In der Manier von
Die Aufmerksamkeit für die türkische Literatur ist in Deutschland stark gewachsen, und damit die Aufmerksamkeit für eine Literatur, die sich schon lange der Moderne genähert und den Anschluss an die Moderne gefunden hat. Dazu gibt es für eine moderne Gesellschaft, die die Türkei heute zweifelsohne trotz aller Widersprüche ist, keine Alternative, auch wenn eine solche Literatur vergleichbaren Angriffen ausgesetzt sein wird, wie es die Repräsentanten einer offenen Gesellschaft sind, die heute massiv unter Druck gesetzt werden. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass Literatur trotz allem immer ein Minderheitenmedium ist, insbesondere dann, wenn es um Literatur geht, die sich mit ihrer Gesellschaft formal und inhaltlich intensiv auseinandersetzt und die vermeintlich Ordnung stiftende lineare Struktur mehr und mehr aufgibt.
In diesem Zusammenhang verdient ein solches Projekt wie das Achim Wagners größte Aufmerksamkeit und höchsten Respekt. Er hat sich nämlich einer heute fast verpönten Übung unterzogen, die in einem entschiedenen Gegensatz zu jener Literatur steht, die sich in Großen und Ganzen dem Kreativitätsgebot verschrieben hat. Literatur und Lyrik insbesondere als Ausdruck des Inkommensurablen des Subjekts – keine Angst vor Fremdworten, das ist nur ein schlecht versteckter Walter Benjamin und galt seinerzeit eigentlich dem Roman. Aber welche Gattung wäre dem Subjekt und seiner Unvergleichbarkeit angemessener als die Lyrik? Ihr Sprechgestus, ihr Rhythmus, ihre Formverliebtheit, ihr Variationsreichtum?
Und dennoch, da ist jemand, und nun auch noch ein Deutscher, der sich aufgemacht hat, poetische Korrespondenzen zur jüngeren türkischen Literatur herzustellen, sich aber entschlossen hat, sich dabei nicht auf die Übersetzung zu verlassen, sondern auf ein Verfahren, das – auch im klassisch geprägten Deutschland – eine alte und ehrwürdige Tradition hat, die Nachdichtung, das Dichten „in der Manier von“.
Ein solches Verfahren bedarf höchsten Könnens, eines gediegenen Handwerks und die Fähigkeit, mit den Stilen und literarischen Sprechweisen souverän zu verfahren. In Deutschland war dies zuletzt im sogenannten Barock generell üblich und notwendig. Denn Dichtung war nicht notwendig Ausdruck des Individualgenies – auch wenn sie originell und kreativ sein sollte -, sondern Resultat einer gediegenen und umfassenden literarischen Ausbildung von Intellektuellen. Sie war und ist eben auch Handwerk, was ein Bert Brecht immerhin so genau gewusst hat, dass er in jungen Jahren alles Erdenkliche erprobte, was es an Literatur und insbesondere an Lyrik zu seiner Zeit gab. Das ist im Land der Dichter und Denker unerhört, bei den geringen Nachfahren Goethens ein Skandal, aber Ideologie und Wirklichkeit korrespondieren nicht immer miteinander.
Dabei ist Achim Wagner von der Übersetzung gar nicht soweit weg, nur dass er – wann man es sich recht überlegt -, keine Gedichte übersetzt, sondern Dichter. So sind denn nicht die Ursprungstexte von Wagners Gedichten, die er in diesem schmalen Band gesammelt hat, angegeben, sondern die Dichter, nach deren Manier die Texte geschrieben sind. Von Tevfik Fikret, Nâzim Hikmet, Orhan Veli, Behçet Necatigil, Ilhan Berk, Turgut Uyar, Edip Cansever, Cemal Süreya, Ece Ayhan, Ahmed Arif, Attilâ Ilhan, Can Yücel, Gülten Akin, Nilgün Marmara, Lale Müldür, Haydan Ergülen und Gonca Özmen hat Achim Wagner Stimme oder Schreibweise geliehen – wobei den durchschnittlichen deutschen Lesern bestenfalls Nâzim Hikmet bekannt sein dürfte. Wagner reicht mit seinen Anlehnungen jedoch weit bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Die Autorinnen und Autoren, auf die er sich bezieht, scheinen so etwas wie die Garanten der modernen türkischen Lyrik zu sein. Viele sind in Deutschland völlig unbekannt, von den meisten sind wenigstens ein paar biografische Daten zugänglich. Dass die Texte „nach“ ihren Vorlagen gehalten sind, wird ihnen jeweils mitgegeben, sodass die Suche nach konkreten, eindeutigen Vorlagen hinfälllig wird, was allerdings ja eh nur für den sinnvoll wäre, der die Ursprungssprache hinreichend spricht und Zugang zu den Originalen hat.
Dass sich die Lektüre ihrer Arbeiten lohnt, zeigt dann der Blick auf die Texte in ihrer jeweiligen Manier. Alle im freien Versmaß, mit unregelmäßigen Rhythmen, verweigern sie die gefällige Lektüre, die die klassischen Formen erlauben. Dabei überschreiten die Texte die Grenze zum Hermetischen nie. Sie wirken – je unterschiedlich – wie Selbstgespräche, in die wir hineinhorchen können, ohne je an ihnen beteiligt zu werden. Dabei folgen sie bekannten Stil- und Strukturprinzipien. Die Sprechinstanz bleibt in der Regel beim ich selbst, in das Leser zu schlüpfen haben, wenn sie die Perspektive des Sprecher übernehmen wollen. Dabei bleibt das, was sie sehen und sprechen stets noch unscharf und ungeklärt, aber was will man von der schütteren Rede der Modernen auch anderes erwarten?
Das scheint denn auch das Verbindende der Texte, die unterschiedlichen Gegenständen gewidmet sind, verschiedene Themen und Schreibweisen verfolgen, und sich doch in eine einzige Rede einflechten lassen, nämlich der von der Kontingenz und Fragilität der Gegenwart – die schon vor etwa 100 Jahren begonnen hat.
Dass es solche Texte von türkischen Autorinnen und Autoren gibt, kann kaum wundern. Zu eng sind Türkei und dieses Europa aneinander gebunden. Allerdings bleibt eben auch offen, welchen Status Texte dieser Art künftig haben werden. In einer mehr oder weniger autokratischen Herrschaftsstruktur sind der nachdenkliche Gedankengang, das anmaßende Subjekt kaum opportun, die Moderne steht mithin vor ihrem Untergang resp. davor, in einen politisch motivierten Untergrund verschoben zu werden. Insofern ist es gut, wenn wir – hier zusammenfassend – daran erinnert werden, dass es solche Stimmen in der Türkei gegeben hat. Auch wenn sich ein deutscher Autor jeweils ihr Fell über die Ohren gezogen hat.
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