Briefe an H wie Heise
Klingenberg, 21.08.2014
„Ich glaube nicht, daß es im Literaturbetrieb so etwas wie eine Mafia gibt. Ich vermute jedoch: es gibt, ganz wie im wirklichen Leben, mehrere Mafia-Familien, die sich untereinander teilweise aufs heftigste befehden, dabei aber irgendwie vernetzt sind – auf undurchschaubare Weise.“
Hans-Jürgen Heise (1993)
Lieber Heise,
In der Zeit, als Sie zu fixpoetry stießen und wir zusammen das Brieftaubenheft machten, telefonierten wir häufig. Die Tatsache, daß ich Schicht arbeitete, verkomplizierte selbst ein Zusammenkommen am Telefon und es brauchte oft einige Versuche, bis wir uns fanden. Ich erinnere den Sonntag als traditionellen Tag für „das Telefonat mit Heise“. Es gab gewisse Sendezeiten (Tagesschau), zu denen man nicht mit einem Anruf rechnen konnte. Und ich erinnere, an Sommernachmittagen im immernoch abgedunkelten Schlafzimmer zu liegen und Ihnen zuzuhören. Oft lag ich in Unterhosen auf dem Bett und durch die Jalousie gitterten Lichtlinien weiß herein. Die Luft auf der Haut fühlte sich körnig an und blieb farblos und ich wußte nicht, was mir geschieht.
Ich begriff, daß es um Sie ging (und schließlich ging es wirklich um ihr Buch), und nur ab und an um mich, was völlig in Ordnung war: Verleger wirken im Hintergrund, sie schaffen ihn eigentlich erst. Ein bißchen will ich das heute mit diesem Brief umdrehen. Damals gab ich den geduldigen Zuhörer, den Jüngeren, der sich berichten läßt, was ein Älterer zu berichtigen hat, und selbst wenn mein Kopf ausgetrocknet war durch einen viel zu kurzen Schlaf (nach der Nachtschicht) und gar nicht alles fassen konnte und eigentlich weg wollte, irgendwohin, ins Wasser, in den Kirschbaum, aufs Rad und davon, blieb ich doch im Hintergrund, etwas wie ein Zuhörhund.
Ich roch die Verbitterungen heraus und das Saure, etwas, das Sie zeitlebens begleitet hat, weil es Ihnen vielfach szenisch zugewachsen war, dem „Empfindungslyriker“, der darauf bestand, daß alle Aspekte des Menschseins in ein Gedicht mit einfließen dürfen. Sie verteidigten eine Art Lyrik, die den Alltag bereichern konnte, ohne daß sie sich selber zum Alltag machen mußte. „Womöglich hat mein Fischhändler eine seelisch-geistige Disposition, die meiner eigenen viel mehr ähnelt als die eines honorigen Lyrikerkollegen.“ (Heise, 1984).
So lebensverpflichtet und pronormal das klingt und so ausladend wir solche Auffassungen am Telefon diskutierten, ich empfand Sie selbst sehr oft als weit weg, und wenn ich mit Ihnen sprach, sprach ich zu Ihnen wie aus einem Kasten, von dem ich nichts wußte, zu Ihnen vor, zu Ihnen hin, aus etwas heraus, das Sie mir zugedacht hatten. Sie schienen so an Widerspruch und Feindschaft, an Positionskampf gewohnt, daß Mißtrauen ihr natürlichster, erster Zugang geworden war. Ich bemühte mich, Ihr Verleger zu sein und gleichzeitig Fischhändler, aber es gab eine Lade und ich kam selten raus mit den Dingen, die mich enthielten. Wichtiger und richtiger war Ihnen anderes – ich begriff, daß da etwas aufzuholen war, einzuholen, von weit her zu holen: ein spätes Ja, das die Zwangsanker löst.
Ich roch auch schon den Tod, er war da und schon beachtet, mit ins Kalkül gezogen. Vom verkauften Vorlass war die Rede und es war zu spüren, daß Sie eine gewisse Ordnung haben wollten, die ihr Werk aufhebt. Sie waren beschäftigt den Wert des eigenen Lebens nochmals nachzumessen und in die Regale zu buchstabieren.
