Dichtertotenbriefe

Briefe an V wie Levin Varnhagen

Esther Dischereit schreibt an Levin Varnhagen

27.06.2013  Liebe R., liebe B., liebe M., obwohl – (Rahel ist einzig... aber das ist eine andere Debatte);

ich zeige Dir untenstehend meinen Brief an J. Ich habe ihn noch nicht abgeschickt und wahrscheinlich schicke ich ihn nicht ab. Es hilft mir, meine Gedanken wegen des Schreibens ordnen zu müssen, das Grübeln zu unterbrechen und zu versuchen, so lakonisch wie möglich zu fassen, worum es sich handelt. Ich bemerkte, dass es mir sehr, sehr schwer fiel, über diese persönlichsten Dinge zu schreiben, so als haftete ihnen weniger Endgültiges, Unwiderrufliches, Nicht-Zurückholbares an, wenn sie nur gedacht oder gesprochen würden. Der Text hat etwas Unerbittliches; etwas, was ich nicht hören oder lesen wollte. Also lies und sag nichts dazu – ich habe nicht weitergeschrieben, trotzdem will ich ihn Dir mitteilen – in jeder Beziehung ein Fragment.

Lieber J.,

kennst Du den Text „Laila und Majnun“? Du mußt ihn kennen. Er handelt von zweien, die füreinander bestimmt waren – ich muß das so pathetisch sagen – und die nicht zueinander kamen. Ich würde ihn gerne mit Dir zusammen lesen. Wie würde ich zu Dir sprechen, wenn ich Laila wäre – wir würden sagen: Hast Du die e-mail gelesen, bestimmt hast du meine e-mail gelesen, und ich würde den Grad deiner Zuneigung am Tempo ablesen, mit dem du antwortest – allerdings antwortest du nur gelegentlich, dann würde ich eine sms schreiben und was sagen? Ich schreibe keine sms, weil es zu kurz ist für mich, zu brutal, und es zu kompliziert ist, die Sonderzeichen einzufügen.

Ich habe überlegt, ob ich Dir einen Brief schreibe. Das könntest du aber auch mißverstehen, das ist ja so bedeutsam wie ein Verlobungsantrag oder zumindest die Stufe davor. Ich bin krank gewesen, du warst gekommen – mich hat das sehr gefreut. Muß ich zur Kenntnis nehmen, dass du deine Zuneigung auf mindestens zwei Frauen verteilst... das kannst du nicht. Also kannst du das nicht, also kannst du das nicht und kannst das nicht. Ich kann das...

Meine Liebe,

wahrscheinlich ahnt die Leserin, wie der Brief weitergehen könnte. Ich schickte früher einmal oder zweimal stattdessen eine Postkarte ab. Sie trug meinen Absender – und war vakat geblieben. Ich hatte gedacht, es sei klar, was auf der Vakat-Seite steht. Die Konkretion ist vollkommen unnütz, es genügte doch schon, die Farbe der Mitteilung zu sehen oder ein Gefühl der Verbindung zu teilen zwischen Adressat und Absenderin. Warum sollte ich mitteilen wollen, wie genau sie aussähe oder sich anhörte... eine Konkretion, die sich überholt, überlebt...

Ich schicke Dir Blau und trage Rot. Also schicke ich den Brief an J. nicht ab.

Ich will über etwas anderes sprechen. Einmal erwähntest Du den Hep-Hep-Aufstand und deshalb nehme ich an, dass Du auch den NSU-Prozeß beziehungsweise die Vorgänge, die dazu gehören, mit großer Aufmerksamkeit verfolgst oder verfolgen würdest und – mit Mitgefühl. Dieses elementare Mitgefühl, das ich bei Dir immer wieder bemerkte, muß damit zu tun haben, wie sehr es dir bewußt war, dass auch du zu denen gehörst, die täglich eingeträufeltes Gift in ihrer Porzellantasse trinken. Niemand hätte sein Eindringen verhindern können, und Du wußtest das und standest plaudernd und geistreich unter den Leuten und wußtest doch immer, wie schwarz Dein Haar und Deine Augen waren. Sie hatten Dich angemalt mit feinen Pinseln, nicht immer sichtbar, warst ihnen Leinwand und Farbe zugleich. Ach wäre ich doch nicht eine Jüdin je gewesen. Vor dem Gerichtssaal in München steht ein Neonazi und bekennt. Er wurde eingelassen, als ein Platz frei wurde. Sicher. Er muß eingelassen werden. Der türkische Botschafter war gekommen. Er konnte nicht passieren. Der Mann mit dem rasierten Kopf sitzt im Gerichtssaal. Die Eltern, Ehefrauen, Töchter und Söhne, Brüder, Schwestern, Tanten und Onkel der Getöteten sitzen im Gerichtssaal. Sie sehen den Neonazi, der ihnen nach dem Leben trachtet. Er steht jetzt den Angeklagten bei. Die Angehörigen wenden sich ab, schlagen die Augen nieder, damit sich ihre Seele nicht vergiftet.

