rollige dämonen
Achtzehn Jahre lang hat Barbara Maria Kloos an den Gedichten ihres neuesten Buchs gearbeitet. Für eine Auswahl aus „Fossile Infanten“ wurde sie 2008 mit dem Christine-Lavant-Lyrikpreis ausgezeichnet. Die Jury lobte damals ihre expressive Wortkunst, die poetischen Genuss und existentielles Schaudern gleichermaßen biete. Neun Jahre später liegt das fertige Werk nun im Verlag poetenladen vor. Es ist kompakt, liegt wegen des dicken Papiers schwer in der Hand und ist großzügig gestaltet, räumt den Gedichten Platz ein, auch leeren Seiten, die die einzelnen Kapitel voneinander trennen. Ein Buch voll Poesie, das allerdings mit wesentlichen Zusatzinformationen geizt und mir, so viel sei gleich zu Beginn gesagt, beim Lesen Freude, Anregung, (unergiebiges) Rätselraten und Ärgernis zugleich war.
Schon der Titel „Fossile Infanten“ macht neugierig. Fossile sind versteinerte Reste von Pflanzen und Tieren aus vergangenen Erdzeitaltern. In der Regel sind WissenschafterInnen bemüht, das gefundene Material, das selten unversehrt geborgen werden kann, wieder fachkundig zusammenzusetzen. Fehlende Teile werden dabei häufig durch Fremdmaterial ersetzt. Dies beschreibt meiner Meinung nach sehr gut das Vorgehen der Lyrikerin Kloos, die zahlreiche Fundstücke aus verschiedensten Künsten in ihre Gedichte einfügt. Der Ausdruck „Infanten“ jedoch bleibt rätselhaft. Das Wort bezeichnet spanische und portugiesische Thronfolger, was mir für das vorliegende Buch abwegig erscheint. Das lateinische Wort „infans“ hat mehrere Bedeutungen, kann u.a. mit „stammelnd“, „lallend“, aber auch „stumm“ übersetzt werden. Ich neige zu Letzterem, nicht nur, weil die Worte „Stille“ und „still“ in den Texten mehrfach auftauchen, sondern weil die Dichterin häufig Themen anreißt, die sie gleichsam einem Verstummen und Verschweigen entreißt, die sie dabei lustvoll dreht und wendet und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Zuweilen rückt sie auch das Lallen im Sinn eines Sprachverlusts oder Sprechunvermögens in den Mittelpunkt.
Die 1958 geborene Lyrikerin hat die Gedichte ihres Buchs thematisch in sieben Kapitel gruppiert, die keinen Titel tragen, sondern mit den römischen Ziffern I. – VII. durchnummeriert sind und durch ein Prolog- und ein Epiloggedicht gerahmt werden. Die Inhalte seien hier grob umrissen:
Das erste Kapitel widmet sich Kindheitserinnerungen, Gehörtem und Erlebtem aus dem 2. Weltkrieg, (Angst)Phantasien und Albträumen. Das „ich“ der Gedichte könnte zuweilen jenes der Autorin sein, dann ist es wieder jenes eines Kriegskindes, vielleicht einer Großmutter oder eines alten Nachbarn.
brandmaske mutterland
nachts stukas im kissen sie
lauern wie fliegen umsorgen
mein kinderohr bombardieren
fast lautlos die staubachse
der puppen im dunkel längst
vertrocknetes rüschengewebe
Im zweiten Kapitel werden existentielle Themen wie Krankheit, Alter, Sterben und Tod in den Mittelpunkt gerückt. Aufgeworfen wird immer wieder die Frage nach dem Glauben sowie der Bedeutung religiöser Zeremonien und liturgischer Versatzstücke im Alltag. Beeindruckend ist das insistierende Verweilen des Dichterinnenblicks, der auch dort noch hinschaut, wo andere sich längst abgewandt hätten, etwa wenn diverse Körpersäfte fließen, und der das allmähliche Verlieren von geistigen und körperlichen Fähigkeiten, somit all das, was Menschen einmal ausgemacht hat, einfängt, wie im folgenden Gedicht mit dem Titel „aufbewahrung“ die Zeichen fortgeschrittener Demenz:
... so schaut und
schaut er mich ewig
wie ein findling an
Das dritte Kapitel könnte man mit dem Titel „Liebe und andere Abartigkeiten“ überschreiben. Hier geht es Erotik, Begehren und Sex, käufliche Liebe, aber auch Missbrauch und Perversion. Auffallend hier wie auch in anderen Kapiteln ist der erfrischende, zuweilen schwarze Humor, der immer wieder aufblitzt, wie etwa im kurzen Gedicht
aphrodite
zwei bürschlein fußball taschenlampe
die sieht ja aus brummt der eine kickt
strahlt mich im herbstdunkel laserblau
an krass die sieht ja aus wie ein mann
Im 4. Kapitel wird das Abhandenkommen der Liebe thematisiert, auch psychische Heimsuchungen und Reaktionen, etwa Wut, Gram und Verdrängung, Abschiednehmen und Einsamkeit. Für das 5. Kapitel scheint mir das Wort „Trostlosigkeiten“ passend. Jahreszeitlich sind wir im November oder im Januar, streifen durch trostlose Landschaften und Vorstadtmief, treffen auf mitmenschliches Ungenügen sowie körperliche Versehrtheiten. So begegnen wir im Gedicht „tierläufe fanden erde und verwurzelten sich“ einem behinderten Bettler, dem Arme und Beine fehlen und dem ein „ich“ zu trinken gibt. In anderen Gedichte geht es um Obdachlose und Alkoholiker, um Lärm, Fäulnis und Ekel.
