Meine Fußballbegeisterung
Warum schaue ich eigentlich die Fußball-EM? Würde ein Schwein zusehen wollen, wie man Leberwurst macht oder ein Denkmalschützer, wenn der Kölner Dom gesprengt wird? Zu meiner Schulzeit mußten wir am Ende des Sportunterrichts immer zehn Minuten Fußball spielen. Spielen ist vielleicht das falsche Wort. Es ging ums Vernichten, Demütigen und Zerstören. Die Klasse 7a gegen 7b. Normalerweise wurde ich bei Mannschaftssportarten aussortiert, bei diesem Spiel brauchte man jedoch jeden Mann. Ich diente, da ich keinerlei Ballgefühl besaß, als Verteidiger. Mein Schulfreund Thomas ebenso. Wir waren das allerletzte Aufgebot vor dem Tor. Unfähig, aber entschlossen. Kam der gegnerische Stürmer in unsere Hälfte, bestand unser Kampfauftrag darin, ohne Rücksicht auf Knochenbrüche ihm entgegenzulaufen und den Ball mit voller Wucht ins Aus zu treten. Es gab nur einen Versuch. Hatten wir uns erstmal in Bewegung gesetzt, reagierte unser Körper wie ein rollender Güterzug. Er war weder zu stoppen noch in eine andere Richtung zu lenken. Da wir die Geschwindigkeit des Gegners nicht immer einschätzen konnten - der natürlich auch mal antäuschte und dann einen Richtungswechsel vornahm - liefen wir oft mehrere Meter an ihm vorbei. Schon völlig außer Puste von diesem Sturmlauf, manövrierten wir uns mühsam um die eigene Achse, liefen dann aber nur noch hinterher, ohne ernsthaft ins Spielgeschehen eingreifen zu können. Entweder fiel jetzt das Tor gegen uns oder wir hatten Glück und waren für den Rest des Tages mal nicht die Loser der Klasse.
Ich kann deshalb bis zum heutigen Tag nicht wirklich verstehen, warum mir damals mein Großonkel aus dem Westen, statt eines Playmobilfords, eines ferngesteuerten Rennwagens, eines Cowboyzündtütchenrevolvers, oder was auch immer das unendliche Warenangebot des imperialistischen Klassenfeindes für mich zu bieten hatte, ausgerechnet einen Lederfußball mitbrachte als Geburtstagsgeschenk. Das einzig Gute daran war der intensive Ledergeruch, der dazu angetan war, bei einem Fußball desinteressierten Jungen zumindest die Anlage zu einem Lederfetischisten auszubilden.
Vielleicht wäre es nun die Aufgabe meines Vaters gewesen, mich für Fußball zu begeistern. Im Ostseeurlaub kam ich sogar freiwillig an, mit meinem Lederball, damit wir ein bißchen hin und her kicken. Aber mein Vater wollte nicht kicken, sondern liegen. Er lag, drei Wochen lang, im Sand, bleiern, bis kurz vorm Wundliegen.
Und obwohl sich mein Vater für alles andere als Fußball interessierte, zumindest hatte er diese Leidenschaft gut vor mir verheimlichen können, standen in der Schrankwand zu Hause einige Fußballbildbände, die im Großformat jeweils eine längst prähistorisch gewordene WM in ihrem Verlauf dokumentierte. Wer guckt sich so was an? Außer komische Kinder, die, weil sie Stubenhocker sind und niemals draußen auf dem Hof mit den anderen Fußball spielen wollen, schon aus Angst, sich dabei so dämlich anzustellen, daß die anderen sie wieder verjagen würden, gerade nichts Besseres zu tun haben. Damals gab es ja auch noch kein so tolles Fernsehen. DFF 1 und DFF 2 und, wenn die Antenne günstig gedreht war, vielleicht noch ZDF. Aus Langeweile, die ja eigentlich sehr gut für die geistige Entwicklung eines Kindes sein soll, guckt man dann sogar in solch einen Fußball-WM-Bildband hinein, und langweilt sich noch mehr. Wahrscheinlich bin ich deshalb so klug geworden. In künstlich nachkolorierter Buntheit waren sehr unbekannte Männer mit behaarten Waden und seltsamen Frisuren abgebildet. Bei diesem Anblick wurde man, selbst wenn man eine andere Neigung verspürt hätte, in seiner Orientierung problemlos heterosexuell. Neben dem Weltatlas, Urania Tierreich und Wilhelm Busch waren das die größten Bücher, die es in unserer Schrankwand gab. Man konnte mit ihnen den antifaschistischen Schutzwall nachbauen.
