Brief aus Barcelona [26]
Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr an wechselnden Orten in Berlin stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag. Hin und wieder melden sich auch alte Weggefährten der beiden zu Wort, wie ein Fräulein Ohm aus dem nördlichsten Brandenburg oder der eigenartige Thomas Reger aus Chemnitz.
„Wer ich war, das weiß ich schon, aber ich muß seither wohl mehrere Male vertauscht worden sein“
Jetzt schreibe ich Ihnen. Ich habe es mir versprochen, Altobelli. Ich schreibe Ihnen, Sie fehlen mir. Hier fange ich an, lieber Altobelli, in meinem Kopf, wo in den letzten Monaten wieder einiges durcheinandergeraten ist. Alles wurde wieder ein paar Zentimeter, Millimeter verrückt, Altobelli, verstehen Sie? Ich denke dabei an den fünf Uhr Tee beim Hutmacher, zu dem Alice kommt. Ich sehe dort auf der langen Tafel die Tassen ein wenig schräg auf den Untertellern stehen, den feinen Porzellandeckel der Teekanne schief auf dem Kopf der Maus sitzen, die aus der Kanne spitzt. Alles leicht verrückt.
So stand es auch um mich, bzw. standen die Dinge in meinem Kopf alle wieder nur fast an ihrem Platz. „Wie meinen Sie das? Erklären Sie sich!“, höre ich Sie aus dem imaginären Off rufen und ich kann nur sagen: „Ich fürchte, ich kann es nicht erklären, denn ich bin gar nicht ich, sehen Sie.“
Ich habe die letzten Monate in einem Dunkel verbracht. Mit vielen Abgängen und keinem Ausweg. Und dabei kann ich nicht behaupten, dass ich „meines Wesens Dunkelstunden“ liebe. Irgendwann fand ich mich in einem dieser, von mir so verabscheuten Häuser wieder, die sie für die betuchten Leute „Sanatorium“ nennen. Wir beide wissen, dass es das nicht ist - keiner der dort landet, kann noch geheilt werden. Es wurde wieder alles Mögliche in mich hineingestopft, um die Dinge zurück an ihren Platz zu rücken, wie auch immer das aussehen mag. Aber auch mit diesen Überbrückungskrücken bin ich nicht ich. Wann war ich es jemals? Zumindest wird so eine Zeitlang wieder etwas Licht und Ordnung geschaffen. Einen Ausweg aber, Altobelli, den gibt es für mich nicht.
"Wie gut", höre ich Sie jetzt sagen, "dass Sie sich nicht auch noch um Ihre Finanzen sorgen müssen." Ja sicherlich, wie gut das ist. Die Hinterlassenschaften meiner Familie sind ein Segen. Oder Fluch, wer weiß das schon. Die Trägheit hat einen Preis, Altobelli, vielleicht meinen Geist. Wer nicht für sich sorgen muss, dem kommt auf dem Weg der Sinn, vielleicht sogar der Verstand abhanden. Aber was weiß ich schon. Vielleicht ist es genau anders herum. Ich verzettel mich. Oder wissen Sie noch, warum wir uns der Kunst gewidmet haben? Nach allem was die Welt die letzten Monate hervorgebracht hat, verliere ich immer mehr die Antwort darauf. Ist die Beschäftigung mit Kunst nicht nur sinnentleertes Fokussieren auf ein Künstliches? Mir scheint, heute will niemand mehr unseren Realitäten etwas Handfestes entgegensetzen. Irgendwo habe ich kürzlich gelesen: Wer sein Talent zum Wohle der Gemeinschaft einsetze, sei auf dem richtigen Weg. Unabhängig davon, ob ich diese Einschätzung teile, stelle ich uns hier dennoch die Frage: Welchen Beitrag leisten wir, Sie an der Akademie für n. K., und ich auf meinem breiten Sitzfleisch, sinnlos Papier beschreibend. Und die jungen Leute, die wir betreuen? Stellen Sie sich diese Fragen? Womit identifizieren wir uns heute noch, außer mit uns selbst (in sozialen Netzwerken)?
