Tokyo Fragmente 13
Die Kiefer am Ende der Straße Als ich auf meinen Spuren ein zweites Mal um Oes Haus und die schönen, aber versteckten Anwesen in seiner Nähe herumstreunte, stieß ich in einem abschüssigen Waldstück, wo das Plateau von Seijo plötzlich endet, auf eine Schlange. Sie hatte sich auf einer Stufe einer ins Erdreich gebrochenen, mit Hölzern befestigten Treppe zu einem unförmigen Bündel zusammengeringelt und unterschied sich wenig von ihrer braunen, schattigen Umgebung. Ich bemerkte sie erst, als ich diese Stufe nehmen wollte, und dehnte den Schritt, denn sonst wäre ich auf das Bündel unter mir getreten. Schlangen wecken, seit ich in Japan in einer Schlangengegend wohne, die sogar nach einer Schlangenart benannt ist (Gagara), sowohl meine Neugier als auch meine Angst, das heißt ein Gefühl der Unheimlichkeit, in dem diese Ambivalenz aufgehoben ist. Ich blieb also auf der übernächsten Stufe stehen, wandte mich um und machte ein paar Fotos, freilich mit so zitternder Hand, daß ich sie hier nicht zeigen kann. Die Schlange entrollte sich langsam und kroch vom Pfad ins Gras, langsam, bedäcjtig, gut zwei Meter lang, aber ziemlich dünn. Ich war froh, als sie verschwunden war, und zugleich war mir, während ich weiterging ins zivilisierte, betonierte Gebiet, als hätte ich dieses so menschenfremde Wesen in mich aufgenommen. Irgend etwas habe ich mit ihm gemein. Nicht List und Falschheit, die ihm die Bibel andichtet, sondern... Vielleicht die Bedachtsamkeit?
Baulücke, Schlangenversteck Vom Kyodo-Bahnhof aus in Richtung Osten, Richtung Stadtzentrum, Shinjuku etc., stoße ich nach etwa zehn Minuten Fußweg auf einen recht großen Platz mit dem Grundriß eines annähernd rechtwinkeligen, unregelmäßig parzellierten Dreiecks, darauf Gemüsepflanzungen, sorgfältig angelegte Zeilen, dazwischen vereinzelt Bäume, Kaki, Feigenstauden, gedrungene Palmen. Ich glaube, die Ortschaft heißt Kitazawa; Shimokitazawa, ein trendiges Viertel mit vielen kleinen Geschäften, Kneipen und Theatern, liegt noch ein paar Kilometer weiter in Richtung Shinjuku. Der Platz ist umzäunt, aber nicht verbarrikadiert, die Erde dunkelbraun, Kohlweißlinge flattern über Kohlköpfe, tanzen miteinander, umkreisen einander, Meisen und Schwalben durchschießen hin und wieder die unsichtbaren Kreise. Ein tabernakelgroßer Shinto-Schrein am Platzrand, und wenige Meter davon entfernt ein überdachter Stand mit einem Schild, 200 Yen für einen Kohlkopf, die Regale sind leer.
Kohlköpfe in Tokyo Natürlich hüpfen auch schwerfällige Krähen umher. Und pastellfarben gekleidete Damen radeln vorsichtig auf Elektrofahrrädern, die einen mit Kopfbedeckung, die anderen mit geöffnetem Sonnenschirm, der in einer Halterung an der Lenkstange steckt. Aus einem der Einfamilienhäuser in der Nähe vom Dreiecksplatz dringt Klaviermusik, passabel gespielt, irgendwie anziehend, so daß ich den Tönen nachgehe. Hinter der Gartenhecke ist ein Basketballkorb zu sehen, in nächster Nachbarschaft zu einer wie frisiert wirkenden Kiefer. Das tastende Klavierspiel läßt in der Vorstellung ein übendes Kind entstehen (ich denke an meine Tochter zu Hause), aber es könnte sich auch um einen Tonsetzer handeln, der gerade dabei ist, die passenden Tonfolgen und Akkorde zu finden. Und während mein Hören und mein Denken auf die in schönem Entstehen begriffene Musik konzentriert ist, sehen meine Augen eine Krähe, die sich auf dem Balkon des Nachbarhauses niederläßt, im aufgespreizten Schnabel eine orangefarbene Frucht, eine große Nespel vielleicht, aber keine Orange, vielleicht eine Kaki – nein, unmöglich, die reifen doch erst im Herbst. Räuber, Zerstörer! Die Musik rät mir, meine Empörung zu mildern. Auch die Krähe spielt ein Spiel, mit der schönen runden Form zwischen den Tangenten. Als ich mich langsam von dem musikalischen Haus entferne, drängen sich diverse Vogelstimmen in das Klanggefüge, und dazu kommen Arbeitsgeräusche vom Abladen von Holzbrettern oder Bambusstäben. Kitazawa-Konzert!
