Brief aus Brandenburg [20]
Madame Schoscha lebt seit Kurzem in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Hin und wieder melden sich auch alte Weggefährten der beiden zu Wort. In diesem Monat ist es ein Fräulein Ohm aus dem nördlichsten Brandenburg.
Lieber Freund aus alten und neuen Zeiten,
dass Sie mir so schnell zurück geschrieben haben, vermag ich an Freude noch nicht in Worte zu fassen. Als ich heute Morgen zwischen all der Supermarktwerbung ihre weiße Blütenpost hervorblinken sah, war ich in dem Moment doch unglaublich erleichtert, dass Sie mich mit Ihrer Antwort nicht lange haben warten lassen. Enthielt mein Brief an Sie doch eine gewisse energische Forderung, die Dinge zu erklären. Ihre ehrliche Antwort beschließt in dem Sinne auch für mich das Ende eines Wartens. Zumindest scheinen WIR die Verwirrung des letzten Jahres hinter uns gelassen zu haben. Madame in Barcelona, fürchte ich, wird um die klaren Worte noch eine Weile einen Bogen ziehen.
Die Zeilen ihres letzten Briefes, Altobelli, haben mich sehr berührt und in mir die Erinnerung an eigene Verluste wachgerufen. Ich kann die Erfahrung bestätigen, dass der Tod für einen Moment die Dinge an ihre richtige Stelle rückt. Auch habe ich schon so manches Mal überlegt, ob seine einzig wahre Funktion, seine Integrität vielleicht darin liegt, im Abstand den Menschen so sehen zu können, wie er wirklich war. Ob der Tod an sich für die ohnmächtig in Stille verharrenden Verbliebenen die einzige Möglichkeit ist, die Wahrheit zu sehen. Indes scheint mir der Umgang mit der Wahrheit oft an Schmerz geknüpft zu sein, nicht wahr?
Ich hoffe, ich kann Sie ein wenig mit der Nachricht erfreuen, dass der Räuber Heine Klemens, an dem ich hier in der Prignitz für ein Kinderbuch meine Worte trainiere, an Form, Größe und Eigenleben gewinnt. Die Figur, von mir nicht erfunden aber nun entworfen, beginnt, mit ihrer Stärke auf meine Wahrnehmung abzufärben. Sie kennen das sicher aus eigener Schreibexpertise. Trotzdem bin ich beim Formulieren immer wieder überrascht, wer durch meine Brille da um die Ecke geritten kommt. Versuche ich, mir die gefährlichen Raubzüge des Ritters einmal im Hier und Jetzt vorzustellen, entsteht in mir eher das Bild eines Rechtsanwalts im Sportwagen, der durch Mähdrescher blockierte Alleen im Schneckentempo dahin kriecht. Das Mittelalter im Hier und Heute zu visualisieren, gelingt nicht immer, ist aber unterhaltsam. Obwohl ich mich schon frage, wie viel Verwegenheit hier in Pritzwalk zur Jahreszeit der Ernte so möglich ist, wenn sich die Schädlingsbekämpfung zum beliebtesten Gartenzaunthema entwickelt, zügig gefolgt von der Frage: Haben die Jahreszeiten vergessen, dass der August eigentlich zum Sommer gehört? Die Integrität eines Sommermonats steht hier schließlich auf dem Spiel.
Einer meiner ländlichen Streifzüge hat mich in den letzten Tagen in das Schloss Reckahn geführt. Hier befindet sich das Rochow-Museum, das einen Brandenburger Meilenstein für Bildung und Erziehung markiert. Ein Freiherr von Rochow hatte hier ganz wunderbare Ideen, wie man Mädchen und Jungen erziehen könnte und gründete eine Musterschule, deren Modell schnell Verbreitung fand. Ich konnte gar nicht glauben, dass diese Ideen, tief getränkt in das Wasser der Aufklärung, in Brandenburg schon Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich gelehrt und gelebt wurden! Hier ist die Rede von „selbstständigem Denken und Ausprobieren“ und einem „Eigenrecht auf die Problemlösung“. Von Rochow verstand die Kinder als „Gegenüber der Erwachsenen“ und die Rolle des Lehrers eher als Unterstützung im Lernprozess. Der Pädagoge sollte wie ein aktiver Lernhelfer erst dann eingreifen, wenn die Kinder ihn dazu aufforderten. Es wirkt befreiend zu lesen, dass Rochow zudem ein Pazifist in der Anwendung disziplinarischer Mittel war:
Wo oft und viel in einer Schule geschlagen wird, dieses mir für einen Beweis gelte, die Anstalt leide an wesentlichen Fehlern. Denn, verstehen die Lehrer ihre Kunst, so ist in geschickten Händen alles Belohnung, alles Strafe; und der einer Schul-Anstalt einmal ausgedrückte Gemeingeist bewirkt mehr, als Stock und Ruten vermögen.
Und so plädiert er dafür,
die Fehler da zu suchen und zu verbessern, wo sie eigentlich sind – hier im Grunde – dort in den Schulgesetzen, in der Methode, und – in der fehlerhaften Wahl der Lehrer.
