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Kritik

Please tell me who I am

Annie Ernaux fragt in “Erinnerung eines Mädchens” nach den Bedingungen und Folgen ihrer ersten sexuellen Erfahrungen
Hamburg

Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinanderzuschlagen, eine Zigarette anzuzünden. […] Eines Tages, viel mehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren oder Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Sie können nicht mithalten mit dem Willen des Anderen. Er ist ihnen immer ein Stück voraus. Sie holen ihn nie ein.

Mit diesen Sätzen beginnt „Erinnerung eines Mädchens“ der 1940 geborenen Annie Ernaux. In Frankreich seit vielen Jahren eine bekannte Autorin, wurde Ernaux in Deutschland erst durch ihre eigenwillige Autobiographie „Die Jahre“ in der brillanten Übersetzung von Sonja Finck einem breiteren Publikum bekannt und als die hochrangige Schriftstellerin wahrgenommen, die sie tatsächlich ist. Es ist schon merkwürdig, dass sich das Eingangszitat in gewisser Weise auf Ernaux’ Werk in seiner deutschen Übersetzung übertragen lässt, denn auch „Die Jahre“ – eine Autobiographie, die durch den Verzicht gekennzeichnet ist, Ich zu sagen – stand in Deutschland zunächst durch die Gegenwart eines anderen Buchs im Hintergrund. Das französische Original stammt nämlich von 2008, und man kann sich fragen, inwieweit auch der immense Erfolg von Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ die Aufmerksamkeit deutscher Leser*innen erst auf Ernaux’ so großartiges Buch gelenkt hat. Eribon preist in seinen autobiographischen Erinnerungen die Genauigkeit von Ernaux’ Beschreibungen der „Klassendistanz“, den Gefühlen von Scham und Befremdung, die damit einhergehen, wenn man sein Herkunftsmilieu verlassen hat und als höher gebildeter Mensch dorthin zurückkehrt. Er konstatiert dort ein

Schamgefühl gegenüber den Verhaltens- und Sprechweisen, die sich von denen des neuen Umgangsmilieus massiv unterschieden.

 Annie Ernaux geht in ihrem Schreiben diesen Affekten von Scham und Schuld nach. Sie sucht nach einer angemessenen Sprache nicht lediglich für diese Affekte und den mit ihnen verbundenen subjektiven Miseren, sondern auch nach den gesellschaftlichen Mechanismen und kollektiv vorgenommenen Zuschreibungen, aus denen sie erwachsen oder die ihnen folgen.

Dass es so aussieht, als habe es mit Eribon einmal mehr einen Mann gebraucht, um Ernaux’ klugen, klarsichtigen und zugleich skrupulösen Texten hierzulande mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, kann man also womöglich einmal mehr als ironische kleine Volte der Literaturgeschichte deuten. Immerhin kommt die Autorin Ernaux damit in Deutschland aus der Softporno-Ecke heraus, in die sie der Goldmann Verlag über die Gestaltung Cover der Bücher „Sich verlieren“ (2001, dt. von Gaby Wurster) und „Eine vollkommene Leidenschaft“ (2004, dt. von Regina Maria Hartig) geschoben hatte: Die deutsche Ausgabe von „Eine vollkommene Leidenschaft“ zeigte auf dem Cover einen spitzenbodybekleideten Frauentorso in Seejungfrauenpose,  – wohlgemerkt den Torso, den Kopf hatte die Grafik kurzerhand weggeschnitten. Auf dem Cover von „Sich verlieren“ sah man immerhin einen Rückenakt samt Kopf, das Ganze war allerdings dann derart weichgezeichnet, dass man auch hier qua Cover die Ernsthaftigkeit des Nachdenkens über die Bedingungen und Bedingtheiten einer Liebesaffäre der Erzählerin in Zweifel ziehen musste.

Seit sich der Suhrkamp-Verlag der Werke von Annie Ernaux annimmt, ist die heute in der Nähe von Paris lebende Autorin nicht nur dank der großartigen neuen Übersetzungen, sondern auch dank der Gestaltung der Bücher, visuell rasch erkennbar da angelangt, wo ihr Werk hingehört. Man nimmt es wahr als eine Befragung der Sozialisationsbedingungen von Frauen mit unterschiedlichen Perspektivierungen, was diese Befragung ästhetisch produktiv und höchst innovativ in Literatur überführt.

 In „Erinnerung eines Mädchens“, in dessen französischem Originaltitel „Mémoire de fille“ Simone de Beauvoirs „Mémoires d'une jeune fille rangée“ (dt. „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“) weit deutlicher anklingt als im deutschen Titel, nähert sich Annie Ernaux ihren ersten sexuellen Erfahrungen mit Männern, die sie im Alter von achtzehn Jahren in einem Ferienlager im Department Orne gemacht hat. Es sind schmerzhafte, ja nachgerade traumatische Erfahrungen, was dazu geführt hat, dass es fast sechzig Jahre gedauert hat, bis die Autorin die „Mémoire de fille“ tatsächlich geschrieben hat:

 Ich wollte dieses Mädchen vergessen

 heißt es im Text und, kurz darauf

Immer wieder diese Sätze in meinem Tagebuch […] Seit zwanzig Jahren steht „8“ in meinen Notizen zu jedem neuen Buch. Das ist der fehlende Text, Immer aufgeschoben. Die unbeschreibliche Leerstelle.

