Kultursalon Madame Schoscha

Brief aus Berlin [5]

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha: Honig aus der Sonne saugen
Cadaqués

Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, über die sie sich gegenseitig berichten, sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Es scheint sich daraus eine wahre Brieffreundschaft zu entwickeln.

 

Illustration: Gastón Liberto

Welche Freude, mein lieber Herr Altobelli, Ihr letzter Brief! Ich habe Ihn mit viel Genuss gelesen. Besonders Ihre Musikanregungen haben wieder einmal fehlerfrei meinen inneren Ton getroffen. Wie machen Sie das nur? Mein gesamter Liedbestand ist bald von Ihren empfindsamen Antennen erspürt und ausgewählt. Es ist, als tragen Sie einen musikalischen Dolmetscher in sich, mit dem Sie mich und meine Vorlieben übersetzen könnten.

Apropos Vorlieben: Ich befinde mich auf Reisen! Verzeihen Sie mir also, wenn dieser Brief etwas hastig und kurzweiliger ausfallen wird. Ich wollte es mir aber dennoch nicht nehmen lassen, Ihnen von unterwegs – oder gerade von dort - zu schreiben. Auch fordern die Ausführungen Ihres letzten Briefes zum Thema Vorsätze und Hoffnungen eine, von mir so empfunden, bedachte Antwort.

Mit diesem ersten Ausflug im neuen Jahr, erfülle ich mir meinen Vorsatz für 2013: Ich möchte mehr reisen. Nicht so sehr, um in der Ferne irgendetwas zu suchen, als viel mehr, um in der näheren Umgebung etwas Ruhe zu finden. Soviel Hoffnung bleibt. Es gibt sie, die Orte der Stille, auch hier in und um Barcelona herum muss es sie geben.

Die andere Hoffnung, die mit dem Reisen meist unwillkürlich verknüpft ist, etwas oder jemanden oder wenigstens Teile von sich auf dem Weg zu finden, oder aber genau diese auf der Strecke zu lassen, habe ich glücklicherweise aufgegeben. „Reise“ ist „die Fahrt an einen entfernten Ort“, heißt es. Es liegt nahe zu glauben, dass dort, an diesem Ort alles in weite Ferne rückt. Die innere Landschaft aber ist nicht zu verlassen. Klebt an uns, wie ein Schatten. Dabei hegen wir alle wohl immer wieder die stille Sehnsucht, unseren Schatten wie einst Peter Pan, und sei es nur für einen Moment, verlieren zu können. Das uns Anhaftende hinter sich lassen, wie einen Koffer in längst vergessenen Räumen. Darin die abgetragenen Schatten, von denen man glaubte, sie passten nicht mehr. Und die man, wenn man wieder wagt an sich herabzusehen, weiterhin Schicht um Schicht fest an der eigenen Haut kleben findet. Mittlerweile nehme ich meinen alten Koffer immer schon im vornherein mit, stelle ihn mir in den Weg, um regelmäßig darüber fallen zu können. Nach all meinen Reisen, und Sie wissen, es waren viele, habe auch ich die nicht mehr neue Erkenntnis gewonnen, dass man zwar reisen, aber nicht vor sich selbst Reißaus nehmen kann.

Wovor man allerdings Reißaus nehmen kann, möchte man meinen, ist Lärm. Diese Stadt hier gestaltet dieses Unterfangen indes recht schwer. Barcelonas Pegel lässt mich permanent die inneren Regler herunter drehen. Bald werde ich mich gar nicht mehr hören. Um also nicht den Kopf in der eigenen Lautlosigkeit zu verlieren, habe ich mir vorgenommen, so oft wie möglich aus der Stadt, in die Natur zu fahren, einen Augenblick durchzuatmen. Sie werden schon hier Ihre Antwort auf Frischs Frage anklingen hören.

Zuerst aber sollte ich Ihnen endlich meine Koordinaten durchgeben: Ich befinde mich in Cadaqués!

Ein befreundeter Journalist hat mich spontan auf seine Recherchereise eingeladen und ich habe ohne zu Zögern die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, besagten Vorsatz einzulösen und diesen sagenumwobenen Ort, das Juwel der Costa Brava nach Jahren ein zweites Mal erwartungsvoll zu bereisen.

Sie werden von Cadaqués gehört und gelesen haben. Ein reizendes, weiß getünchtes Fischerdorf, mit einer Handvoll Einwohnern. Salvador Dalí hat hier seine Kindheit verbracht und später mit seiner Frau Gala gelebt. Er ließ sich an der Bucht von Port Lligat am Hafen nieder, woraufhin sich der Ort mehr und mehr zum Anziehungspunkt für Künstler (und solche, die es sein wollten) entwickelte: Federico García Lorca, Pablo Picasso und Joan Miró ließen sich hier gerne den tramuntana um die Ohren pfeifen. Die Crème de la Crème der Surrealisten, André Breton, Luis Buñuel, Marcel Duchamp, Paul Éluard, Max Ernst, Man Ray, ließ es sich nicht nehmen, Dalí einen Besuch abzustatten. Ich musste beim Lesen dieser Namen an den erheiternden Band >„Recherchen im Reich der Sinne: die zwölf Gespräche der Surrealisten über Sexualität 1928 – 1932“ denken, den ich vor einiger Zeit höchst amüsiert gelesen habe (bitte tun Sie es mir gleich!) und konnte mir daraufhin nur zu gut vorstellen, wie die Treffen in Cadaqués abgelaufen sind. Die Feste sollen legendär gewesen sein.

