Sibylla Vričić Hausmann
Die Kolumne Neue Schulen soll Lyrikerinnen über 35, die aus dem Raster der klassischen Literaturförderung herausfallen, einen Raum bieten, in dem sie nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Erfahrungen und Gedanken zum zeitgenössischen Literaturbetrieb beschreiben. In unterschiedlichen Formaten wie Besprechung, Kommentar, Essay oder Interview werden im zweiwöchentlichen Rhythmus Texte und Erfahrungen der Autorinnen präsentiert. Yevgeniy Breyger, Olga Galicka und Grit Krüger freuen sich laufend über neue Einsendungen unter .
Wölfe, Tiger, Unbehagen
Es ist fast Vollmond, ich fühle mich fragil. Aber auch wuchtig.
Wie stark sind mein Denken und Schreiben von körperlichen Erfahrungen geprägt?
Was hat das mit der Kategorie „Geschlecht“ zu tun?
Die Behauptung einer spezifisch weiblichen Literatur wird dazu benutzt, Autorinnen zu marginalisieren, ihre Werke als Sonderfälle darzustellen. Oder zu verniedlichen, in eine untere Liga einzuordnen. Daher ist mir wichtig, hier zu schreiben: Es gibt nicht „die typische Lyrikerin“, die mit über 35 noch am Anfang ihrer literarischen Laufbahn steht. Zwar klingt es nach einem feinen Suchfilter (weiblich, Lyrik schreibend, über 35) – aber nein, „wir“ sind genauso unterschiedlich wie unsere Texte.
Die Altersgrenze 35 ergibt sich in erster Linie aus Ausschreibungen, Wettbewerbsgepflogenheiten. Da wird behelfsmäßig festgelegt: Bis zu diesem Alter ist eine Autorin oder ein Autor jung, Nachwuchs, förderwürdig, „frischer Wind“. Tatsächlich sind biografische und literarische Entwicklungsgeschwindigkeiten sehr individuell; auch ist das Leben jenseits der Nachwuchs-Deadline weiter aufgegliedert in diverse Abschnitte mit jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen für das Schreiben – was eine homogene Kategorie „Ü35“ schwer vorstellbar macht.
Gibt es aber gemeinsame Gründe für späte Einstiege als Lyrikerin, ein verbindendes Element der „Neuen Schulen“?
Mutterschaft, Geburten, Raben …
… Erklären kaum ein Debüt über 35. Ein wirklich frühes „Eintauchen in die Lyrikszene“ fände ja lange vor dem Kinderkriegen statt. Meist erst ab Ende 20 sind Kinder ein Thema, ein Einschnitt, der die schreibhemmenden Kräfte des an Aufenthalte gebundenen Stipendiensystems und der geringen Bezahlung von Lesungen und Veröffentlichungen (also Abhängigkeit von Brotjobs) voll aktiviert.
Die Angst, dass eine Entscheidung für das Schreiben, gar von Lyrik, eine Entscheidung gegen Kinder wäre, kann allerdings vorbeugend gegen dichterische Ambitionen wirken. Mehr noch als „harte Fakten“ richten subtile Ängste aus, die früh einschüchtern.
Ich glaube, dass es Mädchen und jungen Frauen schwer gemacht wird, sich in erster Linie von ihrer Geisteskraft her zu definieren, nicht über ihren Körper und ihre soziale Kompetenz. Ich glaube, viele schrecken davor zurück, sich auf die Relevanz der eigenen Gedanken zu verlassen, die im Netz, in Zeitschriften und Büchern losgelöst von körperlicher Präsenz und anderen Erklärungszusammenhängen bestehen müss(t)en. Scham und Unsicherheit sind ein Thema.
Für mich sind sie das nach wie vor. Mich als Schriftstellerin zu definieren, erschien mir lange zu krass, zu überheblich.
Es ist notwendig, in Erscheinung zu treten. Als Mond aber neige ich dazu, zu verschwinden.
Nicht in erster Linie das Emotionale, das Nicht-Wissen, die Schwäche sind für mich schambesetzt. Schwierigkeiten habe ich vielmehr mit der klar vertretenen Meinung, der politischen und poetischen Stellungnahme. Angst vor Ablehnung, Verrissen, Verlust an Likeability. In mir zugesandten Belegexemplaren von Literaturzeitschriften oder Anthologien lese ich nicht, traue ich mich nicht.
