In Augenschein

zu Gast: Lutz Steinbrück

Gespräche über anonymisierte Texte (Ausgabe # 002)

Der Fülle des lyrischen Textes steht die besonders hingegebene Lektüre gegenüber. Wie es den Text zu neuen, erleuchtenden Wortverbindungen treiben kann, wenn er sich den Spielen, Zwängen und Anforderungen eines lyrischen Einfalls hingibt, so kann auch die Lektüre durch Beschränkung in neue Richtungen wachsen: und an Aufmerksamkeit gewinnen, wenn die Sicherheit gewohnter Fangnetze fehlt. In dieses Wagnis will sich die Reihe In Augenschein begeben, indem sie im Gespräch mit Lyrikern über Lyrik Namen und Titel verdeckt. Der blinde Fleck über dem Namenszug der Autoren soll einen freieren Blick auf das erlauben, was die Signatur ihrer Texte ausmacht. Da geht es um Stile, mehr als um Inhalte; gerade deshalb geht es um Beobachtungen und nicht um Wertungen. Kein Quiz, sondern ein Spiel, dessen Regeln sich im Moment erst formen. Nur das Material ist gegeben und älter als wir. Wir bleiben familiär, wir wollen spazieren, die Augen, Ohren und Hirne weit aufsperren. Deutlichkeit und Lösung können dabei selbstverständlich nicht in unserem Interesse liegen.

Lutz Steinbrück, 1972 in Bremen geboren, ist einer der scharfen Realitätsbeobachter unserer Tage. Entsprechend gehen Humor, Galle und Absurdität im Ton seiner Lyrik gemeinsam durcheinander: Eine reich gemischte Frucht, die sich in seinen beiden Bänden Fluchtpunkt:Perspektiven (Lunardi, Berlin 2008) und Blickdicht (J.Frank, Berlin 2011) kosten lässt. Daneben macht er Musik in Bands (2007-2011 mit den Nördlichen Gärten, seit 2012 mit megamau) und arbeitet seit 2004 von Berlin als Journalist für Print- und Onlinemedien.

Eine Form des unerwarteten Erstkontaktes mit Lyrik, bei dem es oft sehr schnell gehen muss mit dem Verständnis und der Aufmerksamkeit, ist ja die klassische Lesung. Was regt Sie bei einer Lesung an, welche Charakteristiken der Wortverbindung gehen Ihnen da schneller ins Blut als andere? Oder geht es in eine ganz andere Richtung, nämlich die der Inhalte?

Wichtig bei Lesungen finde ich, wie Autoren ihre Texte transportieren. Spürbar positiv ist eine Identifikation von Dichter und Gedicht im Sinne eines Aufgehoben-Seins des Lyrikers im eigenen Text und Vortrag. Eine solche Art von Einheit ist aus meiner Sicht nötig für eine schlüssige, ausdrucksstarke Lesung. Im konkreten Ausdruck kann es zum Beispiel vehement, spielerisch-ironisch oder einfühlend sein. Das sehe ich als möglichen Mehrwert einer Lesung im Vergleich zur Lektüre. Ein Gedicht, von dem ich beim Lesen angetan war, kann durch einen uninspiriert-gelangweilten oder schlecht betonten Vortrag an Überzeugungskraft verlieren. Umgekehrt kann ein Text, der mich als Leser nicht überzeugt hat, bei ausdrucksstarkem Vortragsstil gewinnen. Ich finde aber auch, dass Autoren kein zu kalkuliertes, automatisiertes Vorleseprogramm anstreben sollten. Literaten sind keine Schauspieler. Spontaneität, der Faktor Tagesform und Unvorhergesehenes gehören für mich auf Lesungen dazu.

Ist die Beziehung zwischen Gedicht und Vortrag jener zwischen Stil und Inhalt eines Gedichts verwandt? Unterscheidet sich die Gewichtung der Komponenten Stil und Inhalt in der Lektüre hier und im eigenen Schreiben dort?