Das Gericht wird ihnen keinen seelischen Beistand während der Verhandlungen zur Seite stellen. Für mehr als ein Jahr werden sie hier sitzen. Ich denke an den Eichmann-Prozeß und daran, wie Zeugen während und nach ihrer Aussage umfielen und weinten. Beim Frankfurter Auschwitz-Prozeß hatten Freiwillige für Begleitung und Betreuung hin und zurück zum Gerichtssaal gesorgt. Einer der Richter soll am Prozeß selbst zugrunde gegangen sein. Das ist wie mit den Wiedergutmachungs- oder Entschädigungsfällen. Niemand kann diese Biografien jahrelang lesen.

Ich kann das nicht vergleichen, ich will das nicht vergleichen. Und dennoch erinnere ich mich. Bei den Richtern jetzt scheint es nicht nötig zu befürchten, dass sie an dem, was sie erfahren, Schaden nehmen. Einer soll ohnehin in der Nähe der Burschenschaften angesiedelt sein und insgesamt war der Auftakt mit einem De-Facto-Ausschluß der Öffentlichkeit schon deutlich. Dieser Auftritt war vor allem eines: er war kalt. Die Gerechtigkeit hat einen Terminplan, sonst nichts.

Ich habe den Brief einige Tage liegengelassen; manchmal ist es besser, wenn die Gedanken über Nacht gelieren. Wenn nicht, dann sollen sie entschwinden, hatten keinen Bestand. Ich muß zugeben, dass ich das Wort „gelieren“ nicht gebrauchen kann, ohne an den Kindergarten meiner Tochter zu denken. Ich hatte zum Geburtstag Wackelpudding hergestellt in den Farben rot und grün. Weil die Rebbezin hinter mir zur Türe hereinkam – Tor ist wohl besser, der Mossad steht hier – wurde die Speise wie aussätzig in einem Winkel abgestellt, nicht ausgegeben, und ich führte anschließend Gespräche mit der Herstellerfirma darüber, wie sie mir die Verwendung von Algen zur Herstellung des Pulvers attestieren könnte. Es half natürlich nichts, weil der Geburtstag schon vorbei war und die jüdische Aufklärung wohl auch. Es hat mich sehr gefreut, dass Du die Moses Mendelssohn-Ausgabe einer Übersetzung des Pentateuch ins Deutsche subscribieren willst. In gewisser Beziehung gehört das noch immer zu unseren Aufgaben, bloß dass mir die Mittel fehlen. Weltweit müßte man Moses Mendelssohn subscribieren, wenn du verstehst, was ich meine – einen jüdischen Frühling könnte man dann erleben und im besten Fall auch einen islamischen. Aber das sind Gedanken, Hoffnungen so realistisch wie die Schaffung eines Zweistrom-Landes in Israel oder die Mendelsohnisierung des Heiligen Landes. Oder muß das jetzt Buberisierung heißen?

Die Ehefrau des Angeklagten Wohlleben hält seine Hand. Sie heißt Jacqueline. Für mich war jede Jacqueline Frau Kennedy, das paßt nicht, überhaupt nicht oder wie meine früh gestorbene Freundin, die wahrscheinlich einen französisch jüdischen Vater hatte, dessen Existenz die Mutter nicht mitteilte – bis sie dreißig Jahre alt geworden war. Da war sie am Schweigen schon erstickt. Das Nachkriegsschweigen, Post-Shoah-Schweigen...

Im Gerichtssaal kann es kein Recht geben, das ist eine trübe Aussicht für eine Veranstaltung, die mehr als ein Jahr dauern wird und die Angehörigen wie auch die Menschen, die noch immer aufklären wollen, wie in einem Sarg bindet und mitnimmt über Sommer, Herbst und Winter hinweg. Andererseits kann man nicht wissen, was noch zutage gefördert werden wird. Auch haben in einigen Bundesländern Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit noch nicht beendet.

