Weckschüsse mit dem Zaunpfahlgewehr
Jeder, wie er kann. Dieses Buch ist für alle, die auch nicht zusehen wollen, wie das, was mühsam erkämpft wurde, nun zerrieben wird. […] Fünf Journalistinnen, fünf Perspektiven. Wir beschreiben, warum es gute – schlechte – Gründe gibt für die politische Frustration. Wie man Fake-News erkennt und die Verdrehung der Realität bekämpft. […]
Denn wenn die Frage ist: Was tun?
Dann lautet die Antwort: Was tun!
Eine Anthologie, die den demokratischen Aktionsgeist und die politischen Perspektiven wiederbeleben soll – und zeigt, wovon sie derzeit verstellt werden. Aufgeteilt in zehn Kapitel (à la zehn Agenda-Punkte), in denen die Konfliktstellen der derzeitigen Krise der Demokratie verhandelt werden (ich denke, von einer Krise zu reden ist angemessen, wie dieses Buch mal wieder verdeutlicht. Die Worte Bedrohung oder Gefahr hingegen wären, auf einige Staaten gemünzt, zu viel oder, in Bezug auf die Lage in manch anderen Staaten, verharmlosend, weil die Bedrohungssituation dort längst in eine Aushöhlung oder Zerstörung umgeschlagen ist).
Den Anfang macht Christiane Grefe (jede der Beiträgerinnen hat zwei Texte verfasst). Und am Beginn steht natürlich: die Diagnose. Fake-News, Neoliberalismus, allgemeine Aushöhlung und Korruption in sozialen, rechtsstaatlichen und völkerrechtlichen Institutionen und Einrichtungen, Politikverdruss, Postkolonialismuskoller – Probleme gibt es genug und leider führt die Fülle der Herausforderungen derzeit nicht dazu, dass die Staaten und Gemeinschaften gemeinsam etwas anpacken. Das Gegenteil ist absurderweise der Fall. Dieser Zug zur Vereinzelung – in dem Glauben, die Probleme der Welt würden an Ländergrenzen oder innerhalb von Gesellschaftshierarchien haltmachen – führt auf globaler Ebene zur Abschottung und auf der Gesellschaftsebene zu einer Entfremdung und letztlich zu einem konsequenten Misstrauen, im schlimmsten Fall zu einem Widerstand gegen demokratische Prinzipien.
Denn letztlich ist Demokratie, zu Ende gedacht, eine Regierungsform, die darauf fußt, dass jeder Regierte dieselben Rechte und Pflichten hat und in Anspruch nimmt bzw. ausübt. Ein unausgesprochenes, aber durchaus in dem Gedanken von Demokratie verankertes Versprechen geht aber noch weiter und stellt letztlich in Aussicht, dass Demokratie auch heißt, dass alle Zugang zu denselben Privilegien haben, wenn sie es wollen. Dieser Anspruch war immer eine der größten Herausforderungen, denen (spätestens) moderne, säkularisierte Gesellschaften sich stellen mussten und es ist nach wie vor ein Anspruch, den moderne Demokratien oberflächlich pflegen.
Das Angleichen von Privilegien ist in der Menschheitsgeschichte ein zwar oft gefordertes, aber selten mit vollem Ernst betriebenes Unterfangen – meist räumten sich die scheinbaren Betreiber dieser Angleichung selbst Privilegien ein, die über denen aller anderen standen; alle Tiere sind gleich, aber manche gleicher, um George Orwell zu zitieren. Auch in unseren Gesellschaften sind die Privilegien nach wie vor unverhältnismäßig verteilt und viele verschiedene Ebenen, die mit der Herkunft, dem Geschlecht, der Sozialisation, der finanziellen Situation (Dinge, für die der Mensch eher nichts kann) und vielen anderem zu tun haben können, wirken sich auf den Zugang zu Privilegien aus.
