Bördearkadien
Für drei Monate war Schloß Hundisburg mein Stipendiatendomizil. Ich wohnte inmitten des Barockgartens ihro hochwohlgeborenen freyherrlichen Excellenze von Alvensleben, und zwar im sogenannten Weinberghaus. Der Lage am ehemals mit Wein bestandenem Südhang hat es seinen Namen sicherlich zu verdanken, weniger dem Umstand, daß es ein 1953 mit sozialistischem Optimismus in den Barockgarten hineingebauter LPG-Kindergarten war. Zum Glück gab es darin keine Kinderklos mehr, auf die ich als Kindergartenkind nie gehen wollte, weil ich zufiel Klassendünkel besaß, um neben anderen DDR-Kindern, ohne von einer Trennwand geschieden zu sein, kacken zu können. In der Küche befand sich als Relikt aus der Zeit jedoch noch eine Durchreiche. Es erinnerte mich daran, daß meine Berlinoma - die ich so nannte, um sie besser von der anderen Oma zu unterscheiden - oft etwas aus der Küche ihrer Neubauwohnung ins Wohnzimmer zum Berlinopa durchgereicht hatte, was ich sehr praktisch fand. Die Architekten in der DDR haben bei der flächendeckenden Einplanung von Durchreichen immerhin an die Frauen gedacht, damit sie nicht so viel laufen müssen, um ihre Männer mit Schnittchen und Bier zu versorgen.
Als mir die Angestellte vom Schloß die Stipendiatenunterbringung zum ersten Mal zeigte, roch es auch nach Kindergarten, so seltsam nach Linoleum, Bohnerwachs und Angstschweiß. Könnte aber auch Kinderpippi gewesen sein. Vor mir gähnte ein riesiger Flur, der sich zum Kegeln mit Kinderköpfen eignete. Ich war mir nicht sicher, ob ich in der ersten Nacht gut schlafen würde. Auch die anderen Räume zeichneten sich durch Weite und Leere aus wie die Wüste Gobi. Ein Buddhist hätte sich auf Anhieb pudelwohl gefühlt. Möbel sind ja auch nur eine Illusion. Immerhin, der Hauptraum besaß in einer Ecke eine kleine Sitzgruppe, die sich im Vergleich zum Rest des komplett leeren Raums so unproportioniert ausnahm wie der Kopf eines pflanzenfressenden Sauriers zum massigen Körper.
Die ehemaligen Gruppenräume hatten auch noch die originalen Doppelfenster, die von der Decke bis zu meinen Knien reichten. Die Kinder sollten offenbar immer genügend Tageslicht abbekommen, was ja durchaus ein guter Gedanke gewesen war. Als Stipendiat kann man nun wunderbar vom Bett aus in den Garten gucken. Man kann aber auch wunderbar vom Garten aus auf das Bett gucken. Ab 11 Uhr ist mit den ersten Gartenbesuchern zu rechnen, bis dahin mußte ich mir etwas angezogen haben.
Noch früher sind die Gartenknechte (barockdeutsch) oder Landscapemanager (sonenntmandenjobdamiternichtsoscheißklingtdeutsch) unterwegs mit ihren Heckenscheren und Hebebühnen, um die Pflanzen so herzurichten wie modische Frisuren in den Achtzigern. Könnten Buchsbaum und Eibe in den Spiegel schauen, ihr Schnitt wäre ihnen bestimmt peinlich. Ob die Besucher, die ihre Kinder so achtlos zwischen den verhunzten Eiben herumtollen lassen, wissen, daß es sich dabei um den Baum des Todes und der Unterwelt handelt? Auf dem Wochenendgrundstück meiner Berliner Großeltern in Wildpark-West gab es die erste bewußt wahrgenommene Eibe meines Lebens, um die ich immer einen großen Bogen gemacht habe. Geringste Mengen von Eibe, die man sich unachtsamerweise in den Mund steckt, führen ja zu Atemlähmung und Herzversagen, und ich wollte schließlich am Leben bleiben, um das Abendbrot mit Würstchen und Marakujabrause nicht zu versäumen.
