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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Eine Meisterstory!

Hamburg

Wer einen ersten Blick in dieses gewaltige Roman-Epos wirft, der gerät bereits beim Betrachten des Umschlags mit der Abbildung eines reitenden Jockeys und der schemenhaften Abbildung eines bedeutenden Teils der amerikanischen Südstaaten mit den Kennzeichen Cincinnatti, Ohio und Kentucky ins Grübeln. „Der Sport der Könige“, der auf dem Territorium zwischen dem Ohio und dem Kentucky River ausgeübt wird? Vielleicht eine Geschichte über weiße Farmer, die mit dem Züchten von Rennpferden reich geworden sind? Was aber soll das Zitat aus Charles Darwins Abhandlung „Die Entstehung der Arten“ zu Beginn der Romanhandlung? Es verweist auf den Vergleich von lebenskräftigen Knospen, die die schwächeren Triebe beiseite schieben, wie es seit Generationen auf dem Lebensbaum geschieht. Ein Roman also über Generationen von eingewanderten Farmern, die seit vielen Jahrzehnten auf diesem von Indianern eroberten Territorium Mais und Getreide angebaut haben und nun auf Pferdezucht umgesattelt sind.

Die Autorin C. E. Morgan, aus dem südlichen Teil von Kentucky, dem Ort Berea, stammend, lässt ihre Leser auf den ersten zweihundert Seiten in dem Glauben, dass diese sich auf dem vertrauten Terrain eines Generationen-Romans befinden. Zu diesem Zweck bedient sich ihre auktoriale Erzählerin zunächst der gängigen narrativen Verfahren, um den Alltag der Familie von Henry Forge, dessen Ehefrau Judith und deren Tochter Henrietta anschaulich und umfassend aus der Distanz zu beschreiben. Zumindest solange, bis der schwelende psychische Konflikt zwischen Henry und Judith dazu führt, dass Judith das eheliche Haus fluchtartig verläßt. Der autoritäre, herrschsüchtige Vater befindet sich nach Judiths Flucht von nun in der ungewohnten Position, seine Tochter Henrietta, eine eigenwillige jugendliche Persönlichkeit, in die Rolle der Alleinerbin zu drängen. „Du und ich, wir sind eine Familie. … Blut und Gut.“ (S. 210) Mit dieser eindringlichen Botschaft, die einem Schwur gleicht, versucht Henry Henrietta in die Forge-Dynastie einzureihen, sehr zum Unwillen seiner Tochter. Während er die Namen seiner Vorfahren aufzählt, wehrt sich Henriette in Gedanken bereits gegen diese Einordnung. Auch ihre schulische Ausbildung bricht sie im Alter von zehn Jahren ab, weil sie im Unterricht gegen rassistische Diskriminierung protestiert und aus diesem Grund die Schule verlassen muss. Ihr Vater übernimmt von nun an im Farmhaus die Ausbildung seiner Tochter, nicht ohne ihr versichern, dass es simple Realität sei, dass Schwarze minderwertig seien. In den nun folgenden Lehrjahren der weißen Südstaatlerin stehen Theorie und Praxis der Pferdezucht neben dem Unterricht in klassischer Literatur und allgemeinen Fächern bei ihrem Vater auf dem täglichen Programm. Höhepunkt ihrer praktischen und fachlichen Ausbildung in der Pferdezucht ist der Begattungsakt einer Stute, bei dem Henriette auf ausdrücklichen Befehl des Vaters anwesend sein muss. 

Zu diesem Zeitpunkt sind sich Henry und Marietta einig in ihrer Absicht, mit der Pferdezucht ein profitables Geschäft zu machen. Beide verbindet beruflicher Ehrgeiz und Profitdenken im Geiste der weißen Südstaatler. Allerdings mit gravierenden Einschränkungen. Einerseits setzt Henry auf seine oft widerspenstige Tochter, andererseits wird ihm bewusst, dass sie ihren eigenen Lebensweg gehen will.

An diesem Scheidepunkt taucht Allmond Shaughnessy auf, der eine Anstellung als Pferdeknecht auf der Farm sucht, ein hochgewachsener Mann mit mittelbrauner Haut. Er stammt aus Cincinnati im Norden von Kentucky, ist sehr von sich überzeugt, jedoch durch seinen Gefängnisaufenthalt im Blackburn-Gefängnis von Lexington gesellschaftlich gebrandmarkt. Henrietta stellt ihn dennoch an, weil sie intuitiv von seinen Fähigkeiten überzeugt ist.

