Den ganzen Tag in Gummizug-Hosen
Ist Eva Gruber irre? Und wenn ja, wie sehr? Das sind die Kernfragen, die Angela Lehners Debütroman „Vater unser“ vorantreiben – mehr jedenfalls als eine nennenswerte Handlung, die höchstens im letzten Teil ein wenig Fahrt aufnimmt, aber auch dort recht schnell wieder verpufft. Ironisch angelehnt an die christliche Dreifaltigkeit, hat die österreichische Autorin ihren Roman in drei Akte geteilt, wobei die ersten (und stärksten) beiden in der psychiatrischen Abteilung des altehrwürdigen, allerdings auch für seine Euthanasie-Programme in der Nazi-Zeit berüchtigten Otto Wagner-Spitals in Wien spielen. Überhaupt, die Vergangenheit: Sowohl die unmittelbare der Ich-Erzählerin als auch die weiter zurückreichende ihres Geburtslandes regen sich im Lauf des Buches immer mal wieder, wie kaum merkliche seismische Schwingungen dicht unter der Oberfläche.
Zunächst scheint es, als habe Eva sich nur einweisen lassen, um ihren magersüchtigen Bruder zu befreien, der ebenfalls im OWS interniert ist. Ihre anfängliche Behauptung, eine Kindergartenklasse erschossen zu haben, stellt sich jedenfalls ziemlich schnell als unwahr heraus. Selbstsicher und luzide scheint sie über den Dingen zu stehen, so als könnte sie jederzeit dem Etablissement den Rücken kehren. „Urlaub in Lignano ist auch nicht viel anders“, bemerkt sie nonchalant; doch dass auch sie eine Versehrte ist, steht schon bald außer Frage.
Ihr Bruder Bernhard scheint eher Angst vor Eva zu haben, als sich von ihr retten lassen zu wollen. Und die Mutter der beiden, von der Eva behauptet hatte, sie sei tot, erscheint ein paar Kapitel später höchst lebendig zur Familientherapiesitzung. Ist Eva eine pathologische Lügnerin? Oder einfach nur das, was in der Literatur gerne als „unzuverlässige Erzählerin“ bezeichnet wird?
Ihr behandelnder Psychiater, Dr. Korb, attestiert ihr eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Doch selbst an diese scheinbar objektive Diagnose können wir uns schlecht klammern, denn schließlich ist es immer noch Eva, die kolportiert, was geschieht – und genau darin liegt die Perfidie, aber auch die Kunstfertigkeit dieses Romans. Mitunter reagiert Korb derart unprofessionell, dass man argwöhnisch wird: Als Eva etwa erzählt, der Vater habe sie und Bernhard missbraucht, erwidert Korb: „Ein sehr potenter Mann, Ihr Vater“ – und dieser flapsig-zynische Kommentar klingt verdächtig nach Eva selbst.
Unterbrochen wird der eintönige Psychiatrie-Alltag immer wieder von Rückblenden in Evas Kärntner Kindheit. Was dort so Schreckliches vorfiel, das beide Kinder in den Wahnsinn getrieben habe könnte, bleibt allerdings vage. Bernhard, so scheint es, war stets der Stille, Angepasste, und dadurch auch Mamas Liebling, während Eva schon früh die Rolle der mutigen Rebellin einübte und sich als „Vatertochter“ gerierte. Der Vater wiederum, so steht zu vermuten, verschwand recht früh von der Bildfläche und lebt seit geraumer Zeit mit einer neuen Familie. Ist das nun das Kerntrauma, das Eva in ihren Therapiesitzungen geschickt bespielt? Sie kennt den Therapeuten-Jargon, kann sämtliche Klischees aus dem Lehrbuch bedienen, und sie ebenso versiert wieder brechen. Mithilfe dieser Klaviatur manipuliert sie Dr. Korb, ihre Mitpatient_innen, und nicht zuletzt natürlich auch uns. „Sinnlose Feinde zu haben, bringt nichts. Die stehen einem am Ende doch nur nutzlos im Weg herum“, räsoniert Eva – ein kühles Zweckdenken, das Korbs Narzissmus-Diagnose zu bestätigen scheint.
Die bitterböse Lakonie, mit der Lehner erzählt, erinnert bisweilen an Thomas Bernhard, der hie und da aufscheinende feministische Impetus an Elfriede Jelinek oder Marlene Streeruwitz, die schonungslose Beobachtung des Psychiatrie-Alltags an die pseudo-dokumentarischen Filme von Ulrich Seidl. Ruft man sich all diese Referenzen ins Gedächtnis, wird klar, dass in „Vater unser“ weitaus mehr steckt als ein launiges Vexierspiel rund um Wahrheit und Lüge. Im Subtext ist es auch ein sehr dezidierter Anti-Heimatroman.
Wenn Eva obsessiv davon fantasiert, den Vater zu töten, dann ruft das nicht nur Freud auf den Plan, sondern zugleich die gesamte patriarchale Ordnung und die katholische Erziehung, die sie geprägt haben. „Der Vater wuchert uns unter der Haut, er dringt uns aus den Poren“, verweist damit nicht nur auf den abwesenden leiblichen Vater, sondern vor allem auf den Hauptvorwurf, den Eva ihm macht: Dass er so tut, als ginge ihn die Vergangenheit nichts an.
Die subtilen Seitenhiebe auf eine spezifisch österreichische Geschichtsvergessenheit sind so sporadisch über den Roman verteilt, dass man sie leicht überliest. „Wir Opfer haben eben ein schlechtes Gedächtnis“, heißt es an einer Stelle; an einer anderen taucht ein Jörg-Haider-Porträt neben einem Rosenkranz auf. Auch die Historie des Spitals wird nie erwähnt – man muss schon selbst recherchieren. Zusammengenommen jedoch ergibt sich ein rhizomatisches Geflecht, das den gesamten Text durchzieht und mit Sollbruchstellen des Vergessens versieht, in die man unversehens hinein stolpert. So bleibt etwa das im Buchtitel leicht verfremdete Vaterunser ein Mantra aus Evas Kindheit, das die jahrelang stumpf mit murmelt, ohne sich jemals der Worte bewusst zu werden, die sie da sagt. Eine Gefangenschaft in der ewigen Wiederholung vorgezeichneter Verhaltensweisen, die sich bis in die Adoleszenz, und – wenn man nicht rechtzeitig den Absprung schafft – bis hinein ins Alter zieht: „Genauso wie wir grölen mussten, musste der alte Mann eben pfeifen, wenn er eine Frau im Handwerkergeschäft sah.“ Und täglich grüßt das Murmeltier – ohne Amnesie, die das Gewesene auslöscht, eine kaum erträgliche Hölle. Vielleicht, so könnte man vermuten, ist Eva gar nicht irre, sondern hat lediglich vergessen, wie man vergisst.
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