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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Bildschirm und Splitterung!

Christiane Heidrichs erster Gedichtband „Spliss“
Hamburg

Ob man sie nun im Bild des »Mobiles«, des »Dickichts« oder wie zuletzt Yevgeniy Breyger in seinem Essay in der Anthologie Aus Mangel an Beweisen im klugen und buchstäblich vielschichtigen Bild der »Faszien« fasst (ohne mit dieser Verbindungslinie die Unterschiede der genannten Konzepte nivellieren zu wollen): Ästhetische Ansätze der gleichzeitig locker atmenden, aber von notwendigen Bindemitteln in einer Aufeinanderbezogenheit gehaltenen Gefüge sind en vogue und äußerst produktiv. Diese Ansätze, in denen zahlreiche Ausdrucksvektoren aus dem Gravitationszentrum des poetischen Sprechens ausschwirren, in denen verschiedene Ebenen von begrifflichem Schwemmgut, gestischen Reaktionen und emotional-erinnerlichem Schutt ineinander greifen, scheinen eine zeitgenössische Sehnsucht zu treffen und bringen dabei wundervolle Gebilde hervor. Auch im Debütband der Dichterin, Bildenden Künstlerin und Performerin Christiane Heidrich, Spliss, finden sich in acht Abschnitten eine ganze Menge solcher ver- und bezaubernder Beispiele: Texte, die anpassungsfähig und dynamisch mit unterschiedlichen Annäherungsformen, Rezeptionszuständen und Lesarten zu interagieren wissen, von verschiedenen Spannungen durchzogen sind und deshalb auf jegliche Art von äußerlichem Druck reagieren können durch immer neue Eindrucksformen, die sie anzunehmen und dadurch auch beim Leser hervorzubringen in der Lage sind.

In diesem Prinzip des Neben- und Miteinander der Wirkebenen von Perzeption, Reflexion und Diskurs (aber natürlich nicht nur) funktionieren zum Beispiel die Texte der Abschnitte dinge rücken und Die Heiligen

(„arbeit, wipfel, metall eines abends in küchen“ (7); „staaten, ekel, ewige relativierte landschaft“ (11)).

In den meisten der anderen Kapitel fügen Heidrichs Gedichte dem aber eine neue Komponente hinzu und da wird es phänomenal, sowohl buchstäblich als auch wertschätzend gemeint. Dort wirkt die Komposition zwar weiterhin lose und flatternd, aber sich in einer Art Mimikry bindend: eine analytische Durchdringung wird angedeutet durch zahlreiche sprachliche Mittel, die eine lineare Logik evozieren: Demonstrativ- und Temporalpronomen wie »jetzt«, »dieser«, »jene«; Indefinitpronomen und Quantifikatoren wie »jeder«; Konjunktionen und Relativpronomen, die grammatisch eindeutige Strecken, Zeiträume und Eigenschaften behaupten. Die Stimme scheint eine Eindeutigkeit der Beschreibung und Bezeichnung zu suchen, die aber sowohl durch Rückwirkungen als auch bereits in der eigenen Ausrichtung konterkariert wird und deshalb nie vorherrscht. Zum Glück.

Vielmehr scheint das Sprechen dieser Gedichte wach zu sein für alle Abweichungen, für die Stellen, an denen im Wahrnehmungs- und Körperproduktionsprozesses Rückkopplungseffekte und Feedbackschleifen einsetzen, welche die Axiome des Sprechens selbst wiederum immer wieder neu justieren wie selbstlernende Algorithmen. Im Kapitel Re-modeling Leyton, das zur Mitte des Bandes und nur aus zwei Texten bestehend als eine Poetologie gelesen werden kann, wird auch der titelgebende »Spliss« symbolisch verkehrt: nicht seine kosmetische Unzulänglichkeit ist gemeint, sondern seine analogische Beschreibungsfähigkeit eines sich in immer weitere Teile spaltenden Körpers, weiterhin seine Bildkraft als Bruch der Stränge und Strenge, als Slogan gegen jedes glatte und geordnete Bild:

„[…] ‚Es geht ja nicht um die Haare, die Haare sind ja nur der Übergang, um den Körper zu brechen.‘ ‚Den Körper zu brechen?‘ ‚Den dir die Bilder anbieten, der sich mittels der Bilder in Realität übersetzt.‘ ‚Realität?‘ ‚Ich meine, die ganzen Vorgänge … sich im ständigen Abgleich mit den Bildern zu formen … sich zu formen und in Form zu bleiben … die entsprechende Materialität zu erzeugen … Gelingen, das dann weiteres Gelingen verspricht …‘“ (42).

