Homo Touristicus in Palermo
Reisen ist ein Update der Wirklichkeit. Man ist wieder auf dem neuesten Stand, auch wenn das Betriebssystem erstmal ins Stocken gerät. So traten wir an den Schalter von Ryanair - arglos wie Rotkäppchen, das dem Wolf begegnet, um einzuchecken und das Gepäck aufzugeben, da wurde uns mitgeteilt, daß wir uns noch einchecken müßten. Wahrscheinlich guckten wir etwas blöde, da wir ja nun genau jetzt in diesem Moment hier an diesem Schalter, wie es doch üblich ist, eben solches vorgehabt hätten. Nein, das gehe nicht, ob wir nicht per Mail informiert worden seien, daß man das am Computer oder per Handy vorher selber tun müsse? Kopfschütteln und Ratlosigkeit. Vorwurfsvoller Blick meinerseits hinüber zu meiner katholischen Freundin, ob sie ihre Mails nicht gelesen habe! Das darf ja wohl nicht wahr sein!! Vielleicht war meine Reaktion etwas ungerecht, wenn man bedenkt, daß mein Beitrag an der Planung unseres gemeinsamen Urlaubs darin bestand, den Urlaubsort, den sie mir vor Monaten mal genannt hat, nicht vergessen zu haben. Dafür kann meine Freundin nun immer behaupten, wenn sie nicht wäre, würde ich gar nicht mehr rauskommen und nur noch Texte über meine Hypochondrie schreiben. Was aber überhaupt nicht stimmt. Neuerdings schreibe ich auch Texte über meine Herzprobleme.
Die Schalterfrau gab zu bedenken, daß wir glücklicherweise noch eine halbe Stunde Zeit hätten, mit Hilfe unseres Smartphones in die Emails zu sehen und uns einzuchecken. Nun will ich es mal der Gewohnheit zuschreiben oder möglicherweise einer schleichenden Frühverkalkung, aber mein Phone ist nicht smart, sondern weiterhin simpel. Auf ihm ist zwar Internet möglich, aber bisher nicht nötig. Auf ihm wird auch nicht gespielt, Musik gehört, und Filme geguckt, ebenso keine Sprachnachrichten verschickt oder Penispics, und selbst die Kamerafunktion wird nicht als Schminkspiegel benutzt. Kurzum, die Schalterfrau erbarmte sich unser und checkte uns mit zwei, drei Mausklicks ein. Dieser Vorgang, der vormals im Service inbegriffen war, kostet 220 Euro extra, wenn sie nicht so freundlich gewesen wäre, uns diese zu erlassen. Und wir sind immer noch nicht in Palermo gelandet, währenddessen ich schon wieder soviel Text mit jenem technischen Kram verschwenden mußte, der uns das Leben in allen Bereichen leichter macht. Vielleicht wäre es auch nur einen Halbsatz der Schilderung wert gewesen, wenn unser Ansprechpartner in Palermo, den meine Freundin nun telefonisch erreichte, als wir schon im Bus vom Flughafen zur Haltestation in der Via Liberta saßen, uns nicht mitgeteilt hätte, daß wir ihn per Whatsapp anschreiben sollten, sobald wir vor der Ferienwohnung stünden. Nun teilte meine Freundin ihm noch so gut es geht telefonisch mit, daß wir kein Whatsapp haben, aber in circa einer halben Stunde da seien. Auf die bewährte Kulturtechnik des klassischen fernmündlichen Gesprächs setzend, hofften wir, ihn auch noch hernach erreichen zu können. Was inzwischen fast undenkbar geworden ist, trat dann tatsächlich ein, unser Anfang zwanzigjähriger Ansprechpartner stand vor der Tür der Ferienwohnung, ohne daß wir einer Whatsapp-Gruppe beigetreten sind. Er plauderte in einem für sein Alter und Bildungsstand – er studierte Medizin – gelenkigen Englisch drauflos, und zwar beschäftigte ihn sehr dieser ungewöhnliche, ihm bisher nicht untergekommene Umstand, warum wir überhaupt kein Whatsapp benutzen und wie wir uns sonst eigentlich verständigen würden. Ich versuchte ihn in meinem verstaubten East-german Englisch zu erklären, daß wir mit diesem Telefon, und ich hielt es in demonstrierender Weise an mein Ohr, einfach telefonieren. Er schaute mich entgeistert an. Aber was kostet denn das? Ich sagte dann auf Englisch das Wort Geld. Denn die genauen Tarifoptionen hatte ich nicht im Kopf und haben mich auch nie wirklich interessiert. Dann fragte er uns, ob wir Englisch sprechen würden. Eine seltsame Frage, aber vielleicht auch nicht ganz unberechtigt. Wir unterhielten uns zwar seit gut fünf Minuten in einer Sprache, die ich bisher für Englisch gehalten hatte, jedoch über ein Thema, zu dem ich nicht viel zu sagen wußte. Ich gab zu verstehen, mein Englisch noch in der DDR und erst ab der siebenten Klasse gelernt zu haben. Es sei leider nicht so super. Er bestätigte dies, und ergänzte, daß wir also unser Englisch eher dazu benutzen würden, um einigermaßen im Ausland durchzukommen. Ich bejahte seine treffende Einschätzung, war jedoch – ich muß es zugeben – über die Fragestellungen des jungen Mannes nun doch ein wenig genervt.