Ich habe diese Art von Bildbänden noch einmal wiedergesehen, und zwar als ich neulich mit meiner katholischen Freundin im katholischen Eichsfeld gewesen bin, wo wir ihre katholische Schwester und ihren katholischen Schwager Gerald besucht haben. Und das Schöne an Schwager Gerald ist, daß man während eines gesamten Wochenendes mit ihm nur vier freundliche Worte wechseln muß. „Guten Tach“ und „Auf Wiedersehen“. Nach über fünfundzwanzig Jahren Ehe sind sie ein eingespieltes Team. Seine Frau schwatzt für zwei, während er sich dem intensiven Studium der Bundesliga widmet. Ihre Neubauwohnung besitzt vier Räume und ebenso viele Fernsehapparate, sodaß die Gefahr, etwas zu verpassen, minimiert ist. Zwar soll es keine Götter neben dem einen geben, aber es gibt nichts Tröstlicheres für einen Eichsfelder Katholiken als seinen Fußballgott.
Als ich meinen Blick nun durch ihr Wohnzimmer schweifen ließ, entdeckte ich in ihrer inzwischen kapitalistischen Vollholzschrankwand, neben dem Hauptfernseher und einigen repräsentativen Vasen, das komplette Gesamtwerk der Fußballwelt- und Europameisterschaften. Ich vermute, eine Geburtstagsgeschenkverzweiflungstat von Geralds Kindern, die sich nicht anders zu helfen wußten. Worüber könnte sich der Vater freuen? Socken oder Fußballbuch? Warum nicht mal wieder ein schönes Fußballbuch! Zum Glück findet alle zwei Jahre ein großes Turnier statt, sodaß der Socken- und Fußballbuchturnus bis zum Ableben des werten Herrn Vaters nicht zum Erliegen kommen wird.
Ich bin mir sicher, daß Schwager Gerald noch nie in diese Fußballbildbände hineingeschaut hat. Er hat Sky, er hat vier Fernseher. Es ist ein durch und durch symbolisches Geschenk, das frei von jeglichem Gebrauchswert ist. Ein pures Geschenk und sonst nichts. Vergleichbar mit den Zierkerzen, die meine Oma irgendwann bekommen und fünfzig Jahre lang hingestellt hat, ohne sie anzuzünden. Als Oma starb, kamen die Kerzen auf mich. Ich habe sie dann bei einem romantischen Candlelightweinbesäufnis zusammen mit meiner Freundin abgebrannt. Aber was macht man, wenn man diese Fußballbücher irgendwann erbt? Bücherverbrennung hat hierzulande nicht den besten Ruf. Überklebt man dann den Buchrücken, auf dem „WM 74“ in riesigen Lettern steht, mit „Faust 2“ oder „Ulysses“. Räumt man sie ins Schlafzimmer, weil diese Bücher so groß und so dick sind, daß sie eventuelle Geräusche etwas dämpfen. Oder läßt man sie versehentlich vom Balkon fallen, während darunter der zwanghafte Nachbar mit seinem Rasenmäher vorüber läuft?
Am Ende will ich der Frage, warum so jemand wie ich die EM guckt, nicht ganz ausweichen. Es ist - ähnlich dem Phänomen, warum die Menschen trotz Hartz-Vier-Reformen immer noch die SPD wählen - eine Art Stockholmsyndrom. Man identifiziert sich mit dem Angreifer und übersteht ohne einen seelischen Zusammenbruch, dafür im Zustand sinnloser Begeisterung, vier Wochen Fußball. So, gleich ist Anstoß!
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