Verfehltes Leben
Einer geht und sucht und verläuft sich. Kommt woanders an, als wo er hinwollte. Ein alternder Mann, der immer “wir” sagt und doch stets allein ist. Einsam womöglich. Trost findet er in Museen. In allem, was vergangen ist: Bildern, Erinnerungen, Gräbern. Zurück an seinem Schreibtisch kann er die Zeit anhalten. Christoph Geiser, Schweizer in Berlin, früh- und vielhonoriert für seine ersten Bücher, spätes Coming-out in den 80ern und damaliger Kommunist, mittlerweile auch bald siebzig und zu Geld gekommen und in den letzten Jahren ein wenig vergessen vom Literaturbetrieb, hat fünf lesenswerte Erzählungen über, wie der Titel es sagt, verfehlte Orte geschrieben. Aber auch über Kunst, das Vergessen, das Schreiben, das Alter und die Schwierigkeiten, als Schriftsteller am Leben teilzunehmen.
Auf der allerersten Seite der ersten dieser fünf Erzählungen, Die Vergrämung der Zauneidechsen, lässt der Autor den Namen Robert Walser fallen, der auch in den folgenden Erzählungen immer wieder genannt werden wird, und gibt somit eine Leserichtung vor. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn einem hier eine Geschichte nicht ohne Umschweife erzählt wird, mit Abschweifungen, Abbrüchen, gebrochener Erzählperspektive, pseudoetymologischen Assoziationsketten. Geiser robertwalsert sich hier um den Kern seiner Geschichte, der ein Treffen des Schweizer Ich-Erzählers mit seinem Landsmann und, wie er erst Jahre später herausfindet, IM der Stasi in den 80er Jahren beinhaltet. Den Erzähler, wie auch die der folgenden Geschichten, darf man ruhig mit dem Autoren gleichsetzen, Geiser selber tut das auch in einem Interview mit dem SRF. Dass er, Geiser, nicht, wie sein damaliger Gastgeber, auch Journalist sei, betont er ausdrücklich. Und so windet und wundert er sich eher wie sein Prosakollege Walser vor ungefähr hundert Jahren in dessen Spaziergang und Räuber-Roman um das, was ihn eigentlich antreibt, herum. Er gibt dem Leser die Möglichkeit, einiges über Eidechsen, die Leninstatue, die im Köpenicker Forst begraben liegt, und das Granit, aus dem sie gemacht ist, zu lernen. Immer wieder unterbricht sich Geiser beim Erzählen, und selbst noch in seinen Abschweifungen. Oder, sagen wir es so: der Autor seinen Ich-Erzähler. Denn mal sitzen wir mit dem einen am Schreibtisch, wo er die Geschichte aufschreibt, die wir lesen; mal gehen wir mit ihm über den ehemaligen Leninplatz, dem jetzigen Platz der Vereinten Nationen in Berlin, und setzen uns dort mit ihm in ein Café, wo er sich seinen Erinnerungen hingibt. Immer wieder stellt er diese infrage, oder er stellt fest, dass sie große Lücken aufweisen, die er dann mit Wikipedia-Wissen füllt. Geiser gehört zu der Sorte Autoren, die den Leser am Schreibprozess teilhaben lassen. “Wie wir es eben ... bei Wikipedia lesen” ist eine typische Wendung in seinen Erzählungen. Er bricht seine Ausführungen ab, korrigiert sie, zeigt an, welche Umwege er jetzt noch gehen könnte, und gibt stellenweise zu, eben gelogen zu haben, offenbar um einer Assoziation willen (denn, so falsch der zweite Ton manchmal auch klingen mag, den er anschlägt - mit den folgenden Tönen, oder Motiven, Abschweifungen, in diesem scheinbar frei improvisierten Versuch einer Erzählung, fügt er alles wieder harmonisch zusammen). So bleibt am Ende beim Leser das Gefühl, dass hier einer von sich, seiner komplizierten Vergangenheit und seinen existentiellen Nöten erzählen, gleichzeitig aber auch spielen und sich hinreißen lassen will von der Sprache und den vielen unscheinbaren Verwicklungen der Welt.