Das Textsubjekt der Gedichte ist in diese formsuchenden und formgebenden Netzwerkprozesse nur in gleichberechtigter, nicht prominenter oder auslösender Position einbezogen. Das Ich, der Körper, das Bewusstsein, die Erinnerung, die Empfindung treten in diesen Interfaces nicht mit dem Dinglichen, Weltlichen, Wirklichen in eine Beziehung, sondern stehen immer schon in ihr begriffen. Input und Output, Senderin und Empfänger sind bloße Funktionszustände, die ihre Rollen andauernd austauschen können und dadurch zugleich bewegliche wie stabile Aggregate bilden. In diesen schleifenartigen Mehrkanälen werden Statuten, Kategorien immer erst im Prozess generiert und unablässig veränderlich sein:

„[…] Was mir entrutscht, muss auf eine innerhalb des Vorgangs erst noch zu ermittelnde Weise wieder aufgehoben und miteinbezogen werden.“ (66)

Es verketten sich für mich aus dieser Haltung heraus dann drei vorherrschende Motivbereiche, die zusammenhängen und sich einerseits in der doppeldeutigen Ansage „Körper umschreiben

“ (60) als auch in der Grundfrage „Wie fragmentiert in Stellung gehen?“ (51)

treffen; am beeindruckendsten durchgeführt in meinen beiden absoluten Lieblingszyklen Today I am functional und Performance.

Erstens erscheint die Entfremdung vom eigenen Körper im vielleicht eher üblichen Ton der Klage und Trauer, mit kulturpessimistischer Nachdenklichkeit, aber nur vordergründig („Reiz, eine Leerstelle, in der ich nicht wühlen kann. Von allem abgetrennte.

“ (48); „Gespräch: Mein rennender Körper ist einem anderen rennenden Körper ähnlicher als meinem eigenen, der sitzt.“ (49); „Also verpixelt, mit sachlichen Haaren vom Strand heraufkommen.“ (58); „Ich will auftauchen aus allem, das ich konsumiert habe. […] Schön, wie ein Snack in der 16. Straße, den ich nie wiederfinden werde, den ich, hinter meine Wangen geschoben, sofort wieder vergesse.“ (59)).

Andererseits aber, und das ist für die Qualität der Texte immens wichtig, erscheint die Fragmentierung und Prozessbezogenheit des Körpers

(„Die verschiedenen Zustände, die nicht mehr voneinander abrücken, die eng zusammenstehen unter einem Körper mit Namen. Hält das, das hält.“ (49))

auch im Motiv einer positiven Sehnsucht nach Auflösung und Übergang, als Verdriftung mit Umwelt, als Ding-Leib-Verschränkungen, die den Körper aus einer immanenten Leere sogar eher befreien und erweitern, ja transzendieren können. In diesen Körper-Gegenstand-Relationen werden Dinge dann die eigentlichen Agenten, die leitenden und formgebenden Aktanten des Netzwerks, auch weil die menschlichen Interaktanten irgendwie als entzogen oder zumindest als sehr fern erscheinen

(„Du fehlst mir. In meine Hand sinkt ein Bier.“ (57); „ginster, metall, nach oben schauen wie die geräte“ (7); „Ich will klingen, wie das Gegenteil von übereinander gestapelten Zusammenhängen, die sich befestigen.“ (59); „Ich bin dieses lose Gerät. Siehst du mich schreiben?“ (15)).