Womit hatte sich zuletzt der junge Mensch identifiziert, der ein Flugzeug gegen einen Felsen gelenkt hat (wer dieser Version glauben schenken möchte)? Oder fand er nichts mehr, womit er sich identifizieren konnte? Oder heutzutage eben zu viel davon? Der Psychoanalytiker Erik Erikson schrieb, Identität sei u.a. ein Wissen um die eigene Unverwechselbarkeit und deren Bejahung. Schlage ich diesen, mir immer wieder entschlüpfenden Begriff nach, erfahre ich, Identität bedeute die Echtheit einer Person, die völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird. Als „Selbst“ erlebte innere Einheit. Ist so etwas heute überhaupt möglich? Identität als positiver Selbstwert. Sind wir nicht alle vielmehr zersprungene Spiegel, bleiben aber in dieser sich immer weiter ausdehnenden Zersplitterung isoliert? Wenn Sie mögen, schauen Sie zu diesem Thema doch einmal ausnahmsweise eine TV Serie, Transparent, die meiner Meinung nach aus der Masse heraussticht.
Bei den Buddhisten heißt es, wem es gelingt sich frei zu machen von allen Identifikationen, angefangen beim eigenen Körper, den Rollen, die wir in unserem Leben einnehmen, Beruf, Familie ect., der findet zur Glückseligkeit. Dieser Theorie könnte ich Glauben schenken, beobachte ich meine Besuchskatze. Sie ist einfach nur da. Ich beneide sie.
Es drängt sich mir hier in Barcelona natürlich immer wieder die Frage auf, womit sich die Katalanen als Volk identifizieren? Ich schrieb Ihnen in einem Brief über Heimat. Liegt dort die Identität eines Menschen, an dem Ort, wo wir geboren wurden? In unserer Kultur? Unserer Sprache. In Katalonien findet eine ungeheure Identifikation über Sprache statt, Katalane zu sein, heißt Katalanisch zu sprechen, an einem Gut festzuhalten, das so viele Jahre unterdrückt wurde. In dem Flugzeug dessen Bruchstücke gerade aus den Bergen Südfrankreichs geklaubt werden, saßen auch Katalanen. Als dort kurz nach dem Unglück ein Gedenkstein mit einer Inschrift auf Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch aufgestellt wurde, brach eine Welle der Empörung über das Internet herein. Es entbrannte eine wilde Diskussion darüber, warum auf dem Stein nicht auch Katalanisch stehe, was offiziell als „ein Fehlen von Sensibilität“ bezeichnet wurde. Frankreich entschuldigte sich, auf einem neuen Gedenkstein werde dies geändert. Ich habe mich gefragt, hat das etwas mit Identität zu tun? Sich nur wenige Tage nach einem solchen Ereignis über scheinbar fehlenden Respekt zu echauffieren, statt tatsächlich der Toten zu gedenken? Hat das seine Berechtigung? Oder handelt es sich hier um eine tiefverwurzelte Unsicherheit über die eigene, so lang unterdrückte, kulturelle Identität, weswegen, für Außenstehende manchmal schwer nachvollziehbar, so kompromisslos um ihre Parameter gekämpft wird? Führt das, in diesem Fall wortwörtlich zu nehmende pedantische Festschreibenwollen dieser Parameter zur eigenen Selbstversicherung, nicht aber zu (auch sich selbst) ausgrenzenden Weltanschauungen und Handlungsweisen? Ich verstehe die Sehnsucht nach einem „Wir-Gefühl“ einer ehemals geknebelten Kultur, emanzipatorische Forderungen, um den von außen auferlegten Zuschreibungen etwas entgegenzusetzen. Eine Kultur kann auf den früheren Aggressor und die von ihnen immer noch empfundene Bedrohung nur mit Stolz und Widerstand reagieren. Und mir wurde bestätigt, dass einige hier glauben, dass der manchmal recht starrköpfig wirkende Akt der Selbstdefinition Kataloniens, gegebenenfalls nur ein vorübergehendes Phänomen sei, um die jahrzehntelange Unterdrückung zu kompensieren und sich als Volk zu etablieren und stabilisieren. Ich denke dabei an ein Pendel das nach und nach zu einer Mitte findet. Wenn das raue Wüten des zornigen Meers/in gleicher Stärke lang währte, so fände/sich schwerlich ein Mensch, der sein rankes/Schiff der aufgebrachten Flut anvertraute; schrieb Cervantes` einst. Dessen sterbliche, als vermisst geltende Überreste, wurden übrigens jetzt vielleicht unter einem Madrider Kloster entdeckt. Was bleibt von uns, wenn sich alles auflöst? Was ist es, was uns auch schon zu Lebzeiten im Innersten zusammen hält? Neben Cervantes´ Knöchelchen unter der Erde, sind seine Texte geblieben. Wie die Sätze auf dem Gedenkstein in den französischen Alpen. Wäre Ihnen, Altobelli, aufgefallen, wenn Deutsch als Inschrift darauf gefehlt hätte? Aber vermutlich wäre das erst gar nicht geschehen, nicht wahr, Deutschland wäre auf dem Stein nicht vergessen worden. Bitte erlauben Sie mir all diese Fragen, ich will dabei auf keinen Fall die katalanische Seele angreifen, ganz im Gegenteil, ich will lernen sie zu verstehen.