Kommt uns das nicht bekannt vor? Darum wissend, dass es ab Mitte des 19. Jahrhunderts wieder den Trend einer autoritäreren Erziehung annahm, um diesen Mitte des darauffolgenden Jahrhunderts quasi mit Atomwaffen einzureißen, frage ich mich, in welcher Phase wir nun angekommen sind. Wiederholt sich die Geschichte oder multipliziert sie sich?
Vor einer Woche fand ich überraschend einen Brief von meiner Tante im Postkasten. Der Brief enthielt zu meiner Verwunderung nicht die gewohnten Weihnachts- oder Geburtstagsgrüße, sondern eine Frage. Meine Tante hatte die ersten 60 Jahre ihres Lebens gehörlos erlebt und nun mit Hilfe einer schwierigen Operation einen Teil ihres Hörvermögens zurück erhalten. Sie vermag noch nicht einem normalen Gespräch auf der Straße zu folgen, aber sie kann Musik hören und schrieb mir von der neuen Welt, die sich ihr nun eröffnet. Sie bat mich um einen Gefallen. Auch ich kannte die wunderschöne Stimme ihrer Mutter, die in frühen Jahren ihres Lebens wohl gern Opernsängerin geworden wäre. Doch der Krieg entschied gegen ihre Leidenschaft und sie sich für ihre Familie. Erst in späteren ruhigeren Nachkriegsjahren wagte sie erneut, ihrer Berufung zu folgen und wieder Gesangsunterricht zu nehmen. Meine Tante wuchs mit Bildern auf, die sie nie richtig verstand. Sie sah vor sich ihre Mutter in der guten Stube am Klavier sitzen, die sich beim Singen begleitete und ihren Blick selig inspiriert in die Ferne steigen ließ. Stunden um Stunden muss meine Tante an ihrer Seite gesessen haben, nie verstehend, was Singen überhaupt bedeutete, in einem Leben voller Stille. Wie erklärt man jemandem Musik, der nicht hören kann?
Meine Tante war der Frage jetzt nach all der Zeit einen Schritt näher gekommen und bat mich, nach einer Sängerin zu suchen, deren Stimme der ihrer verstorbenen Mutter ähnelte. Ich war sehr gerührt von der Frage und habe intensiv angefangen zu suchen.
Auf meiner Suche begegnete ich der englischen Perkussionistin Evelyn Glennie, die in Kindheitsjahren durch eine Nervenkrankheit ihr Gehör größtenteils verlor. Sie lernte, ihren Körper als Resonanzraum zu nutzen, lernte, anders zu hören, wie sie selbst sagt, „den Klang zu berühren“. Denn nichts existiert ohne zu schwingen, kein Haus, kein Baum, keine Trommel. Unser Seh- und Hörsinn vernebelt uns die Sinne, jene Schwingungen wahrzunehmen, die Glennie neu spüren lernte. Heute ist sie eine gefeierte Musikerin, die an die hunderte Konzerte im Jahr gibt. Der wundervolle Film Touch The Sound von Thomas Riedelsheimer hat ihre Art zu leben und zu musizieren auf eindrucksvolle Weise eingefangen. Ich kann Ihnen versichern, nachdem Sie den Film gesehen haben, schließen Sie die Augen und wollen mit dem Hören noch einmal von vorn anfangen.
Integrität braucht keine Regeln. (Albert Camus)
Während der Suche nach dieser sehr besonderen Stimme bin ich auf Jessye Norman gestoßen und ihr vielfach interpretiertes „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von Gustav Mahler. Dabei musste ich drei Dinge feststellen: Erstens wurde dieses von mir zu manch später Stunde lautstark durch die Kopfhörer tönende Lieblingswerk von keiner anderen Sängerin besser interpretiert als von Jessye Norman. Zweitens ist wohl kein menschliches Merkmal unverkennbarer als die Stimme. Und je länger ich suchte, umso mehr musste ich feststellen, dass wohl kaum eine Stimme der Mutter meiner Tante ähnelte. Wenn es sie interessiert, für wen ich mich nach qualvoller Suche doch entschieden habe: Es ist Nathalie Stutzmann.
Meine Tante hat sich sehr über die Musik gefreut. Sie sagt, es sei als wäre sie sich nun eines Teils in ihr bewusst, den es zwar vorher schon gab, den sie aber jetzt endlich fühlen könne. Und auch ich habe am Ende dieser Reise einen Teil in mir spüren gelernt. Es scheint doch mehr Musikalität in meinen Adern zu fließen als ich dachte.
Lieber Freund, Ihre Ankündigung, mich hier in der Prignitz besuchen zu wollen, hat mich mehr als gefreut! Bitte geben Sie mir noch die genauen Daten Ihrer An- und Abreise bekannt. Sie können selbstverständlich so lange bleiben, wie Sie wollen.
Es grüßt Sie in neuer Verbundenheit,
Ihr Fräulein Ohm
Literatur:
Friedrich Eberhard von Rochow in: Riemann, Carl Friedrich: Neue Beschreibung der Reckanschen Schule, größtentheils zugleich ein Practisches Handbuch für Lehrer welche nach Reckanscher Lehrart unterrichten können und wollen. Mit einer Vorrede von Friedrich Eberhard von Rochow, Erbherrn auf Reckan, Berlin/Stettin 1792.
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