Davon angelockt fielen Hippies aus allen Herren Ländern auf ihren VW-Bussen reitend in das Dörflein ein, in der Hoffnung an ihrem Sehnsuchtsort vom großen Meister persönlich entdeckt zu werden. Bis heute sitzen alternde Aussteigertypen deren Dreadlocks an den Hinterkopf gewandert sind, gestrandet am Straßenrand, drehen aus zerknitterten Tabakpäckchen ihre Blättchen zusammen, kraulen das staubige Fell heimatloser Streunerkatzen und verkaufen selbstgeschraubte Armbändchen aus Gabeln und Dosenblech. Sie scheinen weltvergessen akzeptiert zu haben, dass ihre Reise hier zu ende ging.

Cadaqués unterdessen ist ein Magnet für Künstler geblieben. Ihre ewig suchenden Schützlinge der Akademie könnte es interessieren, dass auch dieses Jahr wieder diverse Preise ausgeschrieben werden. Darunter der >Miniprint International 2013, offen für alle Künstler und Techniken des Druckverfahrens. Die Gewinner werden in Cadaqués, aber auch in Frankreich und anderen europäischen Städten ausgestellt und einem breiten Publikum präsentiert. Darüber hinaus werden jährlich Literaturpreise verliehen. Darunter, offen für alle europäischen Sprachen, der Journalistenpreis >Cadaqués a Carles Rahola und der Übersetzerpreis Cadaqués a Quima Jaume.

Vielleicht liegt die Anziehung dieses Ortes in der bizarren Schönheit seiner Landschaft. An nur wenigen Orten der Costa Brava ist sie noch so ursprünglich. Auch mich regte einst auf Reisen diese Wildheit dazu an, gerade aus den Kinderschuhen gestolpert und voller Hoffnung von einer glänzenden Fotografinnen-Karriere träumend, Aktfotos von meinem damaligen Begleiter zu schießen. Eine iranische Perle für wahr, doch der Arme, ich habe noch immer sein zerknirschtes Gesicht und seine der Linse ausweichenden, verschämten Bewegungen auf den schwarzen Felsen im Uferwasser vor mir.

Genau an dieser Stelle erinnere ich mich wieder an Frisch. Was mich mit Hoffnung erfüllt, haben Sie mich im letzten Brief mit seinen Worten gefragt, worüber ich bei einigen kräftigen Gläsern Rotwein nachgedacht habe. Ich weiß nicht, wo sie mich einsortiert haben, aber ich glaube, Sie lagen falsch, mein lieber Herr Altobelli. Es ist weder die Kunst, noch die Wissenschaft und vor allem nicht die Geschichte der Menschheit. Was die Menschheit betrifft, habe ich nämlich und grundsätzlich nur wenig Hoffnung.

Wenn überhaupt erfüllt mich mit Hoffnung die Natur. Ihre ewige, unermüdliche Erneuerung. Auch wenn der Mensch ebenso den Gesetzen des Werdens und Vergehens unterworfen ist und sich sklavisch dem technischen Fortschrittsgedanken verspricht und zumindest scheinbar das Menschheitsgedächtnis weiter mit sich trägt, so sehe ich dennoch keine Entwicklung in unserer, mir unnatürlich scheinenden und permanent erzwungenen Erneuerung. Und auch wenn wir uns auf jede Reise selbst mitnehmen, sehe ich in der Reise der Menschheit nur die Fortbewegung von derselben und von dem, was mir zu hoffen gibt.

Ich schicke Ihnen also als Antwort auf Ihre Frage meinerseits eine Frage aus Pablo Nerudas herrlichem und immer wieder neu zu entdeckendem Libro de las preguntas (Buch der Fragen), das als sein poetisches Testament gilt und das Sie lesen m ü s s e n. Daran dürfen Sie gerne bis zum nächsten Brief tüfteln:

„Warum bringt man den Hubschraubern nicht bei, / aus der Sonne Honig zu saugen?“

Und da wir auf unserer gedanklichen Reise nun in Lateinamerika angekommen sind: Vor kurzem fiel mir beim Stöbern in meinen Regalen der zerfledderte Band von Alfonsina Storni in die Hände, den ich während meines Aufenthaltes in Argentinien vor einigen Jahren entdeckt hatte. Schnurstracks habe ich das Büchlein intuitiv in meine Reisetasche nach Cadaqués gesteckt, um mich erneut von ihrer Stimme begleiten zu lassen. Und ich hatte Recht, ihre Worte passen sich ganz wunderbar in diese Landschaft ein.