Deshalb habe ich mich auch endlich für einen Katalanisch Kurs angemeldet. Wer eine fremde Sprache spreche, habe ich in einer neuen Studie gelesen, verändere mitunter Körpersprache, Ausdruck und Stimmlage. Manche fühlen sich wagemutiger, eleganter oder geheimnisvoller. Sprachen würden also wie Masken wirken. Welche Maske werde ich wohl im Katalanischen finden? Es heißt auch, Sprache, Mimik und Gestik, unsere Formen der Kommunikation, seien das Mittel für die Ausbildung von Identität. Sie entwickele sich so in jeder zwischenmenschlichen Situation neu, lautet eine Theorie. Vielleicht fühle ich mich deswegen in Katalonien immer noch und immer wieder so verloren. Weil mir dieses Mittel nicht bzw. nur in seiner verhassten Form (Spanisch) zur Verfügung steht. Ich bin gespannt, ob sich mit dem Katalanisch hier für mich etwas verändern wird.
Dazu fällt mir der aufgehende Stern am katalonischen Musikhimmel ein: Nuria Graham, die nicht wie es zu erwarten wäre auf Katalanisch sondern auf Englisch singt. Und dennoch wird sie hier gefeiert. Ich denke dabei an die über die Grenzen Kataloniens hinaus berühmt gewordenen Autoren, die auf Spanisch geschrieben haben. Ist das Doppelmoral oder legitim? Das haben sich auch schon die Katalanen gefragt, als sie 2007 Gastland der Frankfurter Buchmesse waren. Und Autoren wie Carlos Ruíz Zafón oder Eduardo Mendoza nicht eingeladen wurden oder selbst absagten, weil sie nicht vor den nationalistischen Karren gespannt werden wollten, bzw. das auf Ausgrenzung des Spanischen bedachte Programm nicht gutheißen wollten. Kann man also Katalane sein, aber auf Spanisch schreiben oder Englisch singen, oder macht das einen zum Landesverräter? Eine katalanische Bekannte findet dafür eine einfache Erklärung: Unabhängig davon wo du geboren wurdest, gehört deine Literatur zu der Sprache, die du zum Schreiben verwendest. Wer auf Spanisch schreibt, gehört zu spanischsprachigen Literatur, nicht zur katalanischen. Klingt einleuchtend. Wobei diese Rechnung bei Nuria Graham nicht aufzugehen scheint, da sie als katalanischer Exportschlager gehandelt wird. Aber das auch acht Jahre nach der Buchmesse.
Machen Sie sich auf jeden Fall darauf gefasst, noch viel von diesem Mädchen zu hören. Dabei ist sie gerade erst achtzehn Jahre alt. Aber was bedeutet das schon? Wir neigen dazu, auch uns selbst immer wieder kategorisieren und dann darüber Urteile fällen zu wollen. Wie alt ein Mensch auch sein mag, es scheint diejenigen zu geben, die mit besonderen Talenten ausgestattet sind. Wobei ich mir auch hier wieder die Frage stelle, ob das automatisch mit einer Identifikation derselben einhergehen muss?