Im unteren Teil des Barockgartens befindet sich eine Art Heckenlabyrinth, und ich beobachtete vom Schreibtisch aus, wie ganze Schulklassen, die einen Wandertag absolvierten, mit Gekreisch in seinen Windungen verschwanden. Manchmal kürzten sie den Weg ab und traten wie Kobolde aus der Heckenwand heraus. Es dauerte meist nicht lange, bis sie mich hinter den großen Fenstern am Schreibtisch entdeckten, wo ich, wie in meinem Bewerbungsschreiben für das Hundisburgstipendium kühn behauptet, an meinem Projekt arbeiten wollte. Um weiterarbeiten zu können, mußte ich dann eine Grimasse ziehen, um sie zu verscheuchen. Arbeit ist natürlich immer relativ. Manchmal war ich schon froh, wenn mir eine zerstreute Muse, die mit Pan um einen Buchsbaum tanzte, mir wenigstens ein gut gesetztes Komma pro Arbeitstag gönnte. Und steht nicht dieser mich umgebende Garten einem übertriebenen Fleiß grundsätzlich entgegen, als Ort von Kurzweil und Zerstreuung, der Lust und der Laune und des „Erlaubt ist, was gefällt“? Jeden Morgen verwandelte ich mich in einen Jünger des Gartengotts Priapos, indem ich mich auf einen Gartenstuhl vor die Tür in die gerade über das südliche Firmament wandernde Sonne setzte, mit einem Glas Orangensaft in der Hand, einem Buch in der anderen und einem Sonnenhut auf dem Kopf, der das Einzige war, was ich anhatte, jedoch fluchtbereit, falls ein Besucher um die Ecke des Hauses bog, ich wollte ja nicht als der Nackte aus Halle in die Gartenhistorie von Hundisburg eingehen. Um die Bukolik vollends auf die Spitze zu treiben, schallte vom Dorf her das Geblöke von Schafen herauf. Dem Sohn des Schäfers lief ich dann auch noch beim Feuerwehrfest zum 85. Bestehen der freiwilligen Feuerwehr in Hundisburg über den Weg. Er war aber auch nicht zu übersehen. Schätzungsweise Mitte zwanzig, blond, gesund und kugelrund, in Feuerwehrgalauniform und mit blinkender LED-Krawatte, für jeden ein Wort übrig habend, sodaß ich mir dachte, bevor ich hier nur Bier trinke und wegen Starrens auf die heimische Weiblichkeit am Ende vielleicht noch Dresche kriege, könnte ich auch versuchen, mit Menschen aus dem Dorf ins Gespräch zu kommen. Ich sagte, Hallo, ich bin der Literat vom … Das sei schön für mich, sagte er, er habe aber gerade keine Zeit. Er zeigte auf zwei leidliche Dorfschönheiten, die in Richtung Diskozelt hüpften. Wenn ich was wissen wolle, solle ich demnächst mal vorbeikommen, an der Kirche, da wohne er, sein Vater sei der Schäfer des Dorfs, von dem werde ich aber nichts rauskriegen, der spreche mit keinem. Und kaum daß ich antworten konnte, war er auch schon im Zelt verschwunden. Die meisten hier waren freilich ganz normal erscheinende Leute, so normal wie man halt mit blinkender LED-Krawatte erscheinen kann, aber ich wäre enttäuscht gewesen, wenn ich jetzt nicht an der Getränkeinsel ein paar Dorfnazis gesehen hätte, sonst müßte ich meine Vorurteile gegenüber der Landbevölkerung (ein Schaf ist nicht nur für die Wolle da, et cetera) womöglich noch korrigieren. Unter anderem stand da einer, der auch frisurmäßig ein ewig Gestriger war, mit ergrautem Vokuhila und einem T-Shirt, auf dem las ich: Treue, Vaterland, Wehrmacht. Wenn ich irgendwelche Parolen lese, habe ich mir inzwischen angewöhnt, mir einfach mal vorzustellen, wie das im Idiom von Rudi Carrell klingen würde. Ich glaube fast, Hitler wäre auf Holländisch gar nicht möglich gewesen. Zum Beispiel: Hard als Krüpps-tahl, taai als leer en zo snel als windhonde. Und diesen Volksgenossen aus Hundisburg hätte ich ja mal fragen können, was er so toll findet an: Loyaliteit, Vaderland und Wjeermaacht, ließ es aber aus gesundheitlichen Gründen lieber bleiben.