Formen, Musik in der Luft Inzwischen gehe ich den lauter werdenden, bald schon vorherrschenden Vogelstimmen nach. Sie führen mich zu einem dichten, umzäunten, unzugänglichen Bambuswald, den ich umrunde. Tatsächlich eine Naturinsel in der Stadt, kreisförmig, oder annähernd tropfenförmig, ein Rückzugsort der Vögel, dem Baueifer entzogenes Gebiet. An einer Stelle, die man durch einen unasphaltierten, von jetzt nicht blühenden, sondern grünen Kirschbäumen flankierten Weg erreicht, ragt ein Grundstück mit Haus und Garten ein wenig in das Wäldchen hinein. Unter dem Vordach an der Rückseite sitzt ein hellgrüner Vogel in seinem Käfig; schon vorher hatte ich welche bemerkt, in Freiheit fliegend, sie erinnern mich unweigerlich an Buenos Aires, an die Stadtviertel Palermo und Belgrano, und heißen bei mir cotorras, zu deutsch Sittiche. Nur daß dieser hier einen roten Schnabel hat und gelbe Schwanzfedern. Während ich in mein Notizbuch schreibe, beginnt er mich zu rufen, verstummt dann, schaut in meine Richtung, ruft von neuem. Dann Schweigen, vorwurfsvoll. Was soll ich denn machen? Über den Zaun steigen?
Nach einer Weile sehen meine Augen schärfer, waldgemäßer, sie bemerken die anderen cotorras, die von Ast zu Ast fliegen, ebenfalls grün-gelb-rot, langsam kommen sie näher . Einer schwingt sich auf, fliegt zu der Gefangenen, klammert sich an einem Gitterstab fest und küßt sie. (Ich sehe die beiden als Männchen und Weibchen, aber was weiß ich schon...) Später, als ihr Geliebter in den Wald zurückgekehrt ist, beginnt die Gefangene zu weinen. Niemand wird sie befreien, ihre Freunde nicht, und auch nicht der Fremde, der das Geschehen so neugierig beobachtet. Zwitschern und weinen, die beiden Tätigkeitswörter werden im Japanischen gleich ausgesprochen, naku, aber die Schriftzeichen, die Sprachbilder sozusagen, sind ganz verschieden. Das Zeichen für „Vogel“ verbunden mit einem kleinen Mund: zwitschern. Und das Zeichen für „stehen“ verbunden mit den drei Strichen für „Wasser“: weinen. Als könnte man nur stehend weinen. Singen und weinen, gibt es vielleicht doch einen Zusammenhang?
Erst nach und nach nehme ich den größeren Käfig neben dem Vogelkäfig wahr, fast ein Gehege, und darin den kleinen, gewöhnlichen Vogel – ein Sperling. Nein, er ist nicht gefangen, er kann jederzeit zwischen den Gitterstäben durch. Er nimmt ein Schlückchen aus der Wasserschüssel, die auf dem gestampften Boden steht, bevor er davonfliegt. Die Schüssel ist nicht für Vögel, sondern für den Hund, der weiter hinten auf einem schattigen Flecken liegt. Tiefer im Wald fällt mir jetzt ein anderes Hüttchen auf, dunkel, aus Holz, waldfarben. Und oben, über dem Grün, im weiten Himmelsblau, glänzt plötzlich ein Silberflugzeug auf und trägt den Glanz eine Weile mit sich. Der Hund ähnelt einem Fuchs, besonders die spitze Schnauze und der buschige, aber nicht fuchsgroße Schwanz. Übergänge, die Generationen dauern.