Was der Grund sei, nach Palermo zu kommen, fragte er uns dann im Anschluß. Was dachte er denn? Sextourismus wird es nicht sein. Mafiageschäfte auch eher nicht. Ich radebrechte was von Sightseeing, Kultur und Wetter. Sicher, es war alles nur nett gemeint und kommunikativ von ihm, aber hätten wir lieber eine schönere Stadt aussuchen sollen als ausgerechnet Palermo? Inzwischen war auch der Vater des jungen Mannes erschienen, ein feiner Herr, der der eigentliche Vermieter war, und mit dem wir uns auf Anhieb verstanden, vermutlich, weil er gar kein Wort Englisch sprach. Wir betraten die sehr hübsch mit alten Fliesen ausgestaltete Ferienwohnung im Innenhof eines Gründerzeitpalazzo. Die nötigen Dinge wurden deutlich und klar mit den Händen besprochen. Wie der Gasherd zu bedienen ist, wo das Geschirr steht, wo der Müll hinkommt (leider nicht, wie der Müll draußen zu verklappen ist). Hätte er Englisch gesprochen, dürfte er uns jedenfalls nicht mit Whatsapp behelligt haben. Der Sohn indes machte uns noch auf die WLAN-Station aufmerksam und zeigte uns den Code, mit dem wir uns einwählen können. Ich dankte für den Hinweis. Wo wären wir schließlich ohne Internet? Später, ich hatte mir ein Birra Moretti geöffnet, gab ich aus einer Laune heraus den WLAN-Code in mein Handy ein und was dann kam, zauberte mir ein sardonisches Lächeln über unseren jungen italienischen Freund mit dem Whatsapp-Fimmel auf die Lippen, denn obwohl ich direkt neben der Sendestation saß, war das Signal so schwach, daß hier weder Instagram noch Whatsapp auf irgendeine Weise zu nutzen möglich sein würde. Anspruch und Wirklichkeit sind in Italien zum Glück immer noch zweierlei, und das hat auch unter Mussolini das Schlimmste verhindert.
Vielleicht war es nicht ganz unbegründet gewesen nach unseren Reisemotiven zu fragen, denn im klassischen Sinne erholsam ist Palermo nicht. Überall das Concerto grosso der knatternden und hupenden Vehikel. Das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel ist dabei der Bus. Er hat sogar eine eigene Busspur, damit er schneller vorankommt. Man sollte Witze nicht erklären, aber das war gerade einer. Die Busspur ist für alle da. Und im Bus kommt man sich näher. Ein Frotteur hätte dort sein Himmelreich gefunden. Einmal, wir besuchten Mondello, den Hausstrand von Palermo, an dem die Jugend balzt, Rummelbuden neben Bars sich reihen, während im Hintergrund noch die mondäne Welt des Jugendstils ihren Abglanz wirft, warteten wir vergeblich auf den Bus. Es war Sonntagnachmittag. Die Menschen wollten zurück. Als der Bus endlich kam, öffneten sich mit Zischen die hydraulischen Türen und wie aus einer prall gefüllten Wurst quoll der Inhalt auf die Straße. Dann schob sich eine noch größere Menge wieder hinein. Meine Freundin hatte Glück, ein galanter älterer Herr stellte ihr seinen Platz zur Verfügung. Ich stand am vorderen Buseinstieg und versuchte, keinen Kreislaufkollaps zu bekommen. Ich wäre zumindest nicht umgefallen. Das hätte rein physikalisch nicht funktioniert. Bei jeder Station stieg noch jemand zu, bis der maximal mögliche Füllungsgrad sich eingestellt hatte. Nun blieben die Türen für weiter zusteigen Wollende geschlossen. An jedem folgenden Haltepunkt hieben sie mit Fäusten gegen die Türen, man möge sie doch auch noch mitfahren lassen. Aber der Busfahrer war nicht Jesus, dem das Wunder der Busvergrößerung auf der Strada zurück nach Palermo gelungen wäre. Drinnen die verschworene Gemeinschaft der Geretteten, sie schimpften und lachten gegen die da draußen, die sich nun um eine weitere Stunde ihres Sonntags gebracht sahen. Ich atmete unterdessen kontrolliert und blieb bei Bewußtsein.
