Frage an Radio Jerewan
Neulich wurde ich zu einem Poesiefestival nach Bergkarabakh eingeladen. Wilhelm Bartsch ebenfalls. Zwei aus Sachsen-Anhalt würden dort die deutsche Dichtung repräsentieren. Ein vermutlich einmaliger historischer Vorgang. Doch dann fiel mir ein, daß Anfang der Neunziger zwischen Armenien und Aserbaidschan um genau jene autonome Region, in die ich jetzt reisen sollte, ein Bürgerkrieg tobte. Warum lädt man mich nicht zu einem Poesiefestival nach Berlin ein? Als ich meiner Mutter sagte, ich fliege nach Jerewan, dachte sie gleich an die berühmten Witze „Frage an Radio Jerewan“. Als nächstes dachte sie, ob ihr Sohn diese Reise überleben wird? Mütter erreichen mit ihren Sorgen meist, daß ihre Söhne diese Sorgen am Ende teilen. Beim Landeanflug hatte ich nämlich nur eine Frage: „Gibt es in Jerewan eine sichere Landebahn.“ Antwort: „Im Prinzip ja. Sobald die grasenden Kühe verschwunden sind.“ Das ist natürlich ein völlig falsches Bild von Armenien. Kühe laufen dort über Straßen und Autobahnen, nicht jedoch über Landebahnen. Das ist ihnen strengstens untersagt. Sobald der Flieger stand, erklang beruhigende Walzermusik aus den Bordboxen. Austrian Airlines wünschte uns eine sichere Weiterreise. Wieso wünschten sie uns das jetzt? Besteht etwa die Möglichkeit, daß die Weiterreise nicht sicher sein könnte? Ich hatte wenig Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich hielt meinen jungfräulichen Reisepaß in der Hand, der gleich sein erstes Visum empfangen sollte. Ein Polizist, dessen Uniform von sowjetischer Militärmode geprägt war – in seiner Tellermütze hätte er das Mittagessen für eine armenische Großfamilie servieren können –, fertigte es aus. Wäre auch noch sein Verhalten sowjetisch geprägt gewesen, hätte ich an dieser Stelle mehr zu erzählen gehabt. Am Ausgang erwartete uns Vahram. Als offizielle Gäste der Writers Union of Armenia würde er uns die ganze Zeit fahren und um unser geistiges wie auch leibliches Wohl unermüdlich Sorge tragen. Im Parkhaus standen sehr viele alte Ladas herum. Doch wir nahmen in einer Mercedes S-Klasse Platz. So fahren Dichter in Armenien! In Deutschland wäre ein Fiat-Punto schon Luxus für Leute, die Gedichte schreiben. Vergebens suchte ich allerdings den Stecker für meinen Gurt. Das beunruhigte mich. Vahram sagte, Gurtpflicht bestehe nur für die Vordersitze. Damit man gar nicht erst versuchte, sich hinten anzuschnallen, hatte er wohl die Einstecker für die Gurte vorsichtshalber entfernt. Soviel Freiheit war ich überhaupt nicht mehr gewöhnt. Vom deutschen Recht auf Anschnallen konditioniert, hatte ich die ganze Zeit gegen den Anschnallreflex zu kämpfen, die Bilder von Verkehrsvideos im Kopf, in denen unangeschnallte Dummys durch die Windschutzscheibe fliegen.