Es gibt wohl eine Verwandtschaft in der Weise, dass Gedichte in einem bestimmten Stil verfasst sind und auch dadurch Inhalte vermittelt werden und dass der Vortragsstil ebenfalls zur Vermittlung von Inhalten beiträgt. Allerdings finde ich Stil und Inhalt als Gegensatzpaar in der Beschreibung von Gedichten problematisch – sowohl in der Lektüre als auch beim eigenen Schreiben. Ich möchte da keine Trennung vornehmen, weil ich Texte als sprachliche Einheit verstehe, zu der beide Komponenten gehören – zum ganzheitlichen Wesen eines Gedichts. Was nicht heißt, dass sich inhaltliche und stilistische Aspekte nicht auch isoliert beschreiben ließen. Ich schreibe nicht von Themen ausgehend, indem ich etwa die Zeitung aufschlage, etwas Interessantes lese und dann ein Gedicht dazu verfasse. Meine Gedichte haben ihren Ursprung meist in Formulierungen, die ungeplant in den Kopf geraten und die ich dann aufschreibe. Das sind Initialzündungen, die mich spontan anstrahlen, für sich einnehmen und zum Weiterschreiben reizen, ohne dass zu diesem Zeitpunkt eine inhaltliche Richtung vorhanden wäre. Ein aktuelles Beispiel ist „rechtwinkliger Tangoernst“.

Das ist genau die Frage: Ist in diesem Auftauchen der Ideen eigentlich die Form des Sprechens zuerst da oder der Gegenstand des Sprechens?

Die Formulierung ist da – zeitgleich in Form und Gegenstand. Wenn sie mich reizt, wird sie notiert. Sie wandert vom Zettel in eine Datei und wird Teil einer Materialsammlung, mit der ich arbeite. Manche Ideen verkümmern dort, andere werden zu Anfängen oder anderen Bestandteilen von Gedichten. Ich schreibe eher in wenigen schnellen Schüben und widme mich meistens den Ideen, die in dieser Weise für mich funktionieren und ein zeitnahes Ergebnis bringen. Es gibt keine Fragmente, die zwei Jahre halbfertig in der Schublade gelegen haben, die ich dann wieder aufgreife und fertigstelle.

Bei Lyrik ist das Verhältnis von Brutzeit und Qualität schwer auszumachen.

Stimmt, es gibt da natürlich kein gültiges Rezept. Diese Beziehung wird in Gesprächen über Lyrik immer wieder thematisiert. Andere Autoren überarbeiten ein Gedicht über mehrere Monate oder länger, nehmen immer wieder Änderungen vor – oder es bleibt lange in der Wartschleife, ehe sie überzeugt sind, es zeigen oder veröffentlichen zu wollen.

Horaz empfiehlt bekanntlich neun Jahre.

(lacht) Wenn es dann mal nicht verschimmelt.

Das waren auch die Zeiten, als Lyriker nicht mit Euro, sondern mit Landhäusern bezahlt worden sind. Jedenfalls, um nun noch einmal bezüglich des Stils vom Schreiben aufs Lesen zurückzukommen: Sie sind ja, wie ich Sie kenne, jemand, der zeitgenössische Lyrik auch liest.

Ja, eines dieser seltenen Exemplare. Wie bei eigenen Ideen erlebe ich auch beim Lesen aktueller Lyrik Aha-Momente. Meistens, wenn mich Formulierungen oder Zeilen überraschen, weil ich sie neuartig, ungewöhnlich ausdrucksstark finde und/oder weil mich der Text in seiner Komposition überzeugt. Der schöpferische Umgang mit Sprache drückt sich stark in stilistischen Merkmalen aus. Inhalte im Sinne allgemeinverständlicher Aussagen sind nicht wesentlich. Lyrik mit zu deutlichen oder agitatorischen Aussagen läuft leicht Gefahr, platt im Ausdruck zu werden und kann schnell langweilen, nach dem Motto „Schnell lesen, schnell lernen“. Die wenigsten zeitgenössischen Lyriker, die ich kenne, sehen darin einen Sinn von Dichtung.

Dann lassen Sie uns doch gleich mit einem poetologischen Text anfangen, bei dem sich die Frage stellt, wie ironisch oder platt deutlich das tatsächlich ist.

I.

Ah, heute fehlte mir völlig die Puste
für das Quentchen Wahnsinn,
das bescheidene Maß Rausch,
ohne das wir lebendig vereist
und begraben sind, ich lief rum
sah nichts
fand die Sonne grausig
die Jahreszeit albern
das Bier trist
Bäume gespenstisch, Menschen
mit ihren Gesichtern, ihrem
Geseire schlicht fatal, ficken hilft auch nichts,
schreiben ist wie Spuren ins Spülwasser ritzen,
ein einziger Blick
in die Gegend genügt: lächerlich, ein
Nirwana für Nieten.

