche Referenz auf etwas Anderes, verstanden werden können.
Die letzte Erzählung, Hains „Wiedersehen”, greift das wiederkehrende Thema der Liebe auf. Erneut wird den Trennungen zwischen zwei Menschen die Aufmerksamkeit geschenkt – die abschließende Szene des Textes, wo der Protagonist seiner Begleiterin das gesamte Inventar eines Rosenverkäufers schenkt und geht, ist eine passendes Bild für die vordergründige Willkürlichkeit und Irrationalität, mit der die Personen der Geschichte handeln. Trotzdem folgt der Verlauf des Textes einer poetischen Logik, die seinem stilistischen Naturalismus entgegengeht. Erneut lässt sich leicht sehen, was passiert, und es ist kein Problem, sich unterhalten zu fühlen; aber tatsächlich zu begreifen, was passiert, erfordert einen vollkommen anderen Zugang, der sich in der Lesung kaum auftut.
Darauf folgt dann nur noch das Abspannvideo mit den Credits, wie es für diese performative Lesung mit cold open, Intro und (Video-)Pause in der Mitte nur angemessen ist. Dazu Musik von „Modest Mouse” – statt der zeitgenössischen Retro-Klänge vom Intro dann doch ein Indie-Klassiker. Die rückblickende Perspektive auf die Jugend – möglicherweise auch nur auf das adoleszente Verhalten in der letzten Nacht –, die der Ausgangspunkt der meisten Texte war, wird letzten Endes doch aufgegeben. Die Sehnsuchtsorte existieren nur in nostalgischen Erzählungen, aber die Beschäftigung mit ihnen bedeutet für uns doch etwas. So etwa am Ende von Engelmanns Text „Auswege”, der in der Ausgabe abgedruckt ist, aber nicht gelesen wurde: „Wenn man am Kai steht und die Gedanken schlagen lässt wie die Wellen, tun sich Abgründe auf: Nie wieder mit Gleichmut die Orte verlassen, an denen wir sind.”
Anmerkung der Redaktion: Otium bestellen. Bestellungen sind zur Zeit nur per Email möglich, unter bestellung@zeitschriftotium.de.
Aktuelle Redaktion: Alexandru Bulucz (ab), Andreas Engelmann (ae), Alexandra Colligs (ac), Viktor Fritzenkötter (vif), Ossian Hain (oh), Alexander Kern (ake), Sarah Schuster (sch), Marten Weise (mw). Unter permanenter Mitarbeit für Fotografie, Video und Style von Coco Hackel. Alle beteiligten Autor_innen der Ausgabe sind, sofern wir einen Pfad gefunden haben, verlinkt.
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