Kolumne

[Dominique Manotti, Das schwarze Korps] My white male bookshelf #8

Vor einer Weile habe ich alle Bücher männlicher Autoren in meinem Bücherregal umgedreht. Man sah statt bunter Buchrücken fast nur noch die Seiten. Mein Regal war weiß geworden. Seit dem lese ich nur noch weibliche Autorinnen. In der aktuellen Ausgabe steht My white male bookshelf bei Victor Kümel, Mitglied bei Kabeljau & Dorsch.

 

Mein Onkel musste als Kind in der Schule regelmäßig Aufsätze schreiben, wobei ich mir nicht sicher bin, ob er selbst genau wusste, was das eigentlich sein sollte, ein Aufsatz. Meine Oma, seine Mutter, wusste es ganz bestimmt nicht. Sonntags ließ sie ihn regelmäßig »Aufsatz schreiben üben«. Ohne weitere Erklärungen. Was mein Onkel beim »Aufsatz schreiben üben« gemacht hat, weiß ich nicht. Sicher hat er nicht geübt, Aufsätze zu schreiben - wie soll man das auch machen. Genau genommen weiß ich noch nicht mal, ob er überhaupt jemals einen Aufsatz geschrieben hat. Denn erzählt hat er nur vom Aufsatz eines Freundes. Aufgabe war es, über ein schönes Erlebnis in den Sommerferien zu schreiben. Ich kann mir vorstellen, dass es die Aufgabe heute noch genauso gibt wie in den 50ern.

Den Beginn des Aufsatzes, den sein Freund geschrieben hatte, konnte mein Onkel zitieren:

»Die Motoren des Magirus heulten auf.« Der Lehrer hatte sofort abgewunken, Schund.

Was ein Magirus ist, musste ich mir dann erst mal erklären lassen bzw. im Netz suchen: Eine Firma, die schwere Feuerwehrwagen und LKWs produzierte.

Ich habe den Verdacht, dass der Mitschüler meines Onkels seine Sommerferien in keinem Magirus, sondern lesend verbracht hat. Feuerwehrgeschichten oder andere Abenteuerromane aus dem Bibliotheksbus. Oder Groschenheftchen mit Landsergeschichten, die die Wehrmacht reinwaschen … Ich weiß es nicht und aus dem einen Satz kann man es auch nicht ablesen.

Sicher ist, dass der Schulaufsatz eher von U- als von E-Literatur inspiriert war. Und sicher ist, dass ich den Satz vom Magirus ziemlich witzig finde, obwohl ich ein eher gespaltenes Verhältnis zu U-Literatur habe. Zum einen zu der Trennung zwischen U und E und zum anderen, wenn man denn trennen will, zu dem, was U ist. Denn einerseits ist die sogenannte Hochliteratur ja durchsetzt von Genre, andererseits schlage ich immer mal wieder aus Neugier einen Krimi oder Thriller auf - und dann fast immer enttäuscht wieder zu. Einfach, weil es mir oft schlecht gearbeitet erscheint und dadurch langweilig ist.

Neulich habe ich dann bei meinem Buchhändler Mackensen Dominique Manottis Krimi »Das schwarze Korps« aufgeschlagen und war entgegen meinen Erwartungen ans Genre sofort begeistert: Der Roman spielt 1944 in den letzten Wochen im besetzten Paris.

In der Stadt regiert die SS mithilfe der Carlingue, der französischen Gestapo. In den Salons treffen sich Industrielle, Offiziere, Verbrecher*innen, Sexarbeiter*innen und Künstler*innen. In diesem Milieu, das wie gemacht für einen Roman Noir scheint, lässt Manotti ihre teilweise historischen Figuren auftreten, die zum Teil so bekannt sind, dass man sie auf Wikipedia finden kann. 

Den Kapiteln, die mit Daten betitelt sind, hat Manotti jeweils einen kurzen Abriss über die Fortschritte der Alliierten an der Normandie vorangestellt. Die Uhr, die in jedem Roman tickt, ist hier also nicht über die Handlung gestellt, sondern durch die Geschichte.

Und wie beginnt die Handlung?

Zwei Citroëns fahren dicht hintereinander im Schritttempo und ohne Licht durch die Avenue Henri-Martin.« (S. 11)

Eine heimliche Version von »Die Motoren des Magirus heulten auf.« Dem Genre angemessen, in dem es um Heimlichkeit geht.