In der zweiten Erzählung irrt der Erzähler durch Darmstadt auf der Suche nach und gleichzeitig auf der Flucht vor einem “Staatsempfang in der Orangerie,“ wie er es nennt. Nur aus der Biografie des Autors lässt sich schließen, dass es sich um ein Treffen oder eine Preisverleihung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt handeln muss. Im Text selber ist lediglich von einer Fruchtbringenden Gesellschaft die Rede, deren Mitglieder keine Namen haben und im Allgemeinen bloß die Fruchtbringenden, im Speziellen die Panische, die Verhärmte, der Bittersüße, der Vielgekrönte usw. genannt werden. Mag, wer kann, die dahintersteckenden Vorbilder aus der Realität entschlüsseln. Wichtig ist das nicht für die Geschichte (wie auch für die anderen vier nicht wichtig ist, was in der erzählten Zeit um den Erzähler herum passiert). Hier geht es um eine Person in einer nächtlich leeren Stadt, die ihr bekannt und fremd ist zugleich. Um ihre Angst und Sehnsucht. Die Angst ist zunächst die vor zu engen Räumen - der Erzähler flieht den Bus, in dem seine Kollegen und er sich sammeln sollen, um an ihren Bestimmungsort zu gelangen. Die Sehnsucht steckt im Titel der Erzählung: Der Neandertaler von Darmstadt. Denn zu ihm träumt er sich hin. Am liebsten wäre er im Landesmuseum und würde die dort ausgestellte Büste eines Neandertalers betrachten. Er weiß viel über die Neandertaler (und teilt sein Wikipediawissen wieder mit dem Leser). Denn was er liebt, studiert er. Ein Künstler mit kräftigem Händedruck ist er, dieser Neandertaler. Wahrscheinlich so und so alt, recht klein, seine Haut so und so beschaffen. Und seine Brustwarzen? Was der Erzähler nicht weiß, woran er sich nicht mehr seit seinem letzten Besuch im Museum erinnern kann und was man an der Büste nicht sieht, das stellt er sich vor. Einsam und fremd sitzt er in einem türkischen Restaurant (die Bedienungen dem Gast noch fremder als ohnehin schon (und sich selber auch fremd), denn es ist Halloween und sie müssen sich verkleiden), die Suche nach dem Veranstaltungsort längst aufgegeben, und steigert sich immer weiter in die Vorstellung von seinem Neandertaler hinein, die zur Obsession, zur erotischen Phantasie wird, dass einem aufgeht, dass hier nicht ein Ort verfehlt wird sondern das Leben selbst.
In der dritten Geschichte, Carlchen - oder: Das Balkonzimmer (im Buch steht Das Balkonzimmer kursiv, denn es ist der Titel eines Gemäldes), gibt sich Geiser kaum noch Mühe Bewegung vorzutäuschen. Hier dient die Kunst als Projektionsfläche für das Innere des Erzählers. Als Spiegel, als Startrampe für das Hervorkehren seiner Befindlichkeiten und Zustände. Der Erzähler geht ins Museum, eigentlich will er Gerhard Richters Bilderzyklus 18. Oktober 1977 anschauen. Aber viel lieber versenkt sich sein Blick in die Bilder des Realisten Adolph Menzel aus dem 19. Jahrhundert. Es folgen eine lange Beschreibung und Interpretation des Balkonzimmers - es treibt den Leser, wie den Autor, ins Netz. Den Autor, weil er so die Details besser studieren kann und weil ihm ohnehin immer erst im Nachhinein brauchbare Gedanken zu Erlebtem und Gesehenem kommen. Und den Leser, um zu überprüfen, ob das nachvollziehbar ist, was er da schreibt. Die Geschichte wird so zu einer Bildergeschichte. Vom leeren Balkonzimmer Menzels landet Geiser bei einer Jünglingsdarstellung. Der Autor-Erzähler lässt die Bilder miteinander kommunizieren. Er stellt sich den Jüngling im leeren Balkonzimmer vor. Dann erkennt er den gleichen jungen Mann in einer Skizze und sieht ihn abermals wieder in einem Bild Menzels, online jetzt, während seiner Recherchen, in einem New Yorker Museum. Wieder die gleiche erzählerische Bewegung wie in der zweiten Geschichte: Obwohl jetzt bereits von Anfang an im Museum, gibt der Erzähler sein eigentliches Vorhaben auf, geleitet, hingerissen von den eigenen Vorlieben. Wieder ein junger Mann mit großen Händen. An den Schreibtisch, ins Netz, in die eigene Vorstellungskraft, treibt es ihn. Hervor stechen drei Sätze, im ersten Moment scheinbar losgelöst von seinen Betrachtungen, wie eine verdrängte Erinnerung: “Juni 83. Sie starben wie die Fliegen. Und noch wusste niemand recht, warum, woran.” Man kann über Geiser nachlesen, dass er sein Coming-out erst spät im Leben, in den 80er Jahren, hatte, und dass er in dieser Zeit nach Berlin kam (unterwegs war er in beiden Teilen Berlins) und die dortige schwule Szene kennenlernte, als die AIDS-Epidemie um sich griff, noch bevor man wusste, womit man es zu tun hat.
