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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Was nach Zeilenende geschieht

Christine Langer tastet die Sinnensphäre aus
Hamburg

Der neue Gedichtband von Christine Langer ist eine kleine Überraschung. Wer ihr durch ihre bisherigen Bücher gefolgt ist, „Lichtrisse“ (2007), „Findelgesichter“ (2010) und „Jazz in den Wolken“ (2015), dem wird neben einer zunehmenden Vereinfachung und Konzentration der Form vor allem die gleichbleibende unverkennbare Vorliebe der Autorin fürs Deskriptive aufgefallen sein. Auch im „Körperalphabet“ behält Langer eine Bildlichkeit bei, die der Natur entliehen ist, allerdings fügt sie der Deskription nun ein nicht unerhebliches Maß an Abstraktion hinzu. Auf den ersten Blick zeigt sich das an einer Hervorhebung der Polarität von Innen und Außen; doch bereits auf den zweiten Blick stellen sich Innen und Außen nicht als Gegensätze dar, sondern als einander beflügelnde und befruchtende Vermischungen der Perspektiven.

Im gesamten Band verschränken sich die Bereiche von Mensch und Natur; ein durch das Bindemittel der Sprache unauflösliches Amalgam sinnlicher Eindrücke, Erfahrungen und Erfahrbarkeiten entsteht. Zu diesem Zweck sind die einzelnen Abschnitte des Bandes ― natürlich wie immer cum grano salis ― um mehrere thematisch-bildliche Schwerpunkte zentriert: um Wind, Schnee, Luft und Bewegung. Aus diesen Elementen ergibt sich das „Wissen um das innere Sichtfeld / Das vorantreibt und dennoch verweilen läßt“. Die Außenwelt wirkt auf das Innenleben ein, so wie die Innenwelt wiederum die Sicht auf die äußeren Dinge beeinflußt:

Während die Sonne zwischen zwei Atemzügen
Das Zimmer flutet
Steigen die Baumwipfel in Zeitlupe
Aus unseren Körpern

In hauchfeinen und hauchleichten Abstufungen tastet sich Christine Langer an den Spuren entlang, die die Mitwesen zur Lektüre hinterlassen haben, verwischt diese, oft rätselhaften, Spuren zwischen Eros und Natur aber sogleich wieder, macht die Natur zum so sinnhaften wie sinnlichen Erlebnis und verleiht dem Körper kreatürlichen Kontakt zu diesen Mitwesen, sei es der Gegenübermensch oder die Naturäußerung. Die Trias Liebe―Natur―Körper wird von der dichterischen Sprache und der durch sie evozierten Imagination zusammengehalten. „Bald säumen wehende Zeilen den Weg“, heißt es zum Beispiel einmal ebenso anschaulich wie abstrakt, oder es ist vom „erregenden Wortwechsel der Bäume“ die Rede.

Über dem Weizenfeld
Zieht das Licht die Farbe
Aus dem Korn

Ein körperlicher Entzug
Von Nähe

Bilder der Vergänglichkeit, des Flüchtigen, Verwehenden dominieren in Langers Gedichten; doch sie sind keineswegs negativ konnotiert, denn sie sind Teil oder vielleicht sogar Bedingung der Bewegung, auf die es letztlich ankommt. In diesen Bildern, die sich einer beständigen Aufmerksamkeit verdanken, ist es, als würde der Augenblick an der Ewigkeit kratzen, als begännen alle Dinge sich zu drehen und zu tanzen im Bewußtsein ihrer Vergänglichkeit. Die Dichtung ist Ansprache, wobei die Pronomen sich zu vermischen scheinen, das Du kann das eigenen Ich sein, ein menschliches Gegenüber, vielleicht sogar die Welt oder die Welt, die im Du aufscheint. Der Eros im Gedicht umfaßt alles gleichzeitig. Sehen und berühren ― diese Idee zieht sich wie ein roter Faden durch alle Gedichte ― heißt lieben.

Ich schaue dich an und blicke
In die Großstadt
Unserer Körper
Mit den überirdischen Sensoren
Für grenzenlose Highways

In diesem Sinne ist das Gedicht, oder vielleicht sollte man tatsächlich sagen: die im Gedicht vertretene Haltung, eine Gegenschwerkraft, die aufhebt, was in Traurigkeit fällt, und ihre Stärke aus den einfachsten Dingen bezieht, dem Wechsel der Jahreszeiten, den Blumen, den Bäumen, der Haut, einer Katze, einem Atemzug, um sie mit Licht zu übergießen, solange es nur irgend möglich ist. Mit Langers eigenen Worten: „Du weckst die Kunst / In Himmel zu schreiben“. Diese Rückführung der Poesie in die Sinnensphäre ist durchaus eine Erleichterung nach soviel digitaler Komplexität, die einen täglich umgibt. Zumal immer noch unendlich viele Buchstaben bleiben für das hier zwischen den Zeilen nicht Ausgesprochene. Und wer kann sagen, was nach Zeilenende geschieht? Es entsteht ein atmosphärisches Fluidum, das schwebt, zerbrechlich, die Abwesenheiten ausfüllt, hautnah, wortnah ― kaum zu unterscheiden. Christine Langers Gedichte sind auf unmittelbare Weise schön, weil sie eine verwundbare Heiterkeit verteidigen und stets in Bewegung bleiben, hinauf, hinaus, eine Grenze ― von Körper? von Geist? ― übertretend.

Christine Langer
Körperalphabet
Klöpfer & Meyer
2018 · 118 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-86351-526-3

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