Das ist ein poetologischer Text? Spontan springt mir „schreiben ist wie Spuren ins Spülwasser ritzen“ ins Auge, ein eindrucksvolles Bild, das die Vergeblichkeit des eigenen Schreibens festhält. Das seufzende Ah zu Beginn... irgendwie mütterlich-resigniert als Anfang eines Selbstgesprächs. Tristes Bier dagegen ist tendenziell männlich (lacht). Grundsätzlich klingt das Gedicht schon zeitgenössisch, auch großstädtisch, das Geseire und die Gesichter der Menschen, möglicherweise Berlin.

Ist das nicht bemerkenswert, dass das sofort großstädtisch klingt?

Es deutet schon darauf hin. In jedem Fall ist es kein avantgardistisches Gedicht im Sinne von hermetisch, schwer erschließbar, sondern zugänglich und sinnhaft in seiner Alltagssprachlichkeit. Da fallen schon viele Autoren der heutigen Gegenwart weg. Viele würden auch nicht „ficken“ schreiben. Das ist schon sehr geradeaus, scheinbar ungeformt. Moment... ich sehe da auch eine Brinkmann-Note, so einen 70er-Jahre-Subjektivismus.

Wo oder wie würdest du den festmachen?

„Bäume gespenstisch, Menschen / mit ihren Gesichtern, ihrem / Geseire schlicht fatal, ficken hilft auch nichts“, das könnte ein Brinkmann-Zitat sein. Wobei „Nirwana für Nieten“ nicht zu ihm passt. Dieses Gedicht  gibt sich geerdet, hat aber auch einen Zug ins Schemenhafte, Surreale. Ich sehe es irgendwo in der westdeutschen 70er-Tradition, in Richtung Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, vielleicht Jörg Fauser, aber ich kann mich da nicht auf einen Autoren festlegen. Tippe aber auf einen Mann. Bier und ficken in einem Text, das ist wahrscheinlich jemand, der ein Glied trägt. Insgesamt finde ich den Text eindeutig und nicht allzu spannend, aber auch nicht schlecht.

II.

die menge der schaulustigen beobachtete sich wartend selbst,
zu der wir vorliefen.

vielleicht ließe sich das risiko auf eine region konzentrieren.
darauf der landregen.

meine übernächste hausärztin wurde gerade geboren. ich kon-
trollierte meinen lippenstift.

in der knautschzone umherschweifen. das war morgen. unsere
sachbearbeiter existierten bereits irgendwo.

fließend der übergang zwischen erster hilfe und zweiter natur.
nur krankenwagen verunglücken.

vielleicht muss das ticken ununterbrochen wahrgenommen
werden, damit die detonation ausbleibt, ein singspiel.

was mir zustieß, war, mit der wucht eines aufpralls, eine police.
die zukunft unserer möbel.

exit erste hilfe. der wind dreht nur als ganzer. die maschinen
landeten regelmäßig über dem stadtgebiet.

Ein echter Falb und ein Gedicht, dass mich sofort beeindruckte. Beispielhaft dafür, wie er in beiläufig-sachlichem Ton scheinbar eindeutige Aussagen formuliert, die zugleich absurde oder unklare Behauptungen darstellen und über sich hinausweisen. Ich mag die ideenreiche Ambivalenz der Aussagen, die irritiert und Fragen aufwirft. Das steht in einem reizvollen Kontrast zur Sprechhaltung, die in aufgeklärter Distanz zu den Ereignissen bleibt. Der Landregen, diese eingestreuten Irritationsmomente, ambivalent und mehrdimensional. Gut, „der übergang zwischen erster hilfe und zweiter natur“ ist ein bisschen grünbeinig. Zudem, und das mag ich als Haltung sehr, zeigt es eine gewisse düster getönte Weltwahrnehmung und -beschreibung. Es geht um Unfälle und Zusammenstöße, vieles klingt wie eine Drohung, ohne dass man wüsste, wieso.

III.

es schläft das Gras, das Gras
schläft hier, ich spür
die Wolken sinken, jedes Tier

stimmt in das Schweigen ein
die Silben wiegen schwer
die Stimme stimmt den Bogen

jedes Lied verstummt, es schläft
das Gras, die Sprache aller toten
Dinge, Gras

ich seh den Himmel nieder
gehen: zur Ruh, zur Ruh
die Winde flüstern ein

im Ried, ich schlaf wie Gras
der Abend dunkelt, das vergossne
Blut; es schläft das Gras

Hm. (Pause) Im Gegensatz zu der distanzierten Perspektive im Falb-Gedicht ist hier ein lyrisches Ich direkt eingebettet in die Szenerie, die es beschreibt. Ein lyrisches Ich mittendrin, im Reigen mit personifizierten Natur-Elementen. Es wirkt in sich abgeschlossen, motivisch kohärent, funktioniert rhythmisch und liedhaft, stellt das Poetische in den Vordergrund. „Schläft ein Lied in allen Dingen...“, das sagt mir etwas.