Und gerade diese ambivalente Haltung aus Akzeptanz und Widerstand macht die Gedichte so stark, lässt sie eine Wirklichkeit destillieren, in der »Selbst- und Fremdbestimmung« gar keine Kategorien mehr sein können, in denen selbst das Begehren nie Ausdruck eines Bedürfnisses, sondern durchwirkte Ineinanderschaltung von Gründen ist:

„Ich brauche genau eineinhalb Stunden von meinem Aufenthaltsort / zur Destination, die mir weitergegeben wurde, zu der ich aber auch will.“ (23)

„Diese achtsame Zahl von uns gestreuter Befehle, wie sie zurückkommen und etwas wiederwollen, das kein Gegenstand ist, an den meisten sichtbaren Stellen nicht einmal spricht.“ (50)

Ordnung, Balance, Ausgewogenheit werden als fragile Extreme und Oberflächenphänomene eines viel komplexeren Zusammenwirkens des Erlebens ernst genommen:

„gewaltig, wohin wir schielen, wie alles sich zur form bequemte / leis eskalierte in ein gleichgewicht“ (7).

Dies wird auch deutlich in den zahlreichen Verkehrungen oder aber eigentlich erst Zurechtrückungen der Raum-Körper-Verhältnisse, die zeigen, wie sehr das Sprechen und seine Raumfolge eigentlich an der Körperposition und -ausrichtung als Origo orientiert ist:

„Das schattige Zimmerende, der sich drehende Körper.“ (54); „Und draußen auf den Poren liegt Make-Up, stresst sich der erste Schnee.“ (59); „Jetzt sind die Orte auch lieferbar.“ (68); „[…] Nehme ich andere Gegenstände // im Raum einfach hinzu. Wie Körperecken, Liegengelassenes, deren Nicht-/Zu-Mir-Gehören mir keiner nachweisen kann.“ (26)).

Unsere digital-analog überblendete Lebenswelt wird in diesen Texten in ihren Wirklogiken abgebildet, nicht unbedingt thematisiert, sondern eher im habermas-husserlschen Sinn als  nicht thematisierter Hintergrund, dessen Besonderheit gar nicht in den Blick genommen werden muss, weil sie in jedem Blick bereits enthalten ist. Umso naher kommen die Gedichte daher dieser Lebenswelt auch, umso überzeugender sind sie. Es wird eben nicht über die digitale Lebenswelt und ihre Rückwirkungen auf den menschlichen Körper und Geist erörtert, sondern bereits aus deren Zusammenwirken heraus die Position der poetischen Rede gesucht und gefunden. Das Textsubjekt spricht „[a]uf einer rutschigen Fläche unbeantworteter Nachrichten. Auf einer geschäftigen / Fläche zu- und abgesagter Events.“ (25) Gefunden wird dabei auch eine der schönsten und kräftigsten Inversionen, die ich in letzter Zeit gelesen habe:

 „Und während sich die Möglichkeiten aufbäumen, berührt zu werden, mein eigener Körper ausgerechnet hält still.“ (23)

Es entsteht durch diesen Ton eine berauschende Durchdringung von Stringenz und Kontingenz, von thematischem Fokus und freiem Spiel, das mich enorm beeindruckt hat beim Lesen. Es sind die Rhythmen der Kontraktion und Entspannung, der Ablenkung und Konzentration, des Schweifens und Zentrierens, die diese Texte so körperlich präsent machen und gleichzeitig ausreichend Freiatmungsflächen bieten wie sie Erschütterungs- und Erkenntnisschneisen schlagen können. Diese Durchhaue innerhalb und aus der Nachbildung einer gegenwärtigen »Distraction« heraus machen diese poetischen Gebilde so hochaktuell. Verwirrungs- und Zerstreuungsangebote dunkeln um uns herum und fügen sich ab und an, nicht selten eigentlich, zu dann umso beunruhigenderen und fragilen Gewissheitsmomenten. Man sollte nie zu heideggerisch werden, aber es wirkt manchmal doch so, als könnten diese Gedichte das Verborgene ins Offene stellen und nicht nur das, sondern auch die Bewegung nachzeichnen, die das so unverstellte Sprechen als Schnittpunkt von Ding, Mensch und Umwelt zurückgelegt hat, zurücklegen musste. „Es gibt in jedem Fall ein kaum bewohnbares Stell-dich inmitten der Schrift.“ (60). Also, stell dich ins kaum Bewohnbare dieser Poesie: es lohnt sich. Und »kaum« bedeutet ja auch nicht »nicht«.

Christiane Heidrich
Spliss
Illustration: Andreas Töpfer
kookbooks
2018 · 80 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3937445946

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