In den folgenden rund 200 Seiten stehen Kindheit und Jugend von Allmond im Mittelpunkt der Handlung. Er ist die Frucht einer sexuellen Beziehung zwischen Marie, einer schwarzen verarmten Akademikerin und einem weißen Abenteurer, der sich noch vor der Geburt seines Sohnes aus dem Staub macht, und sich nur ab und zu mal blicken lässt. Glücklicherweise nimmt sich der Reverend der ortsansässigen Presbyterianischen Kirche der beiden an, indem er sie seelisch und oft auch materiell betreut. „Nichts als ein brennendes Licht“ - unter diesem Leitmotto wird der Leser in wesentliche Grundzüge der Lebensphilosophie eines schwarzen Pfarrers eingeweiht, dessen aufopferungsreiche Seelsorge für den weiteren Lebensweg von Allmond wesentliche Impulse geben kann. In diesen Romanpassagen artikuliert sich auch die Position der Autorin gegenüber der machtbesessenen Politik der weißen Südstaatler, die in den 1980er Jahren die Proteste der Afro-Amerikaner gegen deren offene und subtile Benachteiligung durch den Staat unterdrückten oder im Konfliktfall ihre seit Jahrzehnten abgesicherten Privilegien zu ihren Gunsten einsetzten. Und diesen Konflikt verdeutlicht der Roman an der sich anbahnenden Beziehung zwischen der weißen Farmertochter und Allmond. Henrietta verliebt sich in ihn, bewundert dessen Männlichkeit und berufliche Geschicklichkeit. Und Henry? Er entläßt aufgrund seiner Beobachtungen den Pferdeknecht, den „Mischling“ Allmond, ohne vorhergehende Konsultation mit seiner Tochter, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass sie von ihm ein Kind bekommt. Mit dieser Entscheidung setzt ein Schwelbrand ein, der nach der Geburt seines Enkels Samuel in Verbindung mit dem tragischen Tod der Mutter zunächst verborgen, dann in offenem Hass auflodert. Zunächst ist Henry beruhigt, weil er nun weiß, dass er nicht wegen Unzucht mit seiner Tochter gerichtlich belangt werden kann. In diesen hochdramatischen Erzählpassagen, in denen sich verschiedene Erzählverfahren (auktoriale Erzählhaltung, innere Monologe, personaler Erzähler) mischen, entwirft die Autorin ein umfassendes Panorama von Schuld und Sühne, an das sich die symbolbeladene Darstellung einer mythisch-religiösen Landschaft anschließt. Auf ihre Deutung soll an dieser Stelle verzichtet werden, weil sie zu viele Querverweise auf die US-amerikanische Romanliteratur des 20. Jahrhunderts enthalten würde.

Unter der Bezeichnung Hellsmouth, dem Namen des vielfachen Derbysiegers im Besitz von Henry Forge, setzt der vorletzte Handlungsabschnitt ein. Er enthält die Beschreibung der Beerdigung von Henrietta in Anwesenheit von Henry, seiner von ihm geschiedenen Frau Judith und einer großen Trauergemeinde. Die von vielen tiefsinnigen Anmerkungen zum Schicksal der Forge-Dynastie gespickte Predigt des Geistlichen verweist auch auf die rassenübergreifende Liebe Gottes zu den Menschen. Ungeachtet dessen läuft das menschliche Drama in Kentucky weiter. Die Begleitumstände eines hochdotierten Derbys, unter anderem mit der favorisierten Stute Hellsmouth, liefern den Anlass dazu. Es ist die Konfrontation von Henry Forge und Allmond, der erkennt, dass sein Sohn sich in den fürsorglichen Händen seines ehemaligen Arbeitgebers befindet. Und der Rachefeldzug beginnt: Allmond zündet die Pferdefarm von Henry an, bedroht ihn, der zitternd seinen Samuel in den Händen hält, mit einem Revolver. Doch der Ausgang dieses dramatischen Kampfes um Gerechtigkeit ist unerwartet, lässt den Leser mit Verwunderung und mit einer tiefsinnigen Reflexion über das ethische und religiöse Weltbild eines „abtrünnigen Farbigen“ zurück. Und das Schicksal des überlebenden Samuel? Der Epilog erzählt von einem verwahrlosten jungen Mann auf der Flucht. Ist es Samuel?

Zweifellos ist den führenden amerikanischen Rezensenten zuzustimmen, dass Catherine Elaine Morgan mit ihrem vielschichtigen voluminösen Epos ein großer Wurf gelungen ist. Der mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen versehene Roman aus dem Jahr 2016 erzählt und kommentiert aus einer zweifachen doppelten Perspektive sowohl einen tiefgründigen sozialen und rassischen Konflikt zwischen weißen Südstaatlern und Afro-Amerikanern als auch den Bruch von bio-sozialen Entwicklungslinien. Beide Handlungslinien überlagern sich, fesseln in ihrer komplexen Beschreibung von offenbar unüberbrückbaren sozialen und rassischen Gegensätzen wie auch biologischer Vererbungsdefizite. C. E. Morgan legt nach ihrem ersten Roman „All the Living“ mit ihrem nunmehr auf dem deutschsprachigen Markt publizierten „Sport der Könige“ eine fiktional, stilistisch und narrativ spannende Meisterstory vor, die in der Übersetzung von Thomas Gunkel ein ebenso hohes erzählerisches Niveau wie im Original erreicht. Kein Wunder, denn der Übersetzer hat ebenso wie seine Autorin fachlichen Nachhilfeunterricht in Pferdezucht erhalten. Also beste Voraussetzungen für eine tiefgründige und oft auch sexuell aufgeladene Lektüre.

C.E. Morgan
Der Sport der Könige
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Luchterhand
2018 · 960 Seiten · 28,00 Euro
ISBN:
978-3-630-87299-5

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