Frau Lehmann

Vorstellungsgespräch

Das Geld ist knapp. Im Winter läuft das Geschäft auf der Straße nicht so gut. Frau Lehmann besucht ihre Agentur für Arbeit, die sich, dem sozialen Brennpunkt entsprechend, in einer abgewrackten Baracke befindet und sucht einen Arbeitsvermittler auf. Sie zieht eine Nummer und wartet. Plakate weisen Sie darauf hin, dass die Agentur für Arbeit umzieht und vorübergehend in diesen Räumen Platz gefunden hat. Sie wird um Verständnis gebeten. Es soll ihr Recht sein, an ihr soll es nicht liegen. Sie bekommt eine Stelle vermittelt und stellt sich vor.

„Wir suchen Mitarbeiter, die bereit sind Engagement zu zeigen, Verantwortung zu übernehmen und …“

Ihr Gegenüber gähnt, reißt den Mund unerzogen weit auf. Schamlos lässt er sie in seinen Rachen blicken. Sein spitzes Gesicht zuckt auf dünnen Lippen. Wangenknochen zittern. Schlechter Atem strömt in den Raum, während der Stift in seiner rechten Hand ungeduldig den Takt seiner Worte klopft.

„Frau Lehmann, Mitarbeiter auf Augenhöhe, verstehen Sie!“

Sie reckt ihren Hals, streckt sich so lange es geht, erreicht seine Augenhöhe nicht.

„Ich könnte wachsen“, erwidert sie kläglich.

„Wachsen!“
Ein verächtliches Aufbäumen, ein schriller Schrei.
„Wachsen, Frau Lehmann, kann man nur an Aufgaben, die Sie nie bekommen werden.“

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