»Das schwarze Korps« ist 2016 als Taschenbuch bei Argument in der Reihe ariadne für Kriminalliteratur erschienen und von Andrea Stephani aus dem Französischen übersetzt worden. Manottis Roman ist klar in diesem Genre situiert und will auch nichts anderes. Die Sätze der Autorin konzentrieren sich auf die Handlung, sind dabei klar und präzise. Eigentlich habe ich Genreliteratur gegenüber das Vorurteil, dass die Sprache von der Handlung ablenkt, weil sie zu klischeehaft ist. Das ist hier nicht der Fall. Was Manotti stattdessen schafft, ist, das Genre so leichtgängig mit den historischen Ereignissen zu verweben, dass die Handlung zum einen auf mehr als nur auf das Genre verweist und zum anderen die Geschichte in die Handlungen und die Motive und die Psychologie der Figuren holt. Da versteht einer der Gangster, der mit den Nazis kollaboriert hat, plötzlich, dass der Krieg verloren ist und versucht, zu verschwinden:

»Jetzt stehe ich, oder besser gesagt stehen wir, weil du an einem Gutteil der Geschäfte beteiligt bist, vor dem Problem, dass das Geld gewaschen werden muss. Man darf es nicht mehr riechen, sehen, schmecken. Dazu brauche ich etwas Zeit. Und ich hoffe, die Wehrmacht verschafft mir genug. In diesem Punkt habe ich allerdings ziemliches Vertrauen in sie. Sind schon gute Jungs, diese deutschen Soldaten.« (S. 39)

Die Rede von den guten Jungs könnte genauso gut auch aus dem Propaganda-Ministerium stammen. Aber Manotti denkt anders herum: Bei ihr ist der Satz die logische Konsequenz aus einem Geschäft.

In ihrer Vorbemerkung schreibt Manotti, dass Erzählen heiße, Widerstand zu leisten. Und der wird hier deutlich, wenn die Autorin einen Krimi schreibt, in dem am Ende die Geschichte selbst zur Protagonistin wird. Und zwar nicht die Geschichte von großen Entscheidern, sondern von unterschiedlich großen Geldströmen, Interessen und Klassen.

Diese Herangehensweise macht Genre für mich interessant und lässt gleichzeitig die Grenze zwischen U und E fallen - falls es die jemals wirklich gab. Denn so nutzt Manotti eine literarische Form mit ihren klaren Konventionen, um etwas zu erzählen, das sie auch in einem Sachbuch machen könnte.

Gleichzeitig nutzt sie die Konventionen nicht einfach, sondern arbeitet sich daran auf eine produktive Weise ab. Die Sexarbeiterinnen, die zum Genre gehören, bekommen zwar Schläge, aber auch eine eigene Stimme. An einer Stelle muss Angélique dem Polizisten Domecq, der im Mittelpunkt der Handlung steht, seine Arbeit erklären:

»Mensch, ein nasses Handtuch hinterlässt keine Spuren, du bist Polizist und weißt das nicht?« (S. 67 f.)

Wenn eine Sexarbeiterin einem Polizisten vom Sittendezernat erklärt, was Gewalt ist, dann ist das tatsächlich eine kreative Umkehrung von Mansplaining.

Dieser Polizist, Domecq, ist ohnehin auf eine Art gezeichnet, die eher dem Klischee einer weiblichen Figur entsprechen:

»Pass auf dich auf, es werden unruhige Zeiten, du scheinst mir noch etwas zart besaitet« (S. 150), sagt sein Gangsterkumpel zu ihm. Und er nimmt es sich zu Herzen. In einer der wenigen Sexszenen Domecqs wird deutlich, wie die Autorin mit Genderkonventionen spielt:

»Sie beugt sich über ihn - wer ist hier jetzt nicht locker? -, streift ihm die Kleider ab, berührt sanft den unbehaarten Oberkörper, schmal, mager, sehnige Muskeln, die Brustwarzen mit den großen dunklen Höfen richten sich unter ihren Fingern schaudernd auf […]« (S. 278).

Seine Brustwarzen und ihre Hände. Das habe ich so rum noch nie gelesen.

Dieser Domecq ist auch die zentrale Figur im Roman und zudem, im Vergleich zu den anderen, relativ blass gezeichnet. Er ist es schließlich, auf dessen Rücken die Historie ausgetragen wird. Dementsprechend besteht seine Motivation auch vor allem darin, an dieser teilzuhaben:

»Unbeschreiblich seine Lust am Kampf, das Gefühl, jetzt endlich Teil der ganz großen Geschichte zu sein.« (S. 264)

Und damit ist er tatsächlich die Hauptfigur: Denn darum geht es in dem ganzen Roman. Teil der ganz großen Geschichte zu sein. Und dazu macht Manotti auch die Leser*in, die nichts anderes will, als daran teilzuhaben. Und zwar mit der ganzen Wucht, die das Genre bereithält - und mit der Klugheit und dem Fingerspitzengefühl, darüber hinauszugehen.

 

***

DOMINIQUE MANOTTI
Das schwarze Korps
Argument Verlag + ariadne
AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON ANDREA STEPHANI.
 ISBN 978-3-86754-206-7
€17,90

 

 

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