Auch auf anderen Strecken wiederholte sich jene Situation, die keine Berührungsängste duldete im Odeur aus Chanel, Schweiß und Furz. Dabei passierte dann, was ich seit jeher befürchtet hatte, sobald ich nach Italien kam, ich wurde beklaut. Meine Freundin formuliert das etwas anders, sie sagt, ich würde glauben, beklaut worden zu sein, was offenbar eine gewisse Einschränkung meiner Einschätzung darstellt, die ich jedoch nicht nachvollziehen kann. Jedenfalls war meine gute, mich in allen Lebenslagen so treu begleitet habende Mütze, die ich mir in die Seitentasche meines Tweedsakkos geschoben hatte, bevor wir mit dem dichtgedrängten Menschenverbund im Bus verschmolzen waren und nachdem auch noch viele Jugendliche hinzustiegen, weg. Jugendliche konnte ich ja noch nie leiden. Schon als Jugendlicher nicht. Halb Kind, halb Hormone. Wäre meine Mütze im Gedränge nur rausgefallen, hätte ich sie an der Endhaltestelle, als alle ausgestiegen sind, wiederfinden müssen. Hab ich aber nicht. Aber wer soll denn deine speckige, alte Mütze klauen, die haben sich bestimmt nur einen Spaß erlaubt, relativierte meine Freundin auf das Gemeinste das Verhalten meiner Erzfeinde. Danke auch. Schöner Spaß! In gewisser Weise läßt sich nun aber auch dieses Ereignis als Phänomen jener Logik der Vernunft begreifen, die von Hegel als ein untergründiges Prinzip ersonnen wurde, um die Verhältnisse doch wieder listig ins Lot zu bringen, ja sie vielleicht sogar noch auf eine höhere Ebene der Qualität zu heben. Denn eins war klar, ich brauchte eine neue Mütze. Sonst würde mir die sizilianische Sonne ein Loch in den Schädel brennen.
Palermos Altstadt ist durch seine beiden im rechten Winkel sich schneidenden Hauptstraßen, der Via Maqueda und dem Corso Vittorio Emanuele, recht gut zu erschließen. Verirrt man sich in den kleinen Gassen, stößt man doch unweigerlich wieder auf eine der beiden. So kann man sich, auch mal ohne ständig den Stadtplan zu bemühen, treiben lassen und entdeckt eine ökonomische Tradition, die doch nördlich der Alpen gänzlich ausgestorben scheint und fast ein wenig das Mittelalter imaginiert. Kleine Werkstätten, nicht größer als eine Garage im Erdgeschoß der Häuser, mit Schraubstock, Kreissäge und Metallpresse, oder mit Nähmaschine, Hebebühne und Schweißgerät. Die Gewerke nach Gassen getrennt. Die Gasse der Ofenbauer, der Metallwarenhersteller, der Fahrradklempner, der Tuchanbieter und ja, auch die Straße der Mützenmacher. Ein Laden nach dem anderen und nicht verstreut in der ganzen Stadt. Wenn man eine Mütze sucht, findet man sie unweigerlich in dieser einen Straße. Und nun, da meine Mütze, auf welche Weise auch immer, verschwunden war, erinnerte ich mich daran, doch schon mal durch diese Straße gegangen zu sein. Also nichts wie hin und gleich hinein in den winzigsten Mützenladen, der um etliches höher war als tief. Und dem die Wände bis zur Decke verstellt waren mit Mützen aller Art und Couleur. Ein altes Pärchen bediente dort. Die Frau werkelte im Hintergrund an ihrer Nähmaschine und ihr Mann stülpte mir eine Mütze nach der anderen über. Und da erblickte ich sie, eine, wie er sie nannte, cap olandese. Sie würde, das war klar, die meine werden. Und dann, fast schon im Überschwang der Erwerbungsfreude, nahm ich auch noch eine zweite, aus Stoffresten geschneiderte Mütze mit, das Werk, wie man nun an den stolzen, freudestrahlenden Augen sah, seiner Frau, die sich von ihrer Nähmaschine erhob und mir die Hand gab zum Abschied, als ich den Laden - vollkommen beglückt und vom Verlust der alten Mütze fast gänzlich getröstet - verließ. Denn nie wäre ich in den Besitz der beiden neuen gelangt ohne den Verlust der alten.