Merkwürdigerweise führe ich in diesem Zusammenhang mit vielen Menschen Gespräche, die sich um ein Kostüm drehen. Ja. Ein Kostüm. Es beschäftigt die Leute, dass die Angeklagte aussieht wie die Chefstewardess bei Lufthansa oder eine Kauffrau im Transit. Wie sollte sie eigentlich aussehen? Mit Sonnenschutzkopftuch von der Ostsee? In Sträflingskleidung? Wie die Mutter von Herrn Böhnhardt? Aus einem Grunde denke ich an Ilse Koch, die Frau des Sachsenhausen-KZ-Kommandanten. Zschäpe eignet sich nicht für Projektionen; wahrscheinlich ist sie ein verschlagenes Luder ohne Rechts- oder Unrechtsbewußtsein. Ja, sie hat auch selbst geschlagen. Katharina König sagt das in einem Interview. Ob sie eine Mörderin oder Mittäterin ist, soll das Gericht entscheiden.

Es herrscht ein hohes Bedürfnis, in den Angeklagten – und den Tätern, die verbrannt sind – d i e  Täter zu sehen, diejenigen, die alle zehn Morde verübten. Ich wollte, ich könnte daran glauben. Ich glaube daran nicht. Ich schreibe ja auch, Täter, die verbrannt sind. Woher weiß jemand, dass sich die beiden selbst verbrannt hätten?

Zu merkwürdig sind die verschiedenen Umstände und Tathergänge. Hast Du schon mal von The Aryan Brotherhood gehört? Mehr will ich nicht dazu schreiben.

Kann man denn ausschließen, dass auch Frau Zschäpe bezahlt wurde? Ich kann es nicht ausschließen. Wahrscheinlich kann man mittlerweile sagen, ohne den Geheimdienst hätte es die Morde nicht gegeben. Ich weiß, es ist ungeheuerlich, was ich schreibe. Ja, ich denke das.

Diese Staat-im-Staat-Gilde legt noch nicht einmal jetzt die Vorgänge offen – weder vor Gericht noch vor den Untersuchungsausschüssen. Sie hebeln die Legislative aus, und die Ministerpräsidenten sind ihre Schutzpatrone. Sie werden gewählt, die anderen sitzen es aus. Alles abgearbeitet und der letzte macht das Licht aus. Wie haben Röver und Konsorten die Kinder gehaßt, Kinder mit roten und grünen Haaren und waren sich nicht zu blöde, sie mit den rechten Kriminellen auf eine Stufe zu stellen! Links gleich Rechts lautet die Botschaft ihres Films für die Schulen, nur mit dem Unterschied, dass sie links die Gesinnung verfolgten und rechts die Straftaten übersahen. Jahrzehntelang. Warum wird eigentlich niemand verhaftet? Und warum ist der Schredder-Innenminister noch im Amt, nachdem seine Akten taggenau verschwanden?

Ich komme noch einmal zurück zu deiner Begeisterung für Moses Mendelssohn. Ich schicke dir mein Gedicht „Jüdische Renaissance“. Es gehört – denke ich – hierhin, in diesen Diskurs. Es macht mich noch immer betroffen, wie ich einmal das Werk eines Freundes, eines Malers ansah, der unter dem Titel „Ketten der Aufklärung“ Moses Mendelssohn malte, wie er als Hofhund angekettet war am preußischen Thron. Wie unrecht tat er diesem Genie, der selbst unendliche Male gedemütigt als Jude, diskriminiert, nicht zugelassen in der Akademie der Wissenschaften, weiterschreibt und denkt und sich nicht beirren läßt.

Es gibt offenbar ein Bedürfnis danach, das Disparate im gegenwärtigen Judentum ursächlich bei der jüdischen Aufklärung zu vermuten. Es bleibt anhaltend schwer, in der Existenz der Judentümer zu leben. Dich hat das begreiflicherweise – wie mir scheint – nicht so bewegt. Für Dich war es klar, dass die Vernunft, die Wissenschaften die Güter sind, die du hochschätztest und dir einen Weg verhießen in eine universale Gesellschaft. Ich weiß gar nicht, ob ich noch träume, und sicher nicht von Wissenschaft, Universalismus und Vernunft.

Ich träume so kleine Dinge wie das Aufstehen eines Mannes neulich nach der Rede über den Prozeß. Er überreichte seine Visitenkarte, sagte, ich bin Psychologe, verfügen Sie über mich, ich kann die Angehörigen unentgeltlich begleiten.

Das kann sich nicht messen mit Deinem ungeheuren und selbstverständlichen Anpacken, als es galt, die Verwundeten zu versorgen, Medizin zu organisieren, Geld für die Weiterreise und vieles mehr. Trotzdem war es eine gute und tröstliche Geste.