Eine gute Demokratie müsste das Erkennen und Begradigen – immerhin ist eine Demokratie der Bevölkerung in ihrer Gänze verpflichtet, egal von was für einer gewählten Mehrheit sie gerade regiert wird. Natürlich kann sie es nicht allen recht machen (vermutlich sollten wir uns sogar eingestehen, dass sie, wenn sie ihre Arbeit wirklich gutmacht, es niemandem völlig recht machen kann), aber es geht bei Demokratie nicht darum, welche Gruppe mehr Privilegien bekommt, weil ihre Vertreter*innen gerade das Parlament kontrollieren. Das Parlament bildet (im Idealfall) die Interessensgruppen innerhalb der Gesellschaft sehr genau ab und eine Mehrheit dieser Gruppen bildet eine Regierung. Aber die Aufgabe der Regierung ist es dann, für die gesamte Gesellschaft eine Strategie zu entwickeln, um den Aufgaben der Zeit zu begegnen – und dabei für eine Balance der Privilegien zu sorgen. Diese Balance mag unterschiedlich gewichtet sein, aber es muss eine Balance angestrebt werden – soweit die Utopie.
Diese Balance ist in den meisten derzeitigen Gesellschaften nicht gegeben und in der globalen Situation erst recht nicht. Im Europa und im Nordamerika der Nachkriegszeit (sowie in einigen anderen Ländern) konnte man eine Weile glauben, dass eine erfolgreiche Balance gefunden und hergestellt worden sei. Aber diese Balance strich einerseits die wirtschaftliche Ausbeutung von Ländern in der sogenannten dritten Welt, sowie die verheerenden Folgen für die Umwelt aus ihren Bilanzen und wurde andererseits schließlich untergraben von einem innergesellschaftlichen Gefälle, in dessen Verlauf bestimmte Privilegien (und mit ihnen Perspektiven) immer weniger Leuten zugänglich wurden. Beides droht diese Schein-Balance nun einzuholen und endgültig zu zerstören (und mit ihr vieles, was an Stabilität und Vertrauen darauf errichtet wurde). Das Problem ist, dass die Demokratie als Gewährleisterin dieser Balance nun für ihre Unausgewogenheit geradestehen muss. Sie versucht es (manchmal leider auch nicht) und sie hat durchaus noch eine Chance, aber die Probleme und Hindernisse sind vielfältig.
Vielleicht haben die Jahre der neoliberalen Ausbeutung und das skandalöse Auseinanderdriften von Arm und Reich das Vertrauen in das System Demokratie schon zu sehr marodiert. Wie verunsichernd wirken die XXL-Bonustüten für Regelbrecher, für die Verantwortlichen der Finanzkrise […] wenn Politik verschleiert, dass sie längst das Kapital gegen den Menschen verteidigt und nicht umgekehrt.
Im zweiten Text federt Elke Schmitter die Heftigkeit der Diagnose erstmal wieder ein bisschen ab. Denn in diesem Abschnitt geht es um das Erreichte – und um die Utopie. In all seinem bekräftigenden, energischen Aufziehen von kleinen Siegen, Möglichkeiten und Errungenschaften, lässt dieser Text eine Mischung aus ehernem Zweifel und sorgsamer Hoffnung zurück. Natürlich: obgleich sich die grundlegenden Probleme nicht geändert haben, hat sich das Bewusstsein von größeren Teilen der Menschheit schon mehr als einmal grundlegend gewandelt. Unbelehrbar ist der Mensch nicht. Friedrich Dürrenmatt schrieb, dass das Rationale am Menschen seine Einsichten seien und das Irrationale, dass er nicht nach ihnen handle. Einsichten zur Grundlage von Handlungen zu machen, ist in der Tat eine Kunst, von der man sich wünscht, dass die Menschheit sie möglichst bald zu meistern lernt. Aber auch die Fähigkeit, mit Hilfe von Einsichten Alternativen zum Zeitgeist aufzuspüren, wünsche ich den Menschen (mich selbst stets eingeschlossen).
Gerade die Deutschen haben sich an das Wort »alternativlos« gewöhnt. Eigentlich das Gegenteil von Politik, aber inzwischen fast ein Qualitätsausweis.
