"'Blinddärme der modernen Infrastruktur', nennt sie Jan Baedeker …"
Wie das mit Gebirgspässen in der Literaturgeschichte ist, vor allem in der deutschsprachigen – der Pass als Ansammlung von Sachzwängen für den reisenden Autor, der Pass als Schauplatz von Texten, der Pass als Topos und (z. B. militärische) Historienverwahranstalt, der Pass auch als Träger dieses oder jenes bestimmten Lokalkolorits – das buchstabieren uns Andreas Erb und Christoph Hamann in ihrem Vorwort zu dieser 2017er Sommerausgabe der horen alles so informativ wie strukturell fehlerfrei vor: Goethes Schweizer Reise; der Tell; die Bernhardiner (Mönche wie Hunde); Alpentourismus; Gotthard und Brenner; die zunehmende Mobilität und technische Fertigkeit der Bevölkerungen und in diesem Zusammenhang dann die Frage, was aus Grenzen wird, wenn sie keine mehr sind, ideengeschichtlich gesprochen; Dialektiken von Idyll und Durchhaus, Spaziergang und Schmuggel … Diese Stichwortliste muss hinreichen, Andreas Erb/ Christof Hamanns "Einführendes zu einer literarischen Expedition" müsste ansonsten hier zur Gänze zitiert werden. Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass die Verfasser uns mit diesem Editorial eine bemerkenswert plausible Begründung für ein Thema bieten, das mit etwas Distanz betrachtet doch völlig arbiträr gewählt erscheint. Zugleich stimmt uns die Einleitung auf den gewissermaßen hohen Ton feuilletonistisch-behaglichen Lesebuchblätterns ein; das Tröstliche von Deutschlandradio-Kultur- oder Ö1-Feature-Schwerpunkten mischt sich mit dem so falschen wie beruhigenden Vollständigkeitsgefühl einer Themenanthologie …
Und ja doch, die folgenden grob zweihundert Seiten werden ihrer Einleitung Punkt für Punkt gerecht. Die vorgelegte Sammlung wird jeder Sub-Sekte des noch verbliebenen Literaturpublikums zumindest ein paar wohlgefällige Texte mit Pass(-überquerungs-)bezug bieten; gerade auch die Menge an Sekundärtexten, die trotzdem noch hierher passen, ist erstaunlich; weniger erstaunlich ist die Menge an Wilhelm-Tell-Bezügen, und (meist) mit ihnen an Tangenten zu den Staats- und Freiheitstheorien von anno Schiller (siehe oben: Dialektiken von Schmuggel und Spaziergang; Pfälzer Saumagen und Zitronenblüte); überhaupt nicht erstaunlich dann wiederum, dass kaum ein Verfasser in diesen Tangenten, die sie ja selber ziehen, vorderhand die zeitgenössische Steilvorlage zu erkennen scheint (ausdrücklich von dieser Einschätzung ausgenommen: "Tells Pässe: 1804, 1989, 2016" von Rolf Parr).
Wenn wir einwenden wollen, das ganze Buch segle in den Wolken meilenweit über der Baumgrenze der sozialen Wirklichkeiten dahin, zu denen sich zeitgenössische Literatur bitteschön irgendwie zu verhalten habe – immerhin machen die horen da gerade mit dem Pass eine Sorte von Grenze zwischen uns und den anderen als Thema auf, und an ganz ähnlichen Grenzen wird derzeit, weiß man, unnötigerweise massenhaft gestorben – … wenn wir also solches einwenden wollen, dann wird die Antwort ungefähr lauten, es gehe da doch eh greifbar um Facetten jener Historie, in deren Verlauf die Festung Abendland so wurde, wie sie wurde. Natürlich geht so ein Einwand in Wirklichkeit ins Leere – wenn wir so anfangen, können wir auch gleich fordern, fürs Erste den Druck aller Bücher außer der relevanten nautischen Karte des Mittelmeers sowie einiger Wörterbücher einzustellen1 – aber wenn er so derart nahe liegt, sollte ihm in der Publikation begegnet werden.