Diese „Leerstelle“, so könnte man sagen, steht in engem Zusammenhang mit dem nur bruchstückhaft erinnerbaren Zustand, in dem die 18-jährige Annie zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen hat. Zu sagen, dass es dabei zum Missbrauch gekommen wäre, ist zugleich zutreffend wie unzutreffend, denn nichts war sehnlicherer Wunsch der Tochter aus streng abgeschirmtem, katholisch-kleinbürgerlichem Milieu, als „eine Liebesgeschichte zu erleben“ – aus einem psychischen Zustand heraus, der sich aus der „Verflechtung von Begehren und Verbot“ ergab. 

Die Leerstelle steht in Relation zu dem, was Simone de Beauvoir 1949 in ihrem Klassiker „Das andere Geschlecht“ analysierte: während sich der Mann als das Absolute, das Essentielle, das Subjekt setze, werde der Frau die Rolle der Anderen, des Objekts zugewiesen. Die Frau definiere sich in Abhängigkeit vom Mann. Bereits in „Die Jahre“ umkreiste Ernaux diese gesellschaftlichen Konventionen, die sozio-historischen Bedingtheiten der Sexualität vor der Einführung der Antibabypille, die Zwänge, als noch das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs galt und die für Frauen häufig ins Katastrophische führten, in die Illegalität, die Abhängigkeit oder ins soziale Abseits.

In „Erinnerung eines Mädchens“ wird dieser gesellschaftliche Komplex noch stärker fokussiert, formuliert, die Abhängigkeit einer Definition des weiblichen Begehrens von der männlichen Lust und dem männlichen Begehren scharf seziert: „I know it sounds absurd but please tell me who I am“, zitiert das erste von zwei Motti einen Song von Supertramp, der hier auf jenen Topos weiblicher Alterität hinweist, den „Erinnerung eines Mädchens“ in den Blick nimmt. Zugleich wird durch die im Text ostentativ wiederholte Frage, was Erinnerung ist oder sein kann, dieser Topos nicht einfach konstatiert, sondern immer neu beleuchtet. Konkret sieht das dann so aus: Meinte man zunächst, man begebe sich mit der Erzählerin in ein kohärent darstellbares Gefüge aus Betrachtungen alter Fotos – ein Verfahren, das Ernaux bereits in „Die Jahre“ zur Anregung und Freilegung verschütteter Erinnerung anwandte – so begreift man rasch, dass Ernaux schon die Idee einer über den Verlauf des Lebens hin kohärenten Identität permanent mitreflektiert. Die Erkenntnis, dass sich durch die Erfahrung auch das Selbstbild permanent verändert, wird in ihrem Schreiben stets mitverhandelt:

Dieses Mädchen? Bin ich sie? Um sie zu sein, müsste ich eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können

 und

 natürlich dürfte ich auch nichts von der Zukunft wissen.

Wer diese Zeilen liest, wird nicht nur Ernaux’ Zweifel an der Identitätskonstruktion der Figur erfahren, sondern auch die eigenen Konstrukte der Imagination während des Lesens hinterfragen müssen.

Und doch ist dieses Ich des Mädchens, von dem Ernaux erzählt, auch in der Erzählerin sehr deutlich aufgehoben, zeichnen sich seine Konturen mal schemenhafter, mal deutlicher ab. Eindrucksvoll und ergreifend ist, mit welcher Genauigkeit Ernaux die Erinnerungen an die Ambivalenz der Erfahrungen einer 18-Jährigen freilegt, die ihren ersten Geschlechtsverkehr gleichermaßen glorifiziert und über einen langen Zeitraum durch Ausbleiben der Menstruation, durch Bulimie und Kleptomanie gleichsam physisch für ihn „bezahlt". Im Kontext dieser Rezension kann das nur sehr ungenau unter den Begriff eines weitestgehend fremdbestimmtem sexuellem Erleben gefasst werden, ein Erleben, das die Erzählerin zwar vor dem und vom ersten Mal an fortwährend erneut ersehnt, wofür sich doch schämt – und das alles wiederum, ohne den Konnex  zwischen dem hastigen und wenig einfühlsamen Akt mit einem der Betreuer im Ferienlager im Sommer 1958, den Spielarten von sexueller und milieubedingter Scham, den Verboten und dem gesellschaftlichen Diskurs über Sexualität und Begehren in Worte fassen zu können.

Es ist der Intellekt, respektive das Schreiben, mit dem das Mädchen Annie zu Studienzeiten ein erstes Stück Autonomie gewinnt beziehungsweise zurückgewinnt, und durch das ihre körperlichen Abwehrreaktionen zurückgehen. Und durch den sich schließlich auch Worte finden, mit denen sich die Erzählerin der Erinnerung und der Gegenwart besser begreift.

 Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen

zitiert die Erzählerin Nietzsche in den Aufzeichnungen der 21-jährigen Annie. Der ambivalente Stellenwert, den Nietzsche hier der Kunst zumisst, er lässt sich auch mit Annie Ernaux’ Text neu denken.

 Ich habe diesen Text geschrieben, ohne mich umzudrehen. Ich habe den Eindruck, dass das alles auch anders hätte geschrieben werden können, als nüchterner Tatsachenbericht zum Beispiel. Oder ausgehend von Einzelheiten. […] Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt, vervielfacht die Möglichkeit des Schreibens.

Dass gerade aus dieser Erkenntnis der Offenheit etwas erwächst, das Ernaux' Text derart zwingend erscheinen lässt, unterstreicht seine Bedeutung für eine Archäologie weiblichen Begehrens und Schreibens.

 

Annie Ernaux
Erinnerung eines Mädchens
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp
2018 · 163 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42792-7

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