Quelle: Wikipedia
Jerewan ist, man muß es sagen, keine schöne Stadt. Es fehlt ein historischer Altstadtkern. Schuld daran sind Katastrophen wie Erdbeben und die sozialistische Baukunst. Hinter dem sowjetischen Beton und den überall hochschießenden Neubauten kann man aber noch dörfliche Strukturen entdecken. Schiefe Häuschen aus Feldsteinen, Stroh und Lehm. Hühner, unterernährte Katzen und Müll. Dem aufgestylten Jerewan waren diese Ecken eher peinlich, die ich wie ein indiskreter Paparazo fotografierte, bevor auch hier die Bulldozer ihre Kosmetik durchführen. Vahram und Hermine - sie war ebenfalls Lyrikerin und unsere Übersetzerin - zeigten uns die schönen Seiten von Jerewan und Umgebung. Das Paradschanov-Museum, die Ruine von Zvarthnots’ und natürlich Edschmiatsin, wo das Oberhaupt der armenischen Kirche, der Katholikos, seinen Sitz hat. In den Kirchen war immer Betrieb. Sobald wir eine betraten, bekreuzigten sich die beiden mehrmals. Unter den deutschen Literaten würde das so exzessiv nur noch Martin Mosebach tun. Dann kauften sie einen Schwung dünner gelber Kerzen, von denen sie uns jeweils drei oder vier in die Hände drückten. Seitlich standen rechteckige, mit Sand und Wasser gefühlte Becken für diese, ich nenne sie mal Andachtskerzen. Es schien, als sollte ich alle in meinem atheistischen Leben bisher unangezündeten Andachtskerzen hier nachholend entzünden müssen. So andächtig wie möglich hielt ich den Docht an die Flamme, eine für Nietzsche, eine für Sartre und auch eine für meine katholische Freundin. Die mich umgebenden Frauen hatten sich ein seidenes Tuch auf den Kopf gelegt und sahen mit ihren nach oben gedrehten Augäpfeln so aus, als wollten sie einer raffaelitischen Madonna Konkurrenz machen. Vor den armenischen Tischgelagen hatte ich allerdings noch mehr Angst. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ein alkoholabstinenter Veganer, der überdies Nichtraucher ist, die armenische Gastfreundschaft überleben wollte. Die Nationalspeise ist Chorovats, eine Art Schaschlik, ohne Gemüse, aber aus großen Stücken gegrillten Schweinefleischs, an denen noch ordentlich Fett und Knochen dran sind.
So ein Abendessen hatte mindestens zwei fleischreiche Gänge. Vahram sagte immer wieder: Christian, eat and drink. Obwohl ich doch die ganze Zeit aß und trank. Schon nach dem ersten Tag fühlte ich mich völlig hartleibig. Levon, der Chef der armenischen Schriftsteller und oberster Gastgeber, sagte: Christian, you eat like a baby. Er meinte wohl das Baby des Tyrannosaurus Rex. Zum Glück raucht man hier auch während des Essens, und kommt der Aschenbecher nicht rasch genug, ascht man auf den Vorspeisenteller. Während man raucht, kriegt man nichts auf den Teller gelegt. Rauchen ist somit eine gesundheitsförderliche Maßnahme. Das Trinken am Tisch bekommt durch den Tamada, diese Funktion übernimmt meist der Gastgeber, etwas fröhlich Formelles. Levon leitete durch den Abend mit seinen Trinksprüchen auf die Schönheit Armeniens, auf die Größe seiner Dichter, auf die Exzellenz seiner Gäste. Immer wieder wurde auf Willi angestoßen als dem größten Dichter von Sachsen-Anhalt, und mir wurde wodkafeucht versichert, der meisttalentierte Nachwuchs von Sachsen-Anhalt zu sein. Ich erhob das Glas auf mich, man will ja nicht unhöflich sein. Schließlich wurde ich von Levon dazu aufgefordert, nachdem bereits der meisttalentierteste georgische Nachwuchslyriker ein Lied geschmettert hatte, nun ebenfalls ein Lied aus meiner Heimat zu singen. Hier rächte sich, wie wenig textsicher ich im deutschen und überhaupt in jeglichem Liedgut bin. Es ist eigentlich nur dem armenischen Cognac zu verdanken, daß ich die erste Strophe vom Heideröslein zusammengekriegt habe. Und Willi mußte mir dabei auch noch helfen. Was die Komplimente anbelangt, so sind sie mit der gleichen Vorsicht zu genießen wie Wodka. Levon sagte zu mir, ein Toast auf Vahram, er sei genauso talentiert wie ich. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden gewesen, wenn ich nicht von Vahram selbst erfahren hätte, daß er überhaupt nicht schreibt. Seine Aufgabe in der Writers Union of Armenia besteht im Wesentlichen darin, Levon und seine Gäste durch Armenien zu fahren. Aber ich gehe mal davon aus, daß Levon nur gemeint haben wird, schließlich soll die deutsch-armenische Freundschaft jetzt nicht ins Stocken geraten, ich sei fürs Schreiben so talentiert wie Vahram fürs Autofahren. Denn ich kann es wirklich nur bestätigen, Vahram ist ein wahrhaftiger Goethe unter den armenischen Wagenlenkern.
