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Kritik

Sprich, Vernunft!

Bettina Stangneth beschließt ihre Trilogie des dialogischen Denkens
Hamburg

Auf dem Umschlag und Titel in Versalien gesetzt, erzwingt „HÄSSLICHES SEHEN“, Bettina Stangneths pointierter Abschluß ihrer mit „Böses Denken“ begonnenen und mit „Lügen lesen“ fortgesetzten Trilogie, ein geradezu doppeltes Verständnis – nämlich als 'das Häßliche sehen' bzw. 'das häßliche Sehen'. Auch wenn die Philosophin und Historikerin sicherlich eher Letztes im Sinn hat, trifft doch wohl beides zu. Stangneth bezieht sich mit den Titeln der Trilogie auf drei Grundbegriffe des platonischen Systems, deren Gegenbilder sie untersucht, und zieht dabei ein wenig überraschendes, dennoch deprimierendes Fazit: „Dass sich das Böse, die Lüge und das Hässliche leichter an den Leser bringen lässt als das Gute, Wahre und Schöne, weil Menschen immer noch lieber den Spinnen als den Schmetterlingen folgen, habe ich erst durch die Praxis gelernt.“

Auf diese Lebenspraxis sind auch ihre philosophischen Betrachtungen gerichtet, und sie tun dies in einer wohlgesetzten, geschliffenen, selten prätentiösen Sprache (so daß der übermäßige Gebrauch von Adverbien wie z.B. „auch“ zuweilen recht enervierend ist). Stangneth behauptet provokant, daß das Denken nicht immer nur positive Resultate zeitigt: „Der Mensch kann noch so viel über das Vernünftige wissen und noch so genau erkennen, was das Richtige wäre, sobald es aber ans Handeln geht, zwingt ihn rein gar nichts, sich an sein eigenes Wissen zu halten.“ Sie erklärt, wie diese Diskrepanz entsteht, und sensibilisiert die Leser ohne Vorhaltungen für ein aufmerksames, an der Vernunft geschärftes Denken. Denn: „Objektiv anzuerkennen, dass es eine Verpflichtung zur Vernunft im Handeln gibt, bedeutet aber noch keine subjektive Anerkennung.“ Wir wollen zwar einen „anderen Vater aller Dinge als den Krieg“, allerdings entsteht aus dieser Einsicht noch lange kein vernunftgerichtetes Handeln.

Dafür bringt Stangneth den heute oft verpönten Begriff der Moral wieder ins Spiel. Das Denken setzt ein Abstraktionsvermögen voraus, aber es verführt allzu rasch dazu, Vernunft und Verstand mit einem sinnvollen Tun gleichzusetzen. Das gibt es nur, wenn die Sinnenwelt einbezogen wird. In der Praxis geht es also nicht darum, das Richtige zu sehen, sondern richtig zu sehen. Moral ist keine abstrakte Größe, sie muß buchstäblich vor Augen geführt werden, damit sie das Handeln beeinflußt. Vernünftig zu sein, ist selten lustvoll, sagt Stangneth, deshalb ist Selbstüberwindung nötig. Es ist leichter, sich manipulieren als auf die Erkenntnis ein den Anschein überwindendes Tun folgen zu lassen.

Die Paradoxien und Widersprüchlichkeiten des Denkens negieren nicht die Idealvorstellungen, aber Ideale neigen dazu, „alles Sinnliche und nicht selten auch die Bilder“ zu verdammen. Dazu gehört die Vorstellung, daß Bilder der Gewalt helfen, die Bilder der Schönheit und Moral abzuschaffen. Am Ende will uns Stangneth aber gerade zu einem neuen Sehen verhelfen, das zwar nicht kindlich unschuldig ist, sich aber von den eigenen Interessen emanzipiert und die erlernten Formen der Anschauung und Wahrnehmung hinterfragt. Denn es „gibt keine Selbstbestimmung ohne den freien Blick“.

An vielen, zum Teil sehr aktuellen Beispielen führt Stangneth vor, was es bedeutet, der Verlockung des Moments nachzugeben und aus vernünftigem Denken die falschen Konsequenzen für unsere Wahrnehmung zu ziehen. „Ein Vernunftwesen mit der Freiheit zur Widervernunft ist nicht nur für sich selbst eine Zumutung. Es ist auch das denkbar unzuverlässigste Mitglied einer Gemeinschaft.“ Religionen, Traditionen, das Social Credit System nach chinesischem Vorbild usw., im Grunde alles, was die Möglichkeiten der Ausschließung aus einer Gemeinschaft bietet, es zeigt, wie aus Rechtsnormen, die mittels Gewalt durchgesetzt werden, sich noch lange keine Moral etabliert. Moralische Ideen müssen versinnlicht werden, da eine „Selbstbestimmung aus Vernunft“ in der Regel nicht sichtbar ist.

Wertvorstellungen, erklärt Stangneth, bilden sich an der bestehenden Welt. Deshalb sind sie eingängig, deshalb sind sie nicht wieder so schnell aus den Köpfen zu bekommen. „Werte meißeln Realität in Stein, denn sie bilden nicht nur ab, was ist, sondern verhindern auch, dass wir das erkennen, was sich längst verändert hat, weil wir mit jedem Nennen des Namens wieder die Bilder der Alten wachrufen.“ Man sollte demnach stets versuchen, die Ideale nach ihrem vernünftigen Gebrauch abzuklopfen. Sie könnten sich nämlich als falsch erweisen. Eines sind sie auf jeden Fall nicht: widerspruchsfrei. Das trifft insbesondere auf moralische Beispiele zu, wie Stangneth im historischen Diskurs über Heldenkonstruktionen beweist, die als leicht vermittelbare Bilder und Vorbilder dienen.

Stangneths Abschluß der Trilogie mit ihrer hier nur ansatzweise zusammengefaßten Argumentation fordert zwar eine durchaus konzentrierte Lektüre, aber sie verhandelt allemal keine abstrakten philosophischen Begrifflichkeiten in einer Weise, die mit dem Alltagsleben nichts zu schaffen hätte. Es ist Ethikphilosophie beinahe im Sinne der antiken römischen und griechischen Autoren, nur daß hier keine Maßstäbe vorgegeben werden, sondern die Entstehung und Umsetzung solcher Maßstäbe anhand der Vernunft kritisch beleuchtet wird. Manche Fragen bleiben dabei offen, insgesamt ist es aber ein Plädoyer für die fortwährende Aktualität des Königsbergers Immanuel Kant und eine Aufforderung, den allgegenwärtigen Ausgeburten der Unvernunft mit unverklärtem Blick zu begegnen.

Bettina Stangneth
Hässliches Sehen
Rowohlt
2018 · 160 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-498-06448-8

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