Freilich sind die Märkte Palermos legendär. Ob der Vucciria, Ballarò oder jener im etwas höher gelegenen Capo-Viertel, das vom gigantischen Pallazzo Giustizia begrenzt wird und das Teile seiner angegriffenen Substanz dieser Verkörperung der staatlichen Gewalt überlassen mußte. Und so muten die Opaken Flächen der Macht, aus Beton und Stahl, mit den Flaggen Italiens und der Europäischen Union davor, so seltsam an wie sie übergangslos neben den verwinkelten und halb zusammengefallenen Häuschen stehen, mit der Unterwäschenbeflaggung und den im Müll nach einem Bissen angelnden Katzen, dem Padre Pio in der Nische und dem Autoschrott, den spielenden Kindern zwischen den craffitobemalten Mauerresten, als ob damit gezeigt werden solle, daß die eine Welt nie etwas mit der anderen zu tun haben würde. So war es und so wird es immer sein. An den Ständen zerteilen Männer mit den breiten Klingen ihrer Messer Gemüse und Getier. Schlagen vom Grünzeug ab, was nicht mehr zu gebrauchen ist, werfen es zu Haufen zusammen, die sich an jeder Ecke türmen. Schießen Motorroller hindurch und Lastendreiräder. Sieht man zwei ängstliche Touristen aus Halle beiseite springen. Der Capo-Markt ein ausuferndes Blutgerinnsel.
Natürlich mußten wir schlußendlich dem Tod in Palermo noch einen Besuch abstatten. Er residiert unter dem Convento dei Cappuccini. Auf dem Parkplatz darüber tummelt er sich gerade in Gestalt eines dieser Irren, die es in einer Stadt immer geben muß, um seinen Schabernack zu machen, und läuft mit peng peng Rufen, die Passanten mit seiner Fingerpistole bedrohend, über den Parkplatz. In seinem ausgemergelten, von dünnen halblangen Haaren umrahmten Gesicht ein diebisches Lächeln: Na kommt, kommt. Wer will noch nicht, wer muß jetzt schon, geleitet der dunkle Conferencier uns vorbei an den Postkartenständen in den Untergrund der Katakomben. Und ja, der Schausteller hat einiges zu bieten. Eine grausliche Leich’ nach der anderen. Eine Mumienparade unterschiedlich gut Verwester. Mit Strippen und Drähten zusammengehalten, und wo es am Fleische fehlt, durch Stroh im Leib ergänzt. Man könnte ihnen in die Augenhöhlen fassen. Ihre Frisuren sind naturgemäß altmodisch wie die Kleidung, die sie tragen. Manchmal ist aber auch nicht mehr allzu viel an ihnen dran. Die Gewänder seit Jahrhunderten von keinem Verwandten mehr ausgebessert. Der Kiefer neigt sich bedenklich aus dem Schädel heraus und droht, auf den Fußboden zu fallen. Anstatt daß die Schulklassen immer in den Heidepark Soltau gekutscht werden, sollten sie mal hier hinkommen. Guckt mal, so seht ihr später auch mal aus. Da gibt es den Gang mit den Jungfrauen. Schädel unter lockigem Haar. Auch die Kindlein, die leider zu früh zu ihm gekommen sind. Soldaten, Priester und diverse Professionis. Irgendwann taumeln wir beide nach dem Leichenoverload wieder nach oben, und schauen uns an, mit dem fragenden Blick, würdest Du mich besuchen kommen, und mein Tweedsakko ausbessern, und Du, würdest Du mir, zwar nicht oft, aber hin und wieder ein neues Sommerkleidchen von GudrunSjöden über meine bleichen Knochen ziehen, damit ich wieder hübsch bin?
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