Die Krönung des Jerewanaufenthalts war der Besuch von Tsitsernakaberd, der Genozidgedenkstädte. Unsere Gastgeber kauften diesmal keine Kerzen für uns, sondern weiße Nelken am Straßenrand. Ästhetisch sind Gedenkstätten selten. Diese erinnerte an eine Raketenabschußstation. Mit drei Nelken in der Hand näherten wir uns auf einem breiten Plattenweg der himmelgreifenden Steinanlage. In der Mitte brannte die ewige Flamme, im Kreis drum herum lagen rote und weiße Nelken. Wir legten unsere Nelken dazu. An Gedenkstätten fühle ich mich immer so unaufrichtig. Egal wie schlimm das Leid gewesen sein mag, dem dort gedacht werden soll, ich dachte daran, ob mein Gesichtsausdruck halbwegs gedenkstädtentauglich ist. Am Beginn des Plattenwegs stand eine Reihe von Nadelbäumen, die von Gästen wie dem Papst oder Sarkozy als Zeichen ihrer Anteilnahme gepflanzt worden sind. Die Bäume waren noch ziemlich klein, sodaß es wie eine Weihnachtsbaumplantage aussah. Plötzlich spürte ich etwas Weiches unter meinem Schuh. Es war Hundekacke. Womöglich die einzige Hundekacke hier oben weit und breit. Ich lief zwischen den Gedenktannen umher und versuchte, so unauffällig wie möglich die Kacke von meinen Schuhen zu streifen, bevor wir gleich das Genozidmuseum betraten, wo die Verbrechen der Jungtürken an den Armeniern dargestellt wurden. Mir schien, daß Vahram schon mißtrauisch zu mir herübersah. Zum Glück wurde er abgelenkt von einer behaarten Wolfsspinne, die gerade über den Plattenweg flitzte. Vahram sagte, die sei bestimmt türkisch. Er grinste dabei und meinte es komisch, aber irgendwie meinte er es auch ernst. Ich hätte ihm jetzt von dieser türkischen Töle erzählen können, die hier oben rumläuft und aufs Genoziddenkmal kackt. Aber mir schien, die armenisch-türkische Diplomatie ist noch nicht im Stande der Ironie angelangt. Am Horizont schwieg weise der Ararat.
Foto: Ararat Quelle: Wikipdedia
Auf dem Weg nach Karabach kamen wir durch den Heimatort des Dichters Sevak. Auf seinem einstigen Grundstück war ein Museum errichtet worden. Über die gesamte Wand des Museums prangte ein Wandgemälde, das den Lebensweg dieses Mannes wie eine Heiligenlegende darstellte. Zwei Legenden ranken sich um seinen Unfalltod. Die eine, sein Wagen wurde von KGB-Leuten manipuliert, die andere, etwas freudvollere Variante, seine Begleiterin hatte ihm während der Fahrt einen trompetet. Das war allerdings nicht auf dem Wandgemälde zu sehen.