Über einzelne Texte zu reden, erscheint völlig verfehlt. Es sind ihrer viele und sie leisten wie gesagt punktgenau, was die Herausgeber verheißen – kaum können wir fehlgehen, wenn wir diese horen-Ausgabe als Füllhorn von zahlreichen und stets praktisch kurzen Häppchen Lektüre empfehlen. Selbst, wenn wir (wie der Verfasser dieser Rezension) das dominante Paradigma "realistischen" Erzählens langweilig finden, bleiben noch ausreichend Häppchen übrig. In der Privatauswahl des Rezensenten sind dies beispielsweise, ach, was soll's, wieder Mal fast nur Gedichte:
Ulf Stolterfohts dreimal fünfundzwanzig Langzeilen über den Feistritzsattel (feat. Ottokar Kernstock) beispielsweise; Sabine Schos "Yvan Colonna geht ins Gebirge"; Christof Hamanns eigener Beitrag, eine Art Gesang nach Mode der Anthropozänlyrik, Teil 1 mit Geologie, Teil 2 mit Rennwagen; Søren R. Fauths "Monte Grappa", obwohl mich der Text in Todesangst versetzt und ich ihn eher zu sehr auf den Schock hin kalkuliert finde; Birgit Kempkers Grafiken bzw. Textcollagen.
Im abschließenden Essayteil sticht ein Text von Heribert Kuhn heraus, in dem es um die Datierung eines Petrarca-Briefs von der Hybris der Bergsteigens geht und um den interpretatorischen Spielraum, den die verschiedenen Datierungen eröffnen. Der kurze Beitrag von Martin Krauß über Fluchten ins oder durch das Gebirge während der Nazizeit ist als Aufsatz vielleicht wenig originell, als Rahmen einer Bücherliste zu diesem Thema dagegen sehr in Ordnung (eines der Bücher auf jener Liste ist Krauß' eigene, und, wie ich mir sagen lasse, lesenswerte "Geschichte des Wanderns und Bergsteigens in den Alpen").
Alles in allem: Wir können diese Ausgabe der horen empfehlen für, sagen wir zirka, den einen einsamen Bergfex in einer Familie von Urlaubern-am-Strand, wenn er wie jedes Jahr wieder seine zehn Tage an der Adria absitzen muss, von möglichen Fluchtwegen durch die Alpen träumt und explizit Unidyllisches hierzu lesen will. Oder so.
Alle Beteiligten der 266. Ausgabe / Redaktion: Jürgen Krätzer, Andreas Erb, Christof Hamann. Beirat: Christoph Hein, Katja Lange-Müller, Johann P. Tammen. AutorInnen: Roland Albrecht, Marcel Beyer, Nico Bleutge, Stefan Börnchen, Iso Camartin, Susanne Catrein, Christoph Cox, Martin R. Dean, Oswald Egger, Andreas Erb, Péter Farkas, Søren R. Fauth, Udo Friedrich, Joachim Geil, Gunther Geltinger, Franziska Gerstenberger, Lucas Marco Gisi, Beat Gugger, Christof Hamann, Roswitha Haring, Lois Hechenblaikner, Guy Helminger, Johann Holzner, Alexander Honold, Katharina Huber, Silvio Huonder, Bernhard Keller, Stefan Keller, Birgit Kempker, Björn Kern, Hermann Kinder, Manfred Koch, Rainer Komers, Thorsten Krämer, Martin Krauß, Birgit Kreipe, Tim Krohn, Heribert Kuhn, Volker Kutscher, Stan Lafleur, Andreas Lörcher, Lilian Loke, Jon Mathieu, Maximilian Mengeringhaus, Rainer Merkel, Klaus Merz, Francesco Micieli, Klaus Modick, Karl-Heinz Ott, Angelika Overath, Rolf Parr, Annette Pehnt, Sabine Peters, Barbara Piatti, Hans Platzgumer, Marion Poschmann, Antje Rávic Strubel, Mario Reis, Jürgen Reuß, Peter Riek, Jan Volker Röhnert, Beate Rothmaier, Norbert Scheuer, Bastian Schneider, Sabine Scho, Tom Schulz, Leta Semadeni, Angela Steidele, Karin Steinbach Tarnutzer, Ulf Stolterfoht, Alain Claude Sulzer, Leo Tuor, Marija Vella, Theresia Walser, Gerrit Walter, Peter Wawerzinek, Alexander Weinstock, Miek Zwamborn. ÜbersetzerInnen: Bettina Bach, Hannes Langendörfer, Nicolas Pethes
- 1. … wobei … wenn man sich's so vorformuliert … verführerischer Gedanke eigentlich …
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