Sie rühren mich an, ihre Verse. Ebenso ihre Geschichte. Alfonsina Storni gilt heute als eine der großen Wegbereiterinnen der lateinamerikanischen Frauenliteratur, der argentinischen Avantgarde. Damals aber sah sie sich, als Geliebte eines verheirateten Mannes mit einem unehelichen Kind, heftig den gesellschaftlichen Konventionen ausgeliefert. Sie erzählt in ihren Texten von der Einsamkeit des modernen Lebens und der Trostlosigkeit der Großstadt. „Denen, die genau wie ich nicht einen einzigen ihrer Lebensträume verwirklichen konnten.“, lautet bezeichnenderweise die Widmung ihres Gedichtbandes Languidez (Ermattung). Sie klingt dabei selbst wie eine Seele, die keine Hoffnung mehr fand, egal wohin sie ging: Sie verlor sich im Goldfischglas Buenos Aires.

Ihre letzte Reise trat sie demnach selbstbestimmt ins Meer an. Und das meine ich wörtlich. Schritt für Schritt ging sie am Strand la perla einen letzten, unendlichen Gang in den Ozean. Ich muss dabei an Das letzte Einhorn denken, das sich seinerseits auf eine lange Reise begab um Seinesgleichen zu finden, die alle vom roten Stier in die Fluten gejagt wurden. Auch Alfonsina Storni wurde vom roten Stier der Moderne ins Meer getrieben.

Kurz zuvor schrieb sie das Gedicht Voy a dormir (Ich gehe schlafen), das sie noch zur Post brachte und das zwei Tage nach ihrem Tod von der Zeitung La Nación veröffentlicht wurde.

„Du gehst fort, Alfonsina, in deiner Einsamkeit, / Zu welchen neuen Gedichten hast du dich aufgemacht? / Eine uralte Stimme aus Wind und aus Meer / Umschmeichelt deine Seele / Und ruft sie zu sich, / Und wie im Traum gehst du hin, / schlafend Alfonsina, eingehüllt im Meer.“

So besingt Mercedes Sosa die Dichterin, in dem auffallend lyrischen Lied Alfonsina y el mar. Ich verehre die argentinische Sängerin und bereue es innigst, sie niemals live gesehen zu haben, bevor sie vor drei Jahren gestorben ist. Es gäbe so viel von ihr, was ich Ihnen empfehlen könnte, aber am besten hören Sie zunächst ihr Album 30 Años und begleiten sie auf der Reise durch 30 Jahre ihrer eigenen Musikgeschichte. Darauf findet sich im Übrigen auch Alfonsina Stornis Lied, dessen Melodie, aber vor allem dessen Text Sie unbedingt hören sollten. Es trifft wiederum genau Alfonsina Stornis inneren, sehnsüchtigen Ton, der sie – unbeantwortet – ins Meer getrieben hat.

Diesen Ton und die Sosa im Gedankenohr und meine selbstvergessene Mitsingstimme auf den Lippen, verabschiede ich mich heute mit einem kleinen Präsent, dass Sie ebenfalls im Umschlag finden werden. Bei dem Anhänger handelt es sich um ein Pounamu. Ein aus Neuseeland von den Māori aus Jade gefertigtes Schmuckstück. Ich habe es überrascht bei einem der Hippies in Cadaqués entdeckt, dem scheinbar entgangen war, welche Kostbarkeit sich unter die Kinkerlitzchen auf seiner Verkaufsdecke gemischt hatte, und dem ich es zu einem Spottpreis abgekauft habe.

Es gibt eine Fülle an Symbolen und Bedeutungen unter den Anhängern, Ihres wird als twist bezeichnet - das Reise-Symbol. Die verschlungene Form stellt die vielen Wege des Lebens dar und wird als Zeichen der Ewigkeit betrachtet. Es steht für die Stärke der festen Freundschaft, der tiefsten Loyalität und der immer währenden Liebe. Die Verflechtungen in einem twist stellen diese unvergängliche Bindung zweier Menschen dar: Obwohl sie sich immer wieder voneinander fort bewegen, kommen sie doch wieder zusammen, um eins zu werden.

Womit der Anhänger am besten ausdrückt, wie Reisen und Hoffnung unmittelbar miteinander verknüpft scheinen. Es ist als wäre Reisen eigentliches Hoffen und Hoffnung nichts anderes als eine lange Reise.

Ich überlasse damit heute das Abschlusswort Vacláv Havel, der meiner Meinung nach die treffendsten Worte zum Thema gefunden hat und die Sie gerne als direkte Antwort auf Ihren letzten Brief lesen können:

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

In diesem Sinne verneigt sich vor Ihnen mit einem Knicks

Ihre Madame Schoscha

PS: Anbei wieder eine Illustration von Gastón Liberto, aus seinem großformatigen Bild Barcelona – Dulces Sueños. Wie angekündigt, lassen sich die Illustrationen nach und nach zu einem Gesamten zusammensetzen.

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