Gabriele von Arnim befragte für den dritten Text unterschiedlichste Menschen zu ihrem Verhältnis zur gelebten Demokratie – ein spannendes Kaleidoskop von Meinungen, bei dem man Facetten seiner eigenen Vorbehalte, Wünsche und Fragen in mehr als einer Äußerung wiederfindet. Aber auch völlig neue Zweifel und Gedanken kommen auf, manche abwegig, manche zwingend.
Evelyn Roll gibt im vierten Kapitel „Spielverderber“ eine Einführung in den Umgang mit Demokratieverächtern. Sie plädiert, welch Wunder, für die Sachlichkeit und die entschiedene, aber möglichst nicht dramatisierende und emotionale, Diskussion. Obgleich ich ihr aus ganzem Herzen zustimmen will, was den Aufruf zur offenen Debatte angeht (weil ich glaube, dass wir den Dialog brauchen und alles andere keine Aussicht darauf hat, die Gräben zwischen den gesellschaftlichen und politischen Lagern zu überbrücken, höchstens zu umgehen), muss ich zugeben, dass der Text letztlich zu sehr davon ausgeht, dass der Mensch seine Emotionen außen vor lassen kann, wenn er es sich nur vornimmt. Es gibt immer wieder Beispiele, die zeigen, dass diese Taktik grundsätzlich erfolgsversprechend ist (Durs Grünbeins Diskussion mit Uwe Tellkamp am 8. März 2018 war ein solcher Fall), aber es ist meistens schwer, Leute aus unterschiedlichen Lagern überhaupt an einen gemeinsam Tisch zu bekommen und sie dann auch noch vernünftig und sachlich aufeinander eingehen zu lassen. Etwas zu weit geht mir Rolls Beitrag bei der psychologischen Analyse der „Spielverderber“, die mit etwas zu schnellen Diagnosen bei der Hand ist.
Rolls zweite Beitrag gleich im Anschluss setzt sich mit Fake-News & alternativen Fakten auseinander und dem grundlegenden und noch sehr frischen Umbruch, den ihr Erscheinen ankündigt. Letztlich haben sie in der Öffentlichkeit manifestiert, was seit einigen Jahren in den Eingeweiden der sozialen Medien vor sich hin rumorte, in den Echo-Kammern der jeweiligen, von Algorithmen generierten Parallelwelten (und -wirklichkeiten). Dass die Deutung (oder als „Wahrheit“ angesehene Auslegung) vieler Ereignisse und Dinge letztlich durch die Art der Berichterstattung und nicht durch die Tatsachen, die Wirklichkeit, konstituiert wird, ist ein Problem, mit dem sich jede/r Journalist*in auseinandersetzen muss. Fake News & alternative facts verspotten das essentielle Bemühen um die richtigere, noch genauere, noch differenzierte Auslegung und Schilderung eines Ereignisses, Sachverhalts oder Themas; sie sind das genaue Gegenteil von Journalismus, der Widerruf der Idee, die ihm innewohnt. In diesem Konflikt bewahrheitet sich leider mal wieder, was Arthur Schopenhauer sagte:
Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten. Aber alle Professoren der Welt können ihn nicht wieder zusammensetzen.
Im sechsten Kapitel macht Susanne Mayer klar, dass man sich dennoch informieren kann. Und das es wichtig ist, sich zu informieren, vor allem damit die Informierten nicht irgendwann zu wenige sind und sich nicht mal mehr untereinander austauschen können. Und außerdem ist ihr Text ein großartiges Plädoyer für den Journalismus und voller Anerkennung für die, die diesen Beruf rund um die Welt ausüben und meist dafür sorgen, dass wir Einblick in Zusammenhänge, Lebenswelten und Gedanken bekommen, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten.