Wie dem auch sei, ich habe Nuria Graham vor wenigen Tagen live bei ihrem ersten Konzert für ihr erstes Album Bird Eyes gesehen. Ich bin sehr dankbar, dass ich bei diesem sehr intimen Auftritt am Anfang ihrer Karriere dabei sein durfte. Es fühlte sich wie Privileg an, dieses blasse, schmale Mädchen - einen Teenager – dabei zu beobachten, wie sie zum Publikum sprach, sich verhaspelte, noch nervös an den Fingern zupfte, in ihren Blättern wühlte. Und sobald sie in die Saiten ihrer elektrischen Gitarre griff, die an ihrem Körper gigantisch und deplatziert wirkte, war nichts mehr da von diesem Lampenfieber. Verwandelte sie sich in eine derart lässige Musikerin, die ein Gitarrensolo nach dem anderen hinlegte, dass einem die Spucke wegblieb. Dabei ist sie kein Wunderkind und auch keines dieser fertig gebügelten Abziehbilder profilloser Sternchen. Auf der Bühne stand sie. Mit ihrer Stimme, mit ihrer Musik, die sie aus den Proberäumen mitgebracht hatte, mit ihren Texten. Nichts davon war perfekt, die Strukturen der Band noch nicht überzeugend, vielmehr verschwand sie zu sehr hinter Schlagzeuger und Bassisten. Ihre Texte waren tatsächlich die einer Achtzehnjährigen, mit diesem eifrigen, jugendlichen Mitteilungsbedürfnis und einer dabei selbst so empfundenen großen Ernsthaftigkeit. Ich hatte das Bedürfnis sie aus all dem herausschälen zu wollen, zur Essenz zu kommen, vor der sie sich selbst noch zu verstecken schien. Aber es war dennoch sie, die da auf der Bühne stand, vielversprechend und mit einem Sound, der sich da ankündigte, auf den wir uns freuen können. Vor ihr liegt die Welt. Auch das erfüllte mich mit Neid. „If I close my eyes I see expectations“, sang sie mit bezaubernder Stimme. Mit den Lebensjahren, Altobelli, vergehen die Möglichkeiten, die eigene Welt wird immer kleiner.
Ich habe Ihnen einen ganz kurzen Konzertmitschnitt beigelegt. Ich übe mich gerade im Sammeln von akustischen Eindrücken und wollte Sie ein wenig am Abend mit Nuria Graham teilhaben lassen. Gehen Sie schlicht oben rechts im Brief auf das Audiosymbol, das Passwort ist "Konzert".
Am dankbarsten bin ich für den Schlussmoment des Konzerts: Als sie ganz artig hinter der Bühne verschwunden war, konnte ich sie, von wo ich stand, als Einzige noch sehen: Wie sie sich mit einem unterdrückten Schrei in einer unbeschreiblichen Leichtigkeit auf den Rücken ihres Bassisten warf, die Arme von hinten um seinen Hals schlang und im Scherenschnitt des Scheinwerferlichts mit ihm davon galoppierte. „I´ll be there“ hatte sie als Zugabe kurz zuvor gesungen.
Eine ähnliche Ankündigung schrieb mir wenig später einer Ihrer jungen Wilden, dem Sie meinen Kontakt gegeben hatten, per Postkarte. Er konnte ein Aufenthaltsstipendium eines Kunstprojektes ergattern, das ich kürzlich in Barcelona entdeckt und ihm empfohlen hatte: encontrarte. Die deutschen Zwillinge Henrik und Holger Sprengel haben gemeinsam mit den italienischen Künstlern Elia Sabato und Savina Tarsitano ein altes Fabrikgelände zu einer Begegnungsstätte umgewandelt, wo sich neben verschiedensten Werkstätten vor allem auch bildende Künstler und Fotografen für ein Aufenthaltsstipendium bewerben, zusammen arbeiten und ausstellen können. Auch davon wird noch zu hören sein.
Aber ich schweife wieder ab, wollte ich Ihnen doch eigentlich schreiben. Also Ihnen. Warum ich solange geschwiegen habe. Sie wissen, ich verabscheue es, solche Dinge beim Namen zu nennen (könnten geschriebene Worte Seufzer von sich geben, Altobelli, sie würden sie an dieser Stelle hören): Ihr Techtelmechtel mit Fräulein Ohm hat mich aus der Bahn geworfen, ich gebe es zu. Welch bittere Vorstellung, was sie in den letzten Monaten beim gemeinsamen Kaffee alles hinter vorgehaltener Hand gesagt haben mögen - meinen Namen.