Einer von „Ärzte ohne Grenzen“ hat es gerade eben noch zurückgeschafft aus Syrien über die Grenze in die Türkei. Die Türkei hatte ihre Grenzen schon geschlossen, aber jemand schleppte den Mann und einen Begleiter. Jetzt sind sie wohlbehalten wieder in Frankfurt am Main. Ich atmete auf. Sie haben wichtiges Material mitgebracht.

Ich will das Gedicht vorlesen und denke gleichzeitig, dass es vielleicht eine Zumutung für Dich sein mag. Diese innerjüdische Selbstvergewisserung ist einerseits wohl älter als wir alle, aber andererseits auch ein Bedürfnis danach, sich in einer Welt zu verständigen, deren Straßen und Plätze leer sind und noch nicht einmal mehr nach der Vergangenheit riechen. Die Vergangenheit hat geputzte Goldzähne und ist im öffentlich rechtlichen Boden vor der Haustür eingelassen, in Pflastersteingröße. Jetzt sind sie kleine Mahnmale, jedem Haus sein Mahnmal, jeder Stadt sein Mahnmal, jedem Herzen ein Bekennerschreiben. In einem Dorf bei Freiburg sind jetzt die Straßen mit Mahnmalen übersät, sodaß die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner nicht wissen, wo sie die Füße aufsetzen sollen. Es gibt keinen Zwischenraum. Sie müssen darauftreten. Fast die Hälfte des Ortes waren Juden gewesen. Das haben sie zu spät überlegt. Der Auftrag war schon erteilt.

Ich habe es mir anders überlegt, obwohl Du wahrscheinlich mit den folgenden Zeilen d`accord gehen würdest:

„Will meine Glauben /
wieder haben und dich /
beschützen vor der Kälte /
der Vernunft ---
Nimm die Hand gegen die Kälte /
und reibe sie mit mir“.

Das stammt aus meinem Gedichtband „Als mir mein Golem öffnete“. Kann sein, Du würdest eher der Sache mit den Mespochen folgen:

Chabibi /
mein waibele /
schütze dich /
wenn du triffst /
einen goj /
der mag dich nicht /
schütze dich /
wenn du triffst /
einen goj /
der mag dich
schütze dich /
wenn du triffst /
einen jiden /
der riecht dich/
tanzen Chassiden /
In dein Herz
Keine Mesuse/
An deiner Tür/
Mespochen /
schneiden
dein Haar /
dass es mit dem dibbuk /
tanze

(Als mir mein Golem öffnete). Damit und mit Deinem Werk kommen wir in der Posen Library unter – das ist ein ungeheures Werk. Ein Buch, das unser Museum ist.

Du siehst, ich bin unsicher. Man muß als Jüdin nicht dauernd über etwas Jüdisches sprechen; wie man auch nicht unentwegt als Frau sprechen oder schreiben muß. Das kann man nur schwer aushalten. Und so vermute ich, dass uns Schreibmaschine und Federkiel am meisten verbinden. Ich hatte schon als Kind eine Manie mit Federkielen, hielt Ausschau nach weißen Schwänen, damit ich hinlaufen könnte dorthin, wo sie eine ihrer prächtigen Federn verloren hätten. Ich sammelte sie auf, spitzte sie an und tunkte sie in schwarze Tinte. Manchmal färbte ich die Feder blau.

„Die Zimmer sind unsere Länder /
ich spreche Deutsch mit meiner Schreibmaschine /
einen Fetzen an den Rand /
das Zimmer ist mein Land.“

Mond und Blau
Als der Mond heiß wird
verliere ich meine Schuhe
Die Augen laufen mir fort
leise rascheln die Laken
Auf blauem Grund mit grünen
Blumen
ertrinke ich.
Staub legte sich auf mein Haar.

Lieben Gruß

Esther

P.S. Vom Bürgertum bleiben wir geduldet. Die Kollektivschuldthese zwingt einen vorsichtigen Umgang mit uns auf.

Ihr nicht gelebtes Leben soll in mir leben. Eine berühmte, intellektuelle Frau, die sich mit Größen aus Politik und Wirtschaft unterhalten würde. Selbstverständlich gibt es für solch ein Leben keine Berufsfindung, schon gar keinen Ausbildungsgang. Das ist die Bildung der Varnhagen und Henriette Herz. (Aus: Esther Dischereit „Joemis Tisch – Eine jüdische Geschichte. S. 42, Frankfurt am Main, 1988).

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