Stadtrand, im Zentrum Steige dann in einen Bus in Richtung Shibuya. Keine Lust mehr, unter der Erde oder auf erhöhten Trassen zu reisen. Abgehoben, untergetaucht. Besser in Bodennähe. Die rote Laufschrift über dem Kopf des Fahrers. Wie ein Kind versuche ich, die Zeichen zu entziffern oder mitzuschreiben. Freude, wenn mir eines gelingt. Matsu-mi-zaka. Kiefer-Schauen-Hügel, oder so ähnlich. Nicht Pinienkern (matsunomi), sondern Kiefernaussichtshügel, oder so ähnlich. Dann kommt akatasume, also roter Fingernagel – aber was soll das für ein Ortsname sein? Vielleicht eine Mangafigur, die sich in die seriösen Verlautbarungen eingeschlichen hat? Keine Ahnung... So irre ich im Wald der Zeichen umher. Und genieße kleine Erfolgserlebnisse. Wie ein Grundschüler, dritte Klasse.
Dann steigt eine ziemlich schöne, modisch gekleidete Frau mit rot lackierten Zehennägeln ein und setzt sich auf eine Bank schräg vor mir, wie um die Ankündigung der Leuchtschrift wahrzumachen. Die Fingernägel hat sie nicht gefärbt, in der rechten Hand liegt ein Smartphone, während das Gesicht zum Fenster hinaussieht. Ihr Daumen wischt mit der typischen Smartphonegeste über die Unterseite des Handys, während ihr linker Daumen den rechten Handballen bzw. die Wurzel des Daumens streichelt. Zwei regelmäßige, leicht voneinander abweichende Bewegungsrhythmen, die ein kunstvolles tonloses Konzert erzeugen. Und vorne die Leuchtschrift, unermüdlich, ebenfalls rot, erst jetzt fällt sie mir auf, die Verschwisterung von Farben und Zeichen.
Vor mir sitzt ein junger Mann, der auf seinem Handy unablässig bunte Kugeln oder Kreise in eine Spalte hineinzieht, oder genauer: hineinwischt, abwärtswischt. Alles muß dort verschwinden, es ist der Inbegriff des Abgrunds. Abgrundspiel. Endstation Shibuya, das Zeichen habe ich oft genug gesehen. Noch sechs Minuten, bis der junge Mann selbst verschwinden wird. Aus meinen Augen, oder überhaupt... Wenn ich nicht irre, bedeutet „Shibuya“ in etwa „Bitterschlucht“, oder „Bittertal“.
Shibuya ist bunt! Der einzige Tanz, den ich einigermaßen beherrsche, ist der Tango. Seit langem habe ich kaum Gelegenheit dazu, und wenn ich dann doch wieder einmal auf eine Milonga gehe, ist es wie eine Heimkehr. Eine Heimkehr ins Reich der Musik, wenn ich mich mich dem Tanzsaal nähere und schon von draußen die charakteristischen Klänge und Rhythmen höre. Eine Heimkehr nach Buenos Aires, ins Milieu, ohne das diese Kunst nicht gut gedeihen kann, das man aber nicht nur in Buenos Aires findet, sondern auch, zum Beispiel, in Tokyo. Die Milonga hier in Ebisu besuche ich zum ersten Mal, Zero Hour, wo ich früher gern hinging, ist verschwunden. La Baldosa ist der Name; eine Hommage, wie ich später erfahre, an eine traditionelle Milonga in Buenos Aires, die ebenso heißt. Der Name erinnert mich an eine Szene vor vielen Jahren, eines meiner ersten Erfolgserlebnisse, als ein alteingesessener Milonguero anerkennend bemerkte, nachdem er mich und meine Partnerin beobachtet hatte: Se lo bailan en una baldosa. Eine Bodenfliese genügt euch zum Tanzen. Die milongagemäße Tanzform ist nicht ausladend, nicht demonstrativ, wie man außerhalb Argentiniens oft meint, sondern intim. Wenn viele Tänzer auf der Tanzfläche sind und der Raum eng wird, empfindet man das in der Regel nicht als störend, sondern als Herausforderung und, auf einer guten Milonga, sogar als Situation, in der man sich wunderbar aufgehoben fühlt. Die anderen bilden dann ein schützendes Fluidum, in dem man sich umso besser bewegen kann, je dichter es ist. Se lo bailan en una baldosa. Diese Fliese ist virtuell und beweglich.
