Ästhetik des Überlebens
Auf etwa 2000 Metern Höhe, in einer unwirtlichen Berglandschaft, errichtet eine Frau ihr neues Zuhause. Wir erfahren weder ihren Namen, noch ihr Alter, noch ihre Vorgeschichte. „Auf sich selbst zurückgeworfen“ möchte man sie nennen, doch so ganz trifft es das nicht – denn gut vorgesorgt hat sie. Eine nach modernster Survival-Technik ausgestattete „Tonne“ inklusive Fotovoltaikplatten und minimalistischer, aber durchaus gemütlicher Einrichtung, nennt sie ihr Eigen. „Wenn es für diesen Raum eine Ästhetik gibt, dann die des Überlebens.“ Und dazu gehört ganz offensichtlich auch ihr kulturelles Kapital, kondensiert in einigen Büchern und ihrem Cello.
All dies täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass ihre Behausung an einem kargen Felsmassiv halb in der Luft schwebt, ausgesetzt den Elementen. „Der Abgrund ist ein Selbststudium“, sinniert sie, und unwillkürlich fragt man sich: Was hat die Erzählerin an diesen Punkt gebracht? Oder auch: Worauf will sie sich vorbereiten? Wahlweise nennt sie die Abgeschiedenheit, die sie so dringlich sucht, „meine Behandlung“, „meine Methode“ oder einfach ein „Training“.
Céline Minard belässt „Das große Spiel“ ganz im Moment. Explizite Zivilisationskritik übt sie nicht; wohl aber ruft ihr Roman eine lange Tradition der Einsiedler-Literatur wach. Auch eine feministische Lesart schwingt mit, denkt man an Parallelen zu Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ (1963) – obwohl das Geschlecht der Erzählerin bei Minard keine Rolle zu spielen scheint.
Sie legt einen Garten an, in dem sie Bohnen, Salat und Rüben sät, angelt Forellen, unternimmt lange, oft gefährliche Erkundungstouren, die sie an die Grenze der Belastbarkeit treiben. „Nature Writing“ ist dieser Text aber auch nicht wirklich, denn die Natur spielt nur eine Rolle, insofern sie Auswirkungen auf das Im-Raum-Sein der Protagonistin hat: „Die Umwelt (…) verschafft mir von außen die für mein Leben nötige Form, indem sie an der Hülle meines Körpers schabt und reibt, meines Körpers, der widersteht, der sich anpasst.“ Haptische Erfahrung, Form und Materie beschreibt Minard in nüchterner Sprache, mit knappen Sätzen, die so präzise sitzen wie die Handgriffe ihrer Protagonistin beim Klettern. Sämtliche existenziellen Fragen, die einem so einfallen könnten beim Gedanken an Bergeinsamkeit, streift die Autorin und verwirft sie alsbald wieder. Ist ein Dasein im Moment, ganz ohne Möglichkeitsform, überhaupt denkbar? Eine Selbstfindung in der Abgeschiedenheit? Was macht die Wahrnehmung der Murmeltiere, Gämsen und Vögel mit der eigenen Existenz? Man spürt: Minard ist passionierte Bergsteigerin und studierte Philosophin, der Text nicht bloß ein gut recherchierter, sondern ein Stück weit auch ein gelebter.
Als die Präsenz eines anderen, möglicherweise menschlichen Lebewesens die selbstgewählte Einsamkeit der Erzählerin stört, gerät auch ihre „Methode“ ins Wanken. Den „Wollhaufen“ nennt sie das, was sie da durchs Fernglas entdeckt, über lange Zeit. Ein Mönch? Eine Nonne? Oder doch nur ein großes Murmeltier? Ob imaginiert oder real, allein als Projektionsfläche nimmt das flüchtige Gegenüber mehr und mehr Raum in ihren Gedanken ein, und beeinflusst nicht nur, wie die Erzählerin sich selbst, sondern auch wie die Leserin sie wahrnimmt. Im Kontrast zu jener „Säulenheiligen“, die jedem menschlichen Bedürfnis entsagt, erscheint ihr Leben in einer behaglichen Wohnröhre, unter Solarpaneelen, mit gegrillter Forelle, getrockneten Steinpilzen und eingemachten Beeren, auf einmal beinahe luxuriös und kaum noch wie eine radikale Zivilisationsabkehr.
Bricht sie das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hat, wenn sie sich auf das „Spiel“ ihres Gegenübers einlässt? Oder ist eine Selbstfindung letztendlich überhaupt nur durch einen Mit- oder Gegenspieler möglich?
Ein archaisches, weitgehend wortloses Hin und Her beginnt, bei dem man oft nicht weiß, ob die Drohung oder das Versprechen überwiegt. Immer öfter weicht Minards klare Sprache rauschartigen Bewusstseinsströmen, verschwimmen die Grenzen zwischen „Ich“ und Außenwelt. Ist diese Entgrenzung der Abgrund, den die Erzählerin herbeisehnte? Oder vielmehr die Flucht davor? Minard entlässt uns – wie könnte es anders sein – mit einem wortwörtlichen „Cliffhanger“.
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