In den Gedichten des 6. Kapitels begeben wir uns lesend auf Reisen, die uns in verschiedene europäische Länder und Städte führen, aber auch darüber hinaus, etwa nach Amerika, Japan, Peru und Israel. Das 7. Kapitel schließlich versammelt Grausamkeiten vor allem der jüngeren Geschichte. Das Gedicht „skizze zur patentanmeldung“ greift einen Entwurf des Ingenieurs Fritz Sander für eine vierstöckige „Badeanstalt“ auf, einen riesigen Ofen zur Massenverbrennung von KZ-Opfern, und Kloos gestaltet dieses Gedicht visuell getreu der inneren Ofenskizze. In anderen Gedichten thematisiert sie z.B. die Geschichtslosigkeit der Nachfahren. So wissen Schüler in einer Umfrage 2010 nicht, wer oder was die „stasi?“ war. Barbara Maria Kloos zeigt in ihrem Buch eine Vielfalt ihres beeindruckenden Könnens und Wissens. Einfache, wenige Zeilen kurze Gedichte, die an Kindergedichte erinnern, stehen neben erzählenden und neben hochkomplexen, bis zu höchstens einer Seite langen Poemen, die sich, durchaus eine Stärke, auch beim mehrfachen Lesen jeder Eindeutigkeit entziehen. Viele ihrer Gedichte sind in und um Köln situiert, wo sie lebt, vermitteln Lokalkolorit, und sind, ich scheue dieses Wort!, als avancierte „Heimatdichtung“ zu lesen. Erwähnenswert ist das Spiel der Lyrikerin mit eigenwilligen Gedichttiteln und ihre Freude an Wortkreationen, etwa der Neuschöpfung „dreirädchenfleisch“. Darüber hinaus gibt es viele großartige Formulierungen, drei aus verschiedenen Gedichten führe ich als Beispiele an:
es schwimmt ein sarg im stimmenmeer // im kleinen finger brennt noch licht // Diese Kletterwand aus Bronchien ist mein Wald.
Im Klappentext wird ein Bezug zu Dantes Inferno hergestellt. Mich erinnerten viele der Gedichte in ihrer sinnlichen Bildhaftigkeit, der gestalterischen Wucht und überbordenden Dichte allerdings mehr an Hieronymos Boschs Gemälde. Auch Kloos ist der schillernden Gleichzeitigkeit von Bestialität und Schönheit zugewandt, die sie mit ihrer Phantasie ausgestaltet. Zudem webt sie eine Fülle an Bezügen und Zitaten ein, die ihre Gedichte um zusätzliche Echoräume erweitern. Ihre Texte begreife ich als Fossilien, die sie mit jenem anderswo gefundenen Material zusammenführt, mehr noch, sie sind Teile, die durch jene Bezüge erst vollständig werden. Allein die Aufzählung der literarischen Einflüsse würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Es sind bekanntere KollegInnen darunter wie Bachmann, Ausländer, Hrabal und Domin, Tranströmer, Hölderlin, immer wieder Goethe und Celan, aber auch eher unbekannte wie Ilse Langner und Ilana Shmueli. Manchmal stößt man zudem auf mythologische Anspielungen oder stolpert über die gebrochenen Zeilen eines Kinderlieds, etwa am Ende des Krankenhausgedichts „aufruhr ist die einzige musik (john keats)“:
mein licht ist aus wir gehn nachhaus deine
vom würgen nassen augen verendete zeilen
am rachenrand rabimmel rabammel rabumm
Musik ist für Kloos und ihre Gedichte wichtig. Die Lyrikerin zitiert zahlreiche Zeilen aus Kantaten von Bach, die sich mal harmonisch, mal bewusst dissonant in ihre Textmelodien einfügen. Auch der Komponist Haydn ist darin zu finden oder ein Zitat von Tory Amos. Noch wichtiger scheint Kloos die Bildende Kunst zu sein. Sie hat zahlreiche Texte zu Gemälden und Skulpturen in ihr Buch aufgenommen und fügt immer wieder Namen, etwa Georgia O’Keeffe, Mia Hamari oder Lucas Cranach, und Hinweise ein.
Leider fehlt im Buch ein ausführliches Glossar, was ich für einen gravierenden Mangel halte. Manche dieser Texte sind kaum zu entschlüsseln, wenn man nicht reichlich Zeit abseits der reinen Buchlektüre aufwendet, um sich via Google kundig zu machen. Anderen mag egal sein, aus welcher Bachkantate Kloos ihre Zitate bezieht, mir nicht. Und ein Gedicht wie „tumbakelch für ezra“ bleibt auch bei mehrfacher Lektüre hermetisch, es sei denn, man lässt sich auf mühevolle Recherchearbeit ein, um Puzzleteil für Puzzleteil schließlich herauszufinden, dass es sich um Ezra Pound, seine Frau und seine Geliebte dreht. Auch die Autorinnenbiographie ist leider dürftig, beschränkt sich auf drei Zeilen und hätte ausführlicher geraten können, denn selbst Google weiß über die Lyrikerin nicht allzu viel. Das ist schade, denn es liegt mit „Fossile Infanten“ ein in mehrfacher Hinsicht aufregendes Buch vor, dem eine breite LeserInnenschaft zu wünschen ist. Es wäre hilfreich, ließe sich ein solches Glossar noch hinzufügen.
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