Und diese Fliese hier, die Milonga mitten in einem der lebendigen, verwinkelten Stadtteile Tokyos, mit zahllosen Izakayas, Restaurants und Bars, ist ein recht feste Örtlichkeit, die auch einem Erdbeben von beträchtlicher Stärke standhalten wird. Als ich ankam, machte ich mir ein wenig Sorgen, weil ich „meinen Tango“ (wie die Milongueros auch gern sagen) überhaupt nicht pflege und vielleicht die Schrittfolgen (auf die es, wie man sich immer wieder sagt, gar nicht ankommt) vergessen hatte. Aber dem war nicht so, schon nach den ersten zwei Tangos kehrte die frühere Sicherheit zurück, und ich sagte mir wieder einmal, es verhalte sich wie mit dem Schifahren, das man auch niemals vollkommen verlernt, wenn man es einmal gelernt und die Bewegungsabläufe, die Haltungen und das Gefühl im Körper gespeichert sind. Kurz und gut, ich war glücklich, plauderte zwischendurch mit den Leuten, auch mit den Organisatoren, einem Ehepaar, das sich offenbar hauptberuflich dem Tango widmet und jedes Jahr eine Zeit in Buenos Aires, davon wiederum viel in jener Milonga, verbringt.
Ich tanzte mit einer Frau, der ich vorher ein wenig zugesehen hatte, sie trug das Haar nackenlang, unten schräg geschnitten, eine dunkelblaue, fast „mystisch“ wirkende, kostümartige Kombination, die die Körperform eher betonte als verhüllte (aber auch nicht gerade zur Schau stellte). Das Alter der Frau vermochte ich nicht zu schätzen. Vielleicht ein wenig hart, wie sie tanzt, die Füße aufsetzt, dachte ich, aber wie es wirklich ist mit einer Tänzerin, merkt man sowieso erst, nachdem man sie eingeladen und umarmt und die ersten Schritte mit ihr gemacht hat. Zuviel Bewertung lehne ich ab, all die „Weltmeisterschaften“ des Tango, in denen sich Japaner besonders gern hervortun. Wir tanzten also, und nach dem ersten Stück fragte sie mich, ob ich Franzose sei, und von da an sprachen wir französisch. Sie beherrschte die Sprache nicht schlecht, konnte sich gut ausdrücken, war, wie sie bestätigte, öfters in Frankreich gewesen, tat aber ein wenig geheimnisvoll bei ihren Antworten und wich einigen Fragen aus, so daß ich mir kein rechtes Bild von ihrer Person machen konnte. Ein geheimnisvolles Wesen wollte sie sein, zumindest abends auf den Milongas. Beim Tanzen stellte sich heraus, daß ihr Körper – wie soll ich sagen? – sowohl der Musik als auch mir selbst gewogen war und sich von uns wiegen ließ. Was mich gleich anfangs überzeugte, war die Tatsache, daß sie den ocho cortado kannte – ich meine, körperlich kannte, vielleicht nicht den verbalen Ausdruck, aber die Wirklichkeit der Bewegung. Ihr Alter konnte ich immer noch nicht schätzen, aber jugendlich war sie nicht, bestimmt jenseits der fünfzig.
