Briefe an S wie Shelley
Liebster Shelley,
Du hast mich sitzenlassen. Ja, dies ist eine Abrechnung. Ich bin nicht beleidigt, sondern verletzt, verwundet. Ich ging zu Dir und es war geschlossen.
Das muss ich wohl erklären. Ich war in Rom. Es war wunderschön, die Sonne schien, ich besichtigte dies und das, und dann wollte ich zu Deinem Grab. Wollte voller Angst dennoch Dein Grab besuchen. Ich befürchtete, davor in Tränen auszubrechen. Ist das peinlich? Vielleicht ist es interessanter zu fragen, warum.
Am besten fange ich damit an zu erzählen, wie wir uns kennenlernten. Es ist wirklich unpraktisch, mit Toten zu reden, besonders wenn man sich nie gesehen hat!
Wir haben uns in der Schule getroffen. Ob mich das für die vielen verschwendeten Stunden und Jahre entschädigt, weiß ich nicht. Jedenfalls haben wir uns im Englischunterricht kennengelernt, ich war ein junges verstocktes Mädchen, Du warst die Ode an den Westwind.
Oh lift me as a wave, a leaf, a cloud!
Schwer zu sagen, was genau geschah. Machte es peng? Ging ein Wind durchs Klassenzimmer? Flog ich?
Der Lehrer sprach mich, nachdem er das Gedicht vorgelesen hatte, an, weil ich von einem Ohr zum anderen grinste. Unmöglich, die Entrückung oder Verzückung oder was immer es war gänzlich zu verstecken. Ein Wunder, dass es mich auf dem Stuhl hielt. Dass meine Ohren der Breite des Grinsens standhielten.
Ja, sie ist ein bisschen peinlich, die Geschichte. Emotionen sind ja stets ein bisschen peinlich, je purer sie sind, desto peinlicher. Wenn es sich dann noch um eine Reminiszenz an die Schulzeit handelt, ist alles aus. Aber es kommt noch schlimmer.
Ich befand mich also in einem Zustand reiner Begeisterung. Entgegen meiner Gewohnheit, entgegen meiner gewohnheitsmäßigen und sorgsam kultivierten Verklemmung konnte ich, ja, musste ich sogar, die Frage des Lehrers mit einem absurd eloquenten, glasklaren, geschliffenen Vortrag beantworten, der im krassesten Gegensatz zu meinem üblichen Schweigen im Unterricht stand, aber auch zu dem Gestammel, das ich gewöhnlich in meinem Privatleben hervorbrachte, sobald es um Dinge ging, die mich bewegten. Die Klasse und der Lehrer waren danach ein wenig fassungslos, ich auch.
So, die Pennäleranekdote haben wir zum Glück hinter uns. Aber, mein lieber Shelley, ich frage mich immer noch, so viele Jahre später, was eigentlich geschehen war.
Ein Treffen über Tod und Jahrhunderte hinweg, und die Begegnung war durch keine Konvention, keine Annäherung gedämpft, wie es bei Lebenden üblich ist. Du schleudertest mir Deine Seele entgegen, schlugst sie mir um die Ohren, dass ich beinahe so körperlos wurde wie Du, und auf diese für mich vollkommen überraschende Attacke konnte ich nur antworten, ungefiltert, mit aller Klarheit, die plötzlich über mich gekommen war. Endlich, endlich machte etwas Sinn.
Das Gedicht als Enzym, als der essentielle Bestandteil, der immer gefehlt hatte, ein Lichtblitz, der mir – endlich! - die Existenz erhellte, wenigstens kurz, so, dass ich einen Blick darauf erheischen konnte. Deine Worte als Schlüssel, ich muss wohl sagen, zu mir selbst.
Be thou me, impetuous one!
Ich wäre eine andere ohne diesen Moment. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich eine Unglücklichere wäre. In gewisser Weise hast Du mich verdorben. Eine halbe Stunde nach dem seltsamen Hoch, als ich vom Klassenraum zur Kantine schlurfte, während eine Mitschülerin mich mit mir in meiner deutlich ausgeprägten Jugendarroganz dumm vorkommenden Fragen bestürmte, fiel mir ein Mangel auf. Ein nagender, stechender Mangel, der mich seitdem nicht mehr verlassen hat: Dein Fehlen.
I fall upon the thorns of life! I bleed!
Natürlich ist das Liebe. Wobei interessant ist, wie konstant das Gefühl über die Zeit geblieben ist, wie unabhängig von verschiedensten menschlichen Faktoren. Mit vielen Jahren Verspätung kam ich dazu, mich ein wenig mit Deiner Biographie zu befassen, Bilder von Dir zu sehen. Du galtest als sehr schön, ätherisch schön. Das war mir piepegal, es hat meine Liebe ebenso wenig vermehrt, wie es sie verringert hätte, wärest Du ein hässlicher Zwerg gewesen. Für Dich war es natürlich nicht egal, besonders für Deine Frauengeschichten nicht, und erst recht nicht für die Legenden, die sich später darum rankten: zwei Selbstmorde, eine unbestimmte Anzahl von Kindern. Aber das interessierte mich nicht sonderlich.