Über Serpentinen kreiselten wir langsam weiter nach Karabach hinüber. LKWs russischer Fabrikation krochen vor uns her. Es wurde finster und neblig. Ich kaute Reisetabletten und hatte feuchte Finger. Wenn uns azerische Freischärler entführen, dann sage ich: Nehmt Willi, der ist in Sachsen-Anhalt noch berühmter als ich. Um Willi muß man sich keine Sorgen machen. Er ist so mitteilungsbedürftig, daß er ununterbrochen aus dem Fundus seines Wissens erzählen wird, bis sie ihn freiwillig laufen lassen. Die Nacht verbrachten wir in Shuschi. Der Morgen enthüllte die Tragik dieses Orts. Eine kaputte Moschee und die leeren, zerschossenen Wohnhäuser der Aserbaidschaner. Anfang des 20. Jahrhunderts war Shushi eine prosperierende Stadt von vierzigtausend Einwohnern. 1920 wurden über zwanzigtausend armenische Bewohner von Türken und Aserbaidschanern umgebracht und vertrieben. 1992 wurden wiederum die Aserbaidschaner von den Armeniern vertrieben. Jetzt leben hier noch knapp viertausend Menschen. Ich schlug Ossip Mandelstamms Reisebuch „Armenien, Armenien“ auf, blätterte darin bis ich das Gedicht „Der Kutscher“ fand mit den Zeilen: In Schuschà, der Stadt der Räuber,/ in Nagorny Karabach,/ Sah die Spur ich alter Gräuel,/ Hab ich Seelenangst gehabt// Vierzigtausend tote Fenster/ Haben mich da angeschaut,/ Seelenloser Kokon dessen,/ Was einst Menschenhand gebaut. Als wir nach Stepanakert hinunterfuhren, sahen wir oberhalb der Straße einen Panzer, dessen Kanone auf Shushi zeigte, es war das Befreiungsdenkmal. Levon schlug vor, dort ein Foto mit uns zu machen. Der kleine Junge in mir kriegte sich plötzlich vor Panzerbegeisterung gar nicht mehr ein. Ich mußte meine humanistischen Ressourcen zusammenkratzen, um nicht noch auf den Panzer zu klettern. Das Poesiefestival von Karabach, bzw. Artsakh wie die Armenier sagen, fand im Palast der Jugend statt. Ich fühlte mich in eine Zeitmaschine gesetzt. Willkommen beim achten Parteitag der SED. Der große Saal war mit abkommandierten Studenten voll. Eine zackige Kulturbevollmächtigte, die in ein übersteuertes Mikro skandierte, rief uns einzeln auf. Unter Dauerapplaus betraten wir die Bühne, wo Stühle im Halbkreis standen, auf die wir uns setzten. Die Stühle standen sehr eng. Ich saß eingeklemmt zwischen Willi und einem verdienten Silberrücken der armenischen Dichtung. Sogar einige wenige Dichterinnen durften hier vorne Platz nehmen. Dann trugen alle der Reihe nach ein oder mehrere Gedichte vor. Je älter und männlicher, desto mehr Gedichte. Im Gedicht eines Lyrikers, der als Offizier russischer Sondertruppen auf armenischer Seite gekämpft hatte, stach wie die Spitze eines Paradesäbels in jeder zweiten Zeile das Wort „Artsakh“ heraus. Das Cover seines Lyrikbandes zeigte ihn selbst, in Uniform und mit Orden geschmückt. Doch, es gab sie trotzdem, die klugen und sensiblen Lyriker, ob aus Armenien und Karabach, dem Libanon, Georgien oder Rußland. Sie trugen ihre Gedichte viel leiser vor, akzentuierter und geistreicher. Aber wo waren die türkischen und aserbaidschanischen Dichter? Waren sie nicht eingeladen worden oder wollten oder durften sie nicht kommen? Zum Schluß bekam jeder eine Urkunde für die „aktive Teilnahme am Internationalen Poesiefestival ‚Herold des Friedens’“ überreicht.
Am letzten Tag in Karabach, wir saßen in einem Straßencafé von Stepanarkert, tranken Bier der Marke Ararat, und als Willi für einen Moment verschwand um sich die Hände zu waschen beziehungsweise um ein paar Blumen zu pflücken (wie man in Armenien zu umschreiben pflegt), fragte mich Levon, er guckte mir dabei tief in die Augen, ob ich, wenn ich wieder in Deutschland bin, die Wahrheit über dieses Land mitteilen werde. Und ich sagte, natürlich, was denn sonst.
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