Eichendorff.

Eichendorff, genau! „Und die Welt fängt an zu singen.“ Kommt da auch Gras drin vor?

Nicht, dass ich wüsste.

(lacht) „ich schlaf wie Gras“. Das Gedicht ist für sich schlüssig, ohne dass ich viel dazu sagen kann. Ich habe das Gefühl, dass ich mir dieses Gedicht anschauen kann wie in einer Glasvitrine und sagen: Ja, das passt und ist auf eine klare Weise schön, ohne dass es mich wirklich berührt.

Das ist ja auch eine stilistische Beschreibung. Von wem könnte das sein?

Gute Frage. Tja, da würde ich tatsächlich sagen, dass es in dieser durchgeformten Ästhetik ein Stück weit zeitlos ist. Das hätte,in Anlehnung an Eichendorff und die Romantik, im 20. Jahrhundert, auch im frühen, geschrieben werden können, oder auch in den 1950ern oder heute. Ich kann mir da eine Frau vorstellen, die im Wald sitzt und gut dichten kann und das auch macht.

Eine wunderbare Vorstellung.

Es wirkt eben sehr zeitlos, auch empathisch, melancholisch und ein bisschen mystisch. Von den aktuellen, jüngeren Autoren kommt mir da Nora Bossong in den Sinn.

IV.

und die dünnen Umwege, hatten in Kältewannen
gebadet, in Senken mit Eisstöpseln,
Schwämmen aus Kremserweiß, Bürsten,
vergipsten Gebüschen, und
einmal fiel Hagel, als wir über Bahnschwellen
wanderten, über die nach und nach völlig
verschütteten Hügel
, bemehlt meine Stimme
Einsilbigkeit, ich lehnte mich tiefer in deinen Geruch
und ich schlingerte neben dir her
wie auf Eiern, wie Bildbeschreitungen
nur auf den Fingerkuppen, im seifigen Licht
inhalierten wir Birken, die lautlosen Luftschichten,
rechtsdrehend linksdrehend Krähen,
der Atem in Festkleidung neben uns und
diese Gier nach Berührung (ein Tafelberg
den wir spazieren führten) und etwas
zog neben uns her und entfernte sich
später
die hell übersprenkelten Hänge
schon tiefer gebeugt

Sprachschöpferisch gefallen mir die „Bildbeschreitungen“. Das Gedicht ist narrativ, anschaulich und prägnant in seiner Bildsprache. Ist das von Ron Winkler? Das Baden in Kältewannen und das Inhalieren von Birken könnte darauf hinweisen. Zu ihm würde auch das „wir“ passen, das etwas 

in und mit der Landschaft unternimmt. Komponenten der Landschaft werden zum Material, mit dem das „wir“ hantiert. Allerdings sind die nackten „Bürsten“ vielleicht zu profan, als dass Ron sie in dieser Form verwenden würde. Da ist auch ein melancholischer Ton und eine Gegenständlichkeit, was mich an Gedichte von Tom Schulz erinnert.

Vokabular ist ja auch ein ganz einschneidendes stilistisches Thema: Welche Wörter sind tabu für einen bestimmten Stil? Welches Wort würde man nie benutzen?

Als Werder Bremen-Fan würde ich nie den HSV in einem Gedicht erwähnen. (lacht) Auch mit Großbegriffen wie Herz, Schmerz und Seele bin ich vorsichtig, die sind schon mächtig strapaziert. Und dann gibt es Wörter, die bekanntermaßen besetzt sind und deren Verwendung sich daher für die meisten Lyriker verbietet. Plumpe Beispiele wären die „schwarze Milch“ oder ein „Stahlgewitter“. Aber um zurück zum vierten Gedicht zu kommen: Besonders die Neologismen verleihen ihm einen artifiziellen Charakter, dem ein Sprachgebrauch mit einem alltäglichen Verständnis nicht mehr genügt. Solch ein Gedicht ist wie Porzellan, das nicht vorhanden ist, sondern erst hergestellt werden muss. Es zeigt den Willen, Sprache weiterzuentwickeln. Vielleicht ist es von Ron Winkler oder von jemand anderem, der ein kookbook veröffentlicht hat?

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