Was ist geschehen, frag ich mich heute, wo ich wieder ein paar klare Gedanken zu fassen bekomme? Ich gehe immer wieder zurück an den Anfang: Zu unserer ersten Begegnung, Altobelli. Einige Monate später lernten wir Fräulein Ohm in einem Salon kennen. Wir drei waren ein gutes Gespann. Bis bei mir wieder die Tassen im Schrank verrückt wurden und ich Fräulein Ohm um den Finger wickelte, oder war es andersherum, heute bin ich nicht mehr sicher, erinnern Sie sich? Fräulein Ohm und ich, dass war eine Dilemma für Sie, heute verstehe ich das, damals war es mir egal. Nein, ich glaube, ich wollte Sie treffen, Sie aus mir entfernen, mir austreiben, wie einen Dämon, der mir unter die Haut gekrochen war. Sie zogen sich zurück, ich weiß warum, ich habe es immer gewusst. Irgendwann waren wir zwei uns aber nicht mehr genug, Fräulein Ohm und ich, ließen bald die Fäden, die wir für einen nervösen Augenblick zwischen uns gespannt hatten, wieder fallen. Ich nahm wieder Kontakt zu Ihnen auf. Und da waren Sie wieder, Altobelli. Und ich packte die Koffer und adéu, wie der hiesige Katalane hier mit langgezogenem e über die Straße rufen würde, Sie sehen, ich mache Fortschritte. Aber ich lenke wieder ab, ich ging also nach Barcelona, von wo ich Ihnen mit Sicherheitsabstand schreiben konnte. Fräulein Ohm ging derweil verloren, meldete sich aber Monate später ebenfalls mit Briefen zurück. Und wieder begann das Chaos, wo wir doch gerade erst einen Umgang gefunden hatten, lieber Altobelli. Bin ich es, oder ist sie es in dieser Geschichte? Ich weiß es nicht, verlier ich doch immer zu schnell den Überblick, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Ich fühle mich in dieser Welt oftmals wie dieser Außerirdische aus der Geschichte Sin noticias de Gurp (von dem hier schon erwähnten Eduardo Mendoza), der in Barcelona auf die Suche nach seinem verlorenen gegangenen Kompagnon geht und dabei eine Zeit lang, allerdings völlig ungeeignet, am Alltagsleben der Großstadtmenschen teilnimmt. Ich vermag ebenfalls nicht die Funktionsweisen dieser Welt zu durchdringen. Bin auch immer zu müde, um anständig denken zu können. Also lass ich meine Hilfskrücken eine Zeitlang weg, nur um ein bisschen denken zu können, wie war das noch. Und schon tappe ich wieder im Dunkeln, diesmal schlimmer als sonst, Altobelli, diesmal wurde ich abgeholt. Ich erinnere mich an nichts. Vielleicht ist es besser so. Aber habe ich die damaligen Ereignisse zwischen uns dennoch richtig beschrieben? Helfen Sie mir, Altobelli, an dieser Stelle aufzuräumen.
Und damit komme ich endlich zu der Frage, auf die Sie in einem Ihrer letzten Briefe eine Antwort wollten. Ich kann es nicht. Ich kann Ihnen nicht antworten, bitte zwingen Sie mich nicht. Ich weiß, ich habe so viele Menschen bei mir anlegen lassen, um mich immer wieder als Neuland zu entdecken, Sie wissen, ich brauche das, wie drei Mahlzeiten am Tag. Aber bei Ihnen wäre es anders. Bei Ihnen ist alles. Ich kann es nicht. Lassen Sie uns den gewohnten Kontakt pflegen, ja, schreiben Sie mir wieder, ginge das? Aber bitte erwarten Sie von mir keine Antworten mehr. Ich sende Ihnen stattdessen lieber einen unverfänglichen 90iger-Jahre-Hit, „You can say what you want“, von der reizenden Sharleen Spiteri, der mir in diesem Moment aus dem Radio gespielt wird.
Ich komme endlich zum Ende, Altobelli, und entlasse Sie hier. Das Wichtigste hätte ich aber fast vergessen: Ich habe entschieden in Barcelona zu bleiben. Ich bin zu müde für eine Rückkehr nach Deutschland. Wer weiß, vielleicht finde ich mich hier eines Tages doch noch zurecht. Momentan lebe ich weiterhin auf diesem schon einmal erwähnten Zwischendeck, bin hier wie dort eine Fremde. Aber ich bleibe erst einmal, wo ich bin: Aus der Ferne Ihnen ergeben. Sitze ich hier im Sand von Barceloneta, meine Zehen vermeiden den Kontakt mit der Brandung, wollen dem Mittelmeer nicht mehr zu nahe kommen. Wer wollen wir sein, möchte ich Sie hier abschließend fragen, Altobelli, wir auf der anderen Seite des Wassers? Wo die kalkweißen Muscheln, die täglich an den Strand gespült werden, längst die Form von Totenköpfen haben.
Ihre Madame Schoscha
Randnotizen:
* Miguel Cervantes: Spanische Lyrik. Miguel Cervantes, Soneto, S. 40/41. Reclam, 2004.
* Titel und Zitat S. 1: Carroll, Lewis: Alice im Wunderland. Insel Taschenbuch, 1963, S 47.
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