Ich hörte Ihnen zu und begriff sie als einen Herausgefallenen.
Und darin ähnelten wir uns. Auch ich war dabei herauszufallen, bloß merkte ich es nicht, weil ich Halt sowieso nicht kannte, und das, woraus ich fallen sollte, auch nicht. Es gab verschiedene lyrische Cliquen und in keine schien ich zu passen, ich fiel also schon mal gar nicht hinein. Ich hatte seinerzeit durch die website viele Kontakte, aber ich mußte unabhängig sein und blieb im Prinzip unvernetzt. Auch mein erster „Verleger“, ein Lyrik-Enthusiast, der für das Jahrzehnt davor so ziemlich meinen einzigen literarischen Kontakt gebildet hatte, kam mir als Knotenpunkt abhanden, als ich ihn überraschend auf einer Lesung traf und er nicht auf mein Kommen vorbereitet war. Überraschte Menschen fühlen sich oft enttarnt, entblößt und treiben nervös weg. Auf diese Weise verlor ich ihn und ich gab mir keine Mühe, ihn nicht zu verlieren.
Sie erzählten mir von der Gruppe 47, Ihrem Auftritt im schwedischen Sigtuna und wie Sie herausfielen aus der diskutablen Menge, wie die Ihnen eigene Schwerkraft des Gefühls Sie ungeeignet erscheinen ließ für souveräne Bewegungen im kybernetischen Innovationstraum. Nach fünfzehn von fünfundzwanzig Minuten Lesezeit war Schluß, Hans Werner Richter schnitt Ihnen das Wort ab: „Ich glaube, wir haben genug gehört“ und ermunterte die Umsitzenden zu einem zugerufenen Credo, Heise habe keine Ahnung von Lyrik. Dort zu sitzen und das Hereinprasseln von negativen Urteilen zu ertragen, war nicht Ihr Ding, also pfefferten sie eine Antwort in die Kulisse: „Nein. Aber ich würde es gern von Ihnen erfahren.“ – was natürlich falsch und ungehörig war – es gehörte zu den Grundsätzen der Gruppe, Kritik wortlos entgegenzunehmen. Also gingen Sie mit einer Rüge und auf die Knochen entmutigt durch den Rest des Tages, während Ihnen ein paar Hintergründler noch positive Signale zusteckten wie Streichholzbriefe.
Der Antwortsatz war in vielerlei Hinsicht falsch. Sein Gesagtsein, aber auch das darin Gesagte (was hauptsächlich aus Ungesagtem, nämlich Trotz und Stirn bestand). Hätte er um ein einziges Wort anders gelautet, wären Sie wohl als Sieger aus dem Ring gegangen: „Nein. Aber ich würde es gern von mir erfahren.“ So gesagt, daß er als Begründung für das eigene Schreiben hätte gelten können: ich schreibe, weil ich etwas über das Schreiben erfahren, weil ich etwas entdecken möchte, das sich nur im Akt des Schreibens zeigt und finden läßt.
Ich erinnere nicht alle Geschichten. Sie nannten Namen. Sie sagten, diese und jene Personen hätten in der Lyrikwelt Einfluß und (oft verborgene) Bedeutsamkeit und würden diese Karten auch spielen. Ich verstand immer mehr und sollte verstehen, daß nicht ausschließlich Gedichte darüber entscheiden, wer im Literaturbetrieb ankommt. Es kommt auch darauf an, wer wen kennt und wer mit wem kann.
Das war genau das, was ich als schreibender Chemiearbeiter weder zu hören, noch zu verstehen wünschte. Ich wollte, daß die Welt der Literatur eine intakte, ehrenhafte, wahrhaftige ist, eine kreativ leichtsinnige und konstruktiv tiefsinnige, prinzipiell faire Welt, die begeistert und Begeisterung teilt, weil sie ihr Wesen aus Geist geriert. Aber Sie bestanden darauf, immer wieder von einem Literaturbetrieb zu erzählen, der bewußt ausgrenzt und bewußt Besitztümer schützt.