Im Dunkeln vielleicht.
Sollte ich solche Erfahrungen – was ich glaube – mit anderen teilen, heißt das aber nicht, dass sie automatisch Gleiches bewirken (eine nur langsame, zaghafte Entwicklung hin zum Veröffentlichen). Biografische, charakterliche, soziale etc. Faktoren kommen hinzu. Wieder scheint es notwendig und irreführend zugleich, von Gemeinsamkeiten auszugehen.
Das Likeability-Problem: Es gibt so etwas wie einen historisch gewachsenen, aus faktischer (materieller und emotionaler) Abhängigkeit entstandenen Habitus, den abzulegen trotz aller Reflexion schwer fällt. Frauen lernen, zu gefallen, um versorgt zu werden. Um aber respektiert zu werden, sind andere Fähigkeiten gefragt.
Anja Utler berichtet in ihrem Essay „Still, still, still – und bloß nicht jubeln, bitte!“ ("Von den Knochen der Sanftheit", S.119. Edition Korrespondenzen 2016.) von einem Gespräch mit einer schwedischen Kollegin, die sagte: „Bis 35 lieben sie dich, egal, was du machst. Wenn du danach weiterschreibst, willst du ernst genommen werden. Allein, dass du weiter als Autorin auftrittst, demonstriert diesen Anspruch. Und dann wird es schwierig.“
Für Lyrikerinnen unter 35 würde das heißen, dass sie gerade deswegen gemocht werden, weil man glaubt, sie nicht respektieren zu müssen, sondern belächeln zu dürfen.
Heißt das für Lyrikerinnen, die spät einsteigen, dass sie von Anfang an großer Missgunst begegnen? Da sie (oh my god!) jemand anderem die Definitionshoheit bezüglich guter Lyrik streitig machen könnten?
Nur die Wölfin (Woolf) hat immer recht.
Im Mondschein erklingt das Singen der Wölfin ungefähr so: Die Herabsetzung von Frauen liegt darin begründet, dass es für das Selbstbewusstsein fördernd, oft sogar notwendig ist, sich überlegen zu fühlen – um unter den gegebenen Bedingungen das eigene Leben meistern zu können (vgl. „A Room of One’s Own“, 2. Kapitel).
Die Arbeitsbedingungen derer, die Lyrik machen, sind sehr schwierig.
Spät einsteigen heißt, ohne Wolfswelpenschutz einzusteigen.
Vielleicht trägt viele, die früh zu schreiben beginnen und den „Weg durch die Schreibinstitutionen“ mit jugendlicher Frische durchschreiten, der Glaube, ein geniales Talent zu besitzen, das einfach nach außen dringen muss. Um ehrlich zu sich selbst zu bleiben, müssen sie sich wohl von dieser Idee irgendwann verabschieden – aber sie taugte doch immerhin als Anstoß und Katalysator.
Für Frauen ist dieses Genie-Dings ja von Anfang an nicht gedacht gewesen.
Der Schritt weg vom Glauben an vereinzelte Lichtgestalten oder einsame Wölfinnen und Wölfe hin zu einem kollektiveren Denken, das Zusammenhänge sieht, erscheint zwingend.
Vielleicht tut sich da etwas. Durch Kolumnen wie diese. Durch mehr Solidarität bei gleichzeitiger Akzeptanz von Unterschieden. In diesem Jahr, habe ich gelesen, setzte sich z.B. eine Gruppe von Lyriker*innen gemeinsam unter dem Motto „Lyrik stärken“ für bessere Arbeitsbedingungen ein (vgl. Lyrik stärken. Haus für Poesie, Berlin im Sept. 2017).
Stärken und hinterfragen. Eine gute Balance zwischen „Ja“ und „Nein“ schaffen.
Auch die Zeitschrift „PS: Anmerkungen zum Literaturbetrieb / Politisch schreiben“, bei der ich mitmache, möchte sich mit Menschen verbinden, die es schwerer haben als andere, mit ihren Texten an die Öffentlichkeit zu treten. Menschen, „die Literatur schreiben, verwerten, damit Geld machen und wie wir, bei all dem immer schon einen Tiger im Hirn hatten“ (aus dem PS-Selbstverständnis).
Tiger, Wölfe?
Stolze Kopf- und Körpergeburten, in Schriftform: Das ist es, was wir hervorbringen und nicht wieder zurücknehmen können. Zum Glück.
Fixpoetry 2018
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