Bunt! Nachdem einer meiner Lieblingstangos gekommen war, Mano Blanca in der Interpretation von D'Agostino und Vargas (Text von Homero Manzi), ertönte ein langsamerer Tango, den ich nicht gut kannte, und während ich mich noch auf ihn einzustellen versuchte, fiel mir auf, daß um uns herum kaum noch Paare tanzten, ja, das letzte verließ gerade die Tanzfläche und trat an die Fensterfront, wo man die Vorhänge beiseitegeschoben hatte, um auf die Straße hinunterzublicken. La Baldosa befindet sich im vierten Stock (nach japanischer Zählung). On arrête? sagte die Tänzerin, die schon seit einer Weile nicht ganz bei der Sache schien, und ich fragte, was denn los sei. Sie antwortete auf japanisch, und ich brauchte ein paar Momente, bis ich den Sinn des Worts begriff: jishin atta. Selbstvertrauen, ja, mag sein, ich habe mein Tango-Selbstvertrauen wiedergewonnen. Nein, darum ging es nicht, jishin konnte auch „Erdbeben“ bedeuten, die Schriftzeichen sind verschieden, aber man spricht sie gleich aus.
Durch das Fenster sah man auf einen kleinen Park, ein Flußufer und einen der Häuserzüge mit Geschäften und Kneipen im Erdgeschoß. Alles war normal, aber ich spürte die Anspannung unter den Leuten und sah die Sorge auf einigen Gesichtern. Nach einigen Minuten hatte man sich wieder gesammelt, die Vorhänge vorgezogen, der Hausherr stellte sich in die Mitte der Tanzfläche, sprach beruhigende Worte und sagte, was man in solchen Situationen eben sagt: kowakattane... (kowai, kowakatta, „Angst gehabt“, gehört zu den einfachen, vielgebrauchten, aber schwer zu übersetzenden japanischen Wörtern). Und dann fragte er, wer das Beben nicht bemerkt habe. Außer mir hob nur noch einer, ebenfalls ein Mann, die Hand. Im nächsten Augenblick hörte ich den Meldeton des Handys in meinem Rucksack, den ich unter einem Stuhl verstaut hatte. Ich verließ den Raum, trat ins Freie, machte ein paar Schritte bis zu einem Geländer, trat wieder zurück, denn mir wurde schwindelig, als ich auf die Straße hinunterschaute: ich befand mich auf einer Feuertreppe. Am Telephon hörte ich die Stimme meiner Frau, die in Hiroshima vom Erdbeben gehört hatte. Alles in Ordnung, alles in Ordnung... Unten auf der Straße standen Grüppchen von Menschen herum, aber man hörte keine Stimmen, es war, als flüsterten sie. Mein erstes richtiges Erdbeben habe ich in Sizilien erlebt, um zwei Uhr nachts, und damals war ein Höllenlärm von Alarmanlagen und schreienden Menschen ausgebrochen.
Jetzt, wo ich das schreibe, wundere ich mich, daß die Musik bis zum Ende der tanda weiterlief. Die Discjockeys verwenden heutzutage Computer und legen das Abendprogramm oft im voraus fest. Bei einem unvorhergesehenen Ereignis kann es geschehen, daß der DJ die Musik abzustellen vergißt. Oder daß er gerade tanzt und deshalb nicht gleich reagieren kann. An diesem Abend war die Musikmacherin eine Frau, blond, ziemlich groß gewachsen, was mich auf Milongas eher anzieht als Federgewichte. Nach meinem Dafürhalten soll da nicht nur zwischenmenschliche Harmonie, sondern auch eine gewisse Spannung sein, ja, sogar ein Widerstand, mit dem der Tänzer dann umgehen muß: genau das macht die Sache interessant. Die Harmonie soll jedesmal aufs neue hergestellt werden. Und kann natürlich auch wieder verschwinden. Ein wenig schüchtern fragte ich die große Frau, ob sie denn abkömmlich sei. Daraufhin erklärte sie mir in englischer Sprache, was ich soeben auf deutsch erklärt habe.