Womöglich gab es das, ausführlich und meinetwegen mafiös bis in die Unterhose, aber ich wollte nicht glauben, daß das Gedicht an sich, also den Teil, den man als Dichter ins Freie stellt und mit dem man den Wettbewerb unterhält, oftmals nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Schon zu der Zeit unserer Telefonate hatte ich für mich beschlossen keinem Betrieb anzugehören, und ich glaube, das war kein ganz freiwilliger und auch kein mannhaft mutiger Beschluß, sondern ein Trick. Es war ein Rückzug vor dem Rückzug, noch bevor ich irgendwohin geprescht und literarisch irgendetwas gewagt hatte. Es gab zwar vereinzelte betriebliche Wortmeldungen, die dann aber doch eher in Schubladen verhallten oder zu Prangerpraktiken mißbraucht wurden – so richtig versucht, irgendwo anders anzukommen als in den insularen Freiräumen, wie sie mir fixpoetry verschaffte, hatte ich nie.
Außerdem verstehe ich mich nicht auf kluge Mails.
Es galt von allem ein bißchen: erst hielt ich mich für zu schlecht, dann für ungeeignet (weil nicht studiert genug und nicht mit den Codes vertraut). Schließlich begründete ich mir meine eigene „Nichtzugehörigkeit zum Betrieb“ mit der Absicht, mich um das Wesentliche zu kümmern / kümmern zu müssen. Das klingt groß, und wahrscheinlich steckt auch keine Kleinigkeit dahinter, sondern Zeit, die man nicht hat. Es geht ganz simpel auch um Haushalten, Einteilen, Kräftesparen und Raumbehauptung, weil betriebliche Kommunikation wirklich frisst, jedenfalls dem ein Graus ist, der sich „die Zeit für Literatur“ dem Alltag absparen muß.
Hinter meinem innerlichen Rückzug mag auch eine Resignation stecken, die vorsichtshalber, im Vorgriff sozusagen, eine späterhin womöglich von der betrieblichen Realität dann gültig diktierte vermeiden möchte, denn die erstere ist weniger schmerzhaft und hält die Türen zum Schreiben offen. Der Gescheiterte rennt mit dem Stigma des Scheiterns herum, während der Feige auf vermeintlich kluge Weise noch immer zu den Nicht-Gescheiterten gehört. Dieses taktierende Hintendranbleiben ist ein nicht selten anzutreffender Verhaltenszug aktiv Schreibender: bloß nichts wirklich Unerhörtes, Gewagtes laut und selbstbewußt tun – lieber etwas nachweislich Korrektes bis bekanntermaßen Aufregendes in angemessenem Ton rüberreichen mit etwas Olive dabei.
Lieber Heise, ich wollte ihre Bitterkeit und ihren Schmerz verstehen, aber eigentlich waren Sie ein schon Gestorbener und ich sollte ihre Tode verstehen. Und wie Sie ihnen erlegen waren. Und wie Sie aus ihnen immer wieder auferstehen konnten mit ihren Gedichten.
Die Auferstehung war mein Thema.
Daß man aufsteht, wenn man schreibt, und sich zeigt.
Für das andere, das Thema Betrieb, war ich der verkehrte.
Ich lebte auf einer Insel und lebe noch dort. Die Insel ist in meinem Kopf und erlaubt mir rundum zu schwimmen. Da gibt es einen sehr anarchischen Spaß am Nacktbaden und keine Scheu vor falscher Technik, das Wasser spritzt vom infantilen Planschen, und trotzdem wagt man sich weit hinaus. Sehr wahrscheinlich gibt es Haie, die in mir ‘ne Robbe sehen und Leute am Strand, denen ich affig daherkomme. Wovon ich nichts mitbekomme, wenn ich mich fallen lasse – ins Wasser.
Herzlich
Ihr Frank Milautzcki
Fixpoetry 2014
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