1811 gingen Schloß und Park der Alvenslebens in den Besitz von Johann Gottlieb Nathusius über, des ersten Großindustriellen auf dem Gebiet von Sachsen-Anhalt. Und ab 1814 beherbergte das Schloß eine Maschinenfabrik. Dazu Wikipedia: „Obwohl es nicht gelang, funktionierende Dampfmaschinen herzustellen, ist die Fabrik wegweisend für die Industrialisierung Sachsen-Anhalts gewesen.“ Klingt ein bißchen symptomatisch für dieses Land der Frühaufsteher. Immerhin hat Nathusius nicht nur nichtfunktionierende Maschinen hergestellt, sondern auch die Anlegung eines englischen Landschaftsparks veranlaßt. Es ist das schönste Fleckchen arkadischer Anmutung, das ich je vom Edelrost des Herbstes befallen in die Vergänglichkeit hinübergehen sah – zumindest zwischen Wolfs- und Magdeburg. Mehrmals die Woche fuhr ich mit dem Rad hindurch, an der plätschernden Beber entlang, an grasenden Schafherden vorbei, nur um schließlich, das sei nun nüchtern vermerkt, zum Penny zu gelangen. Man wohnt in Arkadien und kauft ein bei Penny. Hätte es nicht wenigstens irgendein anderer Supermarkt sein können. Seit Jahr und Tag kaufe ich bei Penny ein, weil ich in Halle direkt gegenüber wohne und den Weg des geringsten Einkaufsaufwandes gehe. Gefreut hatte ich mich schon, als ich von meinem Stipendium erfuhr, nun endlich auch mal dieser Supermarktroutine zu entkommen, um in der Produktpalette von Aldi, Rewe, wenn nicht gar Edeka zu stöbern, dieses oder jenes leicht abgewandelte Fertigprodukt des Kapitalismus zu probieren. Aber nein! Wieder war die nahest gelegene Einkaufsquelle weit und breit nur der Penny. Dort versorgte ich mich also und fuhr schwer beladen durch das Bördearkadien zurück nach Hundisburg, wo ich die üblichen Nudeln zusammenrührte, um schließlich gestärkt alsdann und hoffungsvoll, daß mir die Muse oder ein Muserich doch noch gnädig wäre, wieder vor meinem Laptop auf einen Satz zu warten.
So, genug geschrieben, langsam geht mein Aufenthalt in Hundisburg dem Ende entgegen, und ich muß noch ein paar leere Weinflaschen wegbringen und noch etliche leere Bierflaschen und überhaupt sehr viel Müll, und vielleicht müßte ich wenigstens die Küche grob reinigen. Die Fliegen werden mich vermissen. Und manch einer würde an meiner Stelle wahrscheinlich mit dem Staubsauger durch die Räume gehen, aber man sollte Verantwortung auch abgeben können. Daß sich auf dem Ceranfeld ein Kochtopf eingebrannt hat, fällt hoffentlich nicht weiter auf. Schließlich was erwartet man, wenn man einen Literaten drei Monate lang hier wohnen läßt, da hätte man auch einen Mietnomaden einziehen lassen können. Ich danke an dieser Stelle noch mal allen, die mir diese schöne Zeit ermöglicht haben.
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