Weil es hier und da noch immer vermint ist
„Der Aufstieg des Mittelfingers“ ist Orange. Vor ihm sitzt sein Autor, Jan Skudlarek, er wird live interviewt, es gibt noch technische Probleme, die Social Media Frau vom ZDF, Lea, grüßt zweimal, dann läuft der Livestream: Skudlarek hat geschrieben, gegen Hasskommentare im Internet, dafür hat er recherchiert, dagegen ist sein Plädoyer. Er schreibt gegen entkörperte Kommunikation an, so wie jetzt, „wir sitzen ja jetzt nebeneinander“, Jan macht es deutlich, für die ZuschauerInnen auf facebook, sie stellen live Fragen in der Kommentarspalte, Lea empfängt sie per Smartphone, ein digitaler Beitrag für die Entdigitalisierung des Rückgrats, für Statements mit Gesicht. Für Körper in der Kommunikation. Auch im Internet. Die „Hate -Speech-Welle“ erreiche Massen. Man mag lachen, sagt Skudlarek, aber er stimmt mit der Bezeichnung „Neuland“ für das Internet überein, denn dass Hetzbotschaften in diesem Ausmaße Massen erreichen, sei neu, nach wie vor, sein Begriff von „neu“ ist ein zivilisatorischer, ein über Jahrhunderte blickender, einer aus dem Altland. Und ein relevanter in dieser sich selbst potenzierenden Beschleunigung des „Neuen“. Trotzdem ist Skudlarek kein Pessimist. Nur „wir müssen aufpassen, dass die Minderheit das sprachliche Klima für die Mehrheit nicht kontaminiert.“
Aber die Wege der Kontaminierung abzukappen ist Arbeit.
Dann, wenn sie sich, zwei Gänge weiter, schon fossilisiert hat am vierten Messetag, den Durchgang einnimmt, ihn verstopft, nicht ausweicht, sich aufrecht gruppiert, ihren Kindern Seitenscheitel bürstet und adrette Zöpfe flechtet, ihre Schnurrbärte mit Millimetermessstab striegelt und ausschert, Sprechchöre bei Podien hier mobilisiert und selbstgefällig in alles eindringt. „Sie versuchen, eines unserer T-Shirts zu bekommen“, der Mitarbeiter der Anne-Frank-Stiftung trägt es, zeigt darauf, „mut mutiger mund auf!“ heißt ihre Aktion gegen die Kontaminierung von nebenan, „mut mutiger mund auf!“, das passe in ihren Köpfen ja auch in die eigene Ideologie, manchmal kommen sie rüber, wollen reden, er zuckt die Schultern, fragt nach einer Unterschrift, „irgendwas müsse man ja machen“.
Und mutiger ist in diesem Jahr hier ein bisschen mehr als ein Slogan.
Ich komme fast nicht durch ihn hindurch, diesen recht gewachsenen Pulk, dieser Pfropf in den Venen der Messe, Antaios ist ihre Thrombose. Ich schiebe mich um sie herum, dann kommt es bei mir an, macht schnell die Runde: Achim Bergmann, der Verleger des Trikont Verlages, wurde mit der Faust ins Gesicht geschlagen, ein paar Gänge weiter. Ich schiebe mich am letzten Rechten vorbei, gegenüber lächelt der Mann von der Amadeu-Antonio-Stiftung noch. Er hält sich. Für ihn ist die Messe „kein Spaß“ – gegenüber lacht eine schallend – aber er will Dialog, wieder, für Statements mit Gesicht, er hält seins hin. Morgen kommt Höcke und „ein Schaulaufen der Identitäten wird veranstaltet“, er zeigt einen Meter von sich, „hier“, und, ja, manchmal laufe hier eine Streife oder ein Security hindurch, man müsse halt hoffen, dass nichts passiert.
Ich muss weiter. Irgendwohin. Weg von diesem Gelände für heute.
Ich laufe Richtung Ausgang an Installationen vorbei, Menschen applaudieren zwei Slammern, Schulklassen klettern auf den Aussichtscontainer von Kein & Aber, eine Frau zählt stolz die Bücher in ihren neuen Tüten und die MitarbeiterInnen von Amnesty International trinken einen Cocktail von gegenüber, die Thrombose löst sich. Langsam.
Und dann, draußen, gewinnt die Literatur langsam wieder überhand über diesen Tag. Es hallt. In den Römerhallen rezitiert Robert Prosser aus „Phantome“, frei, mit festem flow, Selekta-Rewind und Stakkato über Srebrenica, die Menschen wollen mehr, aber ohne Mikro, er wird lauter ohne die Technik, schreibt ein großes „Fuck“ über die Situation des Nachkriegsdorfes im Osten Bosniens, und einen Roman gegen Resignation. Er ist herzlich mit seinen Figuren, die ihn hindurch führen durch das ihm fremde Land, die auf Details zeigen und auf Geschichten, denen er eine unverkennbare, überwältigende Stimme gibt. Er ist herzlich mit den Figuren, die ihm zeigen, wo er nicht hintreten soll, weil es hier und da noch immer vermint ist. Und am Ende stehen sie, diese Herzlichkeit, diese melodische Neugier und eine Hoffnung, die in seiner Sprache wohnt, als letzte im Raum.
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