Im siebten Kapitel ergänzt Gabriele von Arnim ihren ersten Text insofern, dass sie unter dem Titel „Auf die Straße“ ihre eigene Beziehung zur aktiven Teilhabe an der Demokratie beschreibt. Es ist ein Bekenntnistext, in dem sie ihre eigene Politikmüdigkeit und die Abkehr davon nach den Ereignissen von 2016 und 2017 verhandelt – und darauf pocht wie wichtig Demonstrationen sind und was sie bereits erreicht haben. Bereits in ihrem ersten Text zitierte sie ein paar berühmte Verse des türkischen Dichters Nâzım Hikmet, in denen es um das schwierige Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft – selbst der Teile von ihr, die ihm nahestehen – geht.
Leben wie ein Baum, einzeln und frei
und brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht.
Friedliche Demonstrationen sind eine Möglichkeit, diesen Widerspruch zumindest für eine kurze Zeit und im großen Format aufzulösen. Allein deswegen sind sie wichtig.
Nach all den Hinweisen auf Engagement-Möglichkeiten, federt Elke Schmitter in ihrem zweiten Text das Ganze wieder etwas ab und schreibt unter dem Titel „Ich kann nicht alles machen“ schlicht über die Grenzen des Möglichen und wie wir sie vielleicht trotz Widerwillen, Zeitnot und Skepsis etwas verschieben oder neu ziehen können.
Christiane Grefe fordert dann im neunten Text: „Rein in die Parteien!“. Wobei es nicht unbedingt ein Fordern ist – vielmehr zeigt sie die Beziehung der Deutschen zu ihren Parteien auf und liefert einige Beispiele, warum Parteiarbeit nach wie vor Gutes hervorbringen kann (Parteien haben einen furchtbar schlechten Ruf, woran auch dieser Text nichts ändern wird; aber er bringt mal eine andere Darstellung.)
Im zehnten Text, dem summa summarum, geht es dann ums Eingemachte, um das zu machende, das Ungemachte, die Machbarkeit: noch einmal werden viele Möglichkeiten aufgezählt, Ideen und zukünftige Perspektiven, die noch mitgestaltet werden können. Susanne Mayer bringt aber vor allem auf den Punkt, woran jede Gesellschaft und jede Demokratie nur wachsen kann: an Begegnungen, an Austausch. Egal ob das ehrenamtlich, konkret politisch oder pädagogisch, im Bereich der Kunst oder in praktischer Unterstützung, zwischen Menschen von unterschiedlichen Interessensgruppen oder innerhalb dieser Interessengruppen passiert.
Politisches Handeln, wie Barack Obama zum Ende seiner Amtszeit sagte, ist kein Einzelkampf, sondern ein Staffellauf: Wir nehmen das Holz und tragen es weiter, und am Etappenziel steht nicht Sieg oder Niederlage, sondern ein Mitspieler, dem wir es übergeben. […]
Es wird ein Langstreckenlauf werden. Aber sehr viele sind schon losgelaufen.
Man sollte von diesem Buch nicht erwarten, dass es komplexe Sachverhalte erschöpfend erläutert oder weiträumig aufgreift. Die fünf Autorinnen haben ihre Texte mit viel Engagement gewürzt und als engagierte Pamphlete, als Weck- und Warnschüsse, sollte man diese Texte lesen. Sie wollen, noch mehr als Information, vor allem Inspiration sein und das gelingt ihnen. Das verdanken sie ihrer Klarheit, aber auch dem breiten Querschnitt an Themen, sowie den unterschiedlichen Stilen und Herangehensweisen. Ein Büchlein, das man tunlichst kaufen und sich einmal um die Ohren hauen sollte.
An dieser Stelle will ich noch einen Dank an den Verlag Antje Kunstmann anbringen, der auch mit dieser Publikation mal wieder (und zuvor schon mit vielen anderen, bspw. „Requiem für einen amerikanischen Traum“ von Noam Chomsky oder Óscar Martínez „Eine Geschichte der Gewalt“ in jüngster Zeit) gesellschaftspolitisch relevanten Themen Raum gibt. In den letzten zwei Jahren habe ich oft Bücher aus diesem Bereich und aus diesem Verlag gelesen und ich wurde bisher nie enttäuscht.
P.S.: Die Einnahmen aus dem Verkauf des Buches gehen übrigens als Spende an die Organisation „Reporter ohne Grenzen“.
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