Du sollst außerdem gut, großherzig und sanftmütig gewesen sein – als ob ich das nicht vorher gewusst hätte, das steht doch Deinen Zeilen ins Gesicht geschrieben. Was mich wirklich berührte, war, dass ein Freund bei Deinem Begräbnis in die noch glühende Asche Deines Leichnahms gegriffen haben soll, eines Leichnahms übrigens, der aus dem Meer kam und an Händen und Gesicht schon kein Fleisch mehr hatte, und dass der Freund an die Stelle griff, wo Dein Herz gewesen war, um die Asche dieses Herzens zu bergen. Deine Frau soll sie dann bis zu ihrem Tod in einer Schublade -
Aber nein, ich möchte nicht ins Anekdotische abdriften. Was mich an der Sache rührte, war eben die Tatsache, dass Dein Freund es nicht über sich brachte, sich von Deinem Herzen zu verabschieden. Das konnte ich verstehen.
Was Deine Frau betrifft, eine hochintelligente Person, die mit Deinen Empfindungen eng vertraut war, verdanke ich ihr eine kleine Erleuchtung. Mary: „The prominent feature of Shelley´s theory of the destiny of the human species was that evil is not inherent in the system of the creation. “
Deswegen. Der Schmerz, die Reibung, die Kraft, der verrückte Glaube, ich verstehe. Und ich glaube, ich verstand nicht ganz, ob ich von Dir sprach, oder von mir selbst, oder von einem Gefühl, einem menschlichen Ahnen oder Wollen oder Sichverzehren, das über Dich und mich unabsehbar weit hinausgeht.
Ich bin übrigens – wider Erwarten, gänzlich wider Erwarten! - ein sehr glücklicher Mensch geworden. Einiges habe ich mir erarbeitet, Vieles wurde mir geschenkt. Ich bin glücklich verheiratet und habe drei wundervolle Kinder. Und schon lange ist ein anderes Gedicht von Dir in mein Zentrum gerückt, eines, das nicht „Revolution“ schreit, sondern voller Verwunderung nach der Freude der Feldlerche fragt. Ich werde eben alt, viel älter als Du je wurdest, werden durftest oder werden musstest, es ist ein Jammer.
What objects are the fountains
Of thy happy strain?
Mit der Lerche im Herzen und dem Autoverkehr um mich herum stand ich vor dem protestantischen Friedhof in Rom, die Hände pathetisch ins Schmiedeeisen des Tores gekrallt, welches gerade zugegangen war. Nachmittags geschlossen. Lange hatte ich mich nicht so verloren gefühlt. Ich wendete mich schnell ab, die Pyramide gegenüber, die ein römischer Bürger sich vor über 2000 Jahren als letzten Schrei in der Begräbnismode geleistet hatte, half mir, den in mir aufsteigenden Heulkrampf zu unterdrücken.
Ich floh über die Straße. Dort stand neben Wohn- und Geschäftshäusern ein grauer Klotz, ich vermag mich nicht zu erinnern, ob es ein Verwaltungsgebäude war, eine Schule oder vielleicht eine geschlossene Bankfiliale. Vor diesem Gebäude gab es, durch eine Hecke vom Gehweg und der befahrenen Kreuzung abgetrennt, ein Mäuerchen. Das war der einsamste Ort, den ich ausmachen konnte. Und dort auf dem Mäuerchen, wo Du mich hast sitzenlassen, habe ich dann vor mich hingeweint, nicht laut, nicht krampfartig, sondern wie im Traum. Wie in einer anderen Existenz, die, und das ist das Furchtbare, möglicherweise meine eigentliche Existenz ist. Kinder, Mann, Beruf, alles Schall und Rauch, meine Essenz, mein Kern sitzt hinter einer Hecke auf einem Mäuerchen und heult.
Our sweetest songs are those that tell of saddest thought.
Man lebt nur momentweise. Ich finde es immer noch schwierig, mich daran zu gewöhnen. Von mir aus verspreche ich, es weiter zu versuchen. Aber dann versprich mir bitte auch etwas. Wenn es Dich noch irgendwie gibt, als lichten Geist, als Gespenst, als Zombie, mir egal – wenn ich mal sterbe, bitte hol mich ab. Sag wenigstens hallo. Sei einmal da, okay? Ich würde es wirklich zu schätzen wissen.
Teach me half the gladness
That thy brain must know
B.
(Berlin im Mai 2013)
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