Bunt! Olga tanzte sehr gut, das hatte ich eigentlich erwartet. Und wir einigten uns rasch auf Spanisch als Umgangssprache zwischen uns, schließlich waren wir hier auf einem Außenposten von Buenos Aires. Olga stammt aus Wladiwostok, sie hat dort Japanologie studiert, ist vor zwei Jahren nach Japan übersiedelt und arbeitet als Dolmetscherin in Sendai. Zu den Milongas reist sie mit dem Shinkansen an, das dauert nicht mehr als anderthalb Stunden. Große Frauen ziehen mich nicht nur tänzerisch an, ich mag auch diese Herbe, hinter dem sich der weiche Kern ahnen läßt. Olgas Bemerkungen wirkten anfangs geradezu rüde, aber als wir dann gemeinsam zum Ebisu-Bahnhof gingen, erwies sie sich als neugierig und gesprächig. Sie tummelt sich gern in der fremden Sprache, und dieses Gefühl ist mir nicht fremd. Auf dem Bahnhof verkehrten manche Züge laut Durchsagen und Gerüchten nicht, andere hatten Verspätung. Alle haben Verspätung, klar, das Erdbeben hat sämtliche Fahrpläne durcheinandergeworfen. Olga ist hilfsbereit, sie erkundigt sich nach meinen Verbindungen, kennt sich in Tokyo besser aus als ich. In Paris, daran erinnere ich mich jetzt, sind die Absperrungen in der U-Bahn manchmal geöffnet, bei Streiks zum Beispiel, oder auch kurz vor Betriebsschluß. Hier nicht, bei allem Durcheinander löst jeder, der keine hat, ordentlich seine Fahrkarte. Die Züge auf der Yamanote-Linie sind jetzt, gegen Mitternacht, berstend voll. Olga und ich machen, die Gesichter nicht mehr als eine Handbreit voneinander entfernt, weiter mit unserem entfesselten Spanisch. Bevor ich in Shinjuku aussteige, gebe ich ihr rasch einen Kuß auf die Wange. Mit dem letzten Blick sehe ich, daß sie sich freut wie – wie eine Schneekönigin, mag sein, aber eigentlich will ich sagen: wie ein Kind. Wie meine achtjährige Tochter.
En una baldosa Am Morgen kann ich nicht länger als bis sechs Uhr schlafen, der übliche Rhythmus verlangt sein Recht, auch wenn ich spät ins Bett gekommen bin. Um zehn vor acht, in der Frische des Tages, das dichte Wäldchen im Arisugawa-Park erst von wenigen Sonnenstrahlen durchdrungen, ist eine große Zahl von Schülern auf den Straßen. Ziemlich ruhig, ein gefaßtes Heer auf dem Weg zur Schule, wo am Samstag was stattfindet? Mittel- oder Oberschüler, nur Jungen, keine Schuluniform, obwohl es sich um eine japanische Schule handelt – kein einziger macht den Eindruck, Ausländer zu sein. Keiner trägt eine der üblichen Schultaschen, auch nicht Hand- oder Schultertaschen, jeder trägt einen Rucksack, ausnahmslos, als wäre das Vorschrift. Wahrscheinlich Gewohnheit, soziale Mimikry, man macht es eben so. Beim Krankenhaus, wo ich Anfang April die Blüten des allein stehenden Kirschbaums bewundert habe, biege ich ins leuchtende Dunkel des Parks ein, wo keine menschliche Stimme zu hören ist, nur Vogelzwitschern, kaum Verkehrsgeräusche von jenseits des Zauns. Auf zwei Bänken liegen zwei junge Männer mit dem Gesicht zum Himmel, anscheinend noch schlafend, Koffer neben sich und unter dem Kopf. Chinesen, denke ich instinktiv, mit einem Reflex, den ich mir in den japanischen Jahren unwillentlich angeeignet habe. Chinesen, warum? Weil Japaner, nicht einmal Obdachlose, nicht auf diese unverborgene Art im Park herumliegen. Vor allem aber wegen der rechteckigen Koffer mit abgestoßenen Ecken und Kanten, die aussehen, als wären sie aus Karton. Gurte drumherum geschnallt. Nachkriegszeitflair. Sowas verwendet man in Japan schon lange nicht mehr. Hier verwenden Reisende nur Rollkoffer mit harter, undurchdringlicher Schale. Guten Morgen, ihr Herren Chinesen! Nein, besser du läßt sie schlafen. Wage auch nicht, sie zu photographieren.
Caminito Später dann mit dem Bus nach Shibuya, wo mir gestern das schmale Lindt-Schokolade-Haus aufgefallen war. Nach Shibuya, nur um ein Mitbringsel zu besorgen. Auch ein japanisches Verhalten, omiage. Gab es früher, vor vielen Jahrzehnten, auch „bei uns“, wie so vieles, das bei uns verschwunden ist, sich hier aber erhalten hat. Obwohl man heutzutage überall alles kaufen kann. Im Internet sowieso. In Japan hält man an Mitbringseln fest.
Das Lindt-Haus liegt wenige Schritte vom Bahnhof entfernt. Es ist schlank, pro Stockwerk ein Raum, ein Treppenabsatz, eine Toilette, eine Kitchenette. Im Erdgeschoß der Verkauf, oben zwei Etagen Café, wenig und nur von Frauen frequentiert, ein Ort eleganter Ruhe mit Blick hinunter auf einen der belebtesten Plätze Tokyos, auf die fünf breiten Zebrastreifen, wo die Ampel alle Fußgeher gleichzeitig halten bzw. losgehen läßt und in der Wahrnehmung des Einzelnen ein wahres Schwallgefühl entsteht. (Auch vom Starbucks unmittelbar an der Kreuzung hat man einen solchen Blick, allerdings nicht das Gefühl, selbst herausgehalten zu sein.) Den steinernen Bahndamm entlang verläuft eine enge, von Strommasten flankierte Straße mit winzigen Kneipen, an der Rückseite rostige Wellblechfassaden und hunderte abgestellte Fahrräder. Hinter dem Rücken der Freizeitexaltierten, der Cosplayers, der Konsumbunten, der Touristen und Journalisten, die nur das Bunte und Exaltierte sehen wollen. Hier, an der Rückseite, noch ein stilles Plätzchen mit zwei, drei Bäumen und einem Brunnen, wo ein schwarz gekleideter Mann mit dem Wasserstrahl spielt. Ich frage ihn, ob ich ein Foto machen darf. Er verneint, spricht ein recht passables Englisch, aber den Satz, auf den es ihm ankommt, muß er mehrmals wiederholen, bis ich ihn verstehe. Anscheinend hält er sich für irgendeinen Superman oder Batman, oder was weiß ich. „Kenne ich nicht“, sage ich, und er ist überzeugt, daß ich ihn auf den Arm nehmen will. Wie wär's mit einem Kräftemessen, Superheld? Ich begebe mich in Kampfstellung, der Mann mit dem dunkel gegerbten Gesicht tut es mir gleich. Im übernächsten Augenblick beginnt er zu lachen, läßt die Arme sinken, und ich verabschiede mich, lachend.
Später, an der großen Kreuzung, sehe ich ihn noch einmal. Er kauert am Straßenrand zwischen Zebrastreifen und Bahnbrücke und späht auf die andere Seite, von Zeit zu Zeit einen Schluck aus einer Wasserflasche nehmend. Wahrscheinlich erkundet er irgendwelche Bewegungen, Formen, Formationen: Vorzeichen einer Ankunft. Er lebt in einer anderen Welt, einer Wirklichkeitswelt, die von Figuren und Szenen aus Filmen beherrscht wird. Mich nimmt er nicht wahr, obwohl ich ihn eine ganze Weile beobachte (und mich damit ähnlich abnorm verhalte wie er selbst). Nur ein paar Augenblicke war ich in seiner Welt aufgetaucht; jetzt existiere ich nicht mehr für ihn.
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