In der vierten Geschichte, Die falschen Toten von San Michele, ist der Ich-Erzähler, der im Grunde ein Wir-Erzähler ist, auf dem Weg nach und dann in Venedig. In allen fünf Geschichten übrigens redet Geiser von sich in der ersten Person Plural. Fast immer sagt er “wir” und ist doch die meiste Zeit allein. Das klingt zu Beginn altertümelnd akademisch oder versnobt. Kein Leser lässt einem Autor so etwas heute noch durchgehen, wenn es nicht selbstironisch gemeint ist. Die Ironie ist leise bei Geiser, leiser als bei Walser, aber sie ist da (in den einzelnen Texten mehrmals, es bekommt jeweils einen eigenen Absatz: ein verschiedene Interpretationen einladendes, augenzwinkerndes “Wir?!”). So behält einer seine Würde in den kleineren und größeren Verwicklungen des Alltags. Man könnte auch “man” sagen, wollte man Distanz zu sich wahren, aber, so der Autor im oben erwähnten Interview, er habe immer das Kollektiv gesucht, deshalb sei er Sozialist gewesen. Deshalb also “wir.” Was dann im Endeffekt nur noch mehr des Erzählers Einsamkeit betont (und passt es nicht auch ganz hervorragend zur Erzählkonstruktion: das eine Ich, schreibend ein anderes, das das frühere Ich betrachtet - zwei verschiedene Ichs, also ein Wir?). Geiser fallen in Venedig natürlich alle möglichen Todesbezüge aus Kunst und Literatur ein, trotzdem fährt er hin, er, der sich vor so vielem fürchtet, vorm Tod wie vor dem Verfall im Alter. Die Museen, wie überall, sind seine bevorzugten Orte. Orte, anders als Konzertsäle oder Kinos, in denen die Zeit stehenbleibt. Die Museen mit ihren Bildern, über die er mit einem Freund spricht und die er später im Hotelzimmer oder wieder zurück in Berlin am Laptop vergrößert betrachtet, um sie besser studieren zu können. Überhaupt: “es geschieht alles erst im Nachhinein, der Bildschirm der Gegenwart ist schwarz”, wie er mehrfach wiederholt. Im Augenblick, so sehr er es auch möchte, kann er nicht leben. Wie Adolph Menzel, den er hier zitiert, fehlt es auch ihm “an jedem selbstgeschaffenen Klebstoffe zwischen mir und der Außenwelt”, fühlt auch er sich wie hinter einer Glasscheibe wie Félix Vallotton, dessen Zitat über eben dieses Gefühl der Erzählung vorangestellt wird. Erst am Schreibtisch nimmt er Kontakt auf mit der Außenwelt. Und: Er setzt sie dabei neu zusammen, so dass er seinen Platz in ihr findet. - Er sei Realist, sagt er. Die Realitätssplitter, die er sammelt, setzt er allerdings immer wieder neu zusammen. Dabei ähnelt er Josef Winkler (und in der Länge seiner Bandwurmsätze), auf den er auch ein paarmal mehr oder weniger versteckt anspielt. Oder anders: Die einzelnen Fasern, die Geiser der Realität entnimmt, Motive, Wörter, dreht er nicht zu einem festen Erzählstrang, den Leser zu fesseln. Lieber webt er aus ihnen einen Teppich, den man lang bestaunen kann. Am Ende der Erzählung ist er ausnahmsweise einmal dort, wo er hinwollte, auf der Toteninsel San Michele vor Venedig mit ihrem Friedhof. Allerdings findet er den Ausgang diesmal nicht, und die Frage stellt sich ihm: Wie “pietätvoll pinkeln”?
In der letzten, mit fünfzig Seiten längsten der Geschichten, Step by Step, unternimmt Geiser den Versuch, ein zweiter Truman Capote zu werden. Der Capote von In Cold Blood, der einen wahren Mordfall untersucht, mit Tätern wie mit anderen in diesem Fall Involvierten redet und darüber einen Tatsachenroman schreibt. Natürlich muss einer wie er an diesem Vorhaben scheitern. Wieder wird er seinen angestrebten Ort verfehlen, d. h. alle Orte, die ihn zu Fakten aus erster Hand führen könnten, wie den Prozesssaal oder die Gefängniszelle des Täters. Sicher, ihn interessiert diese Geschichte. Und man zweifelt auch nicht an seiner ehrlichen Absicht, der reißerischen Sicht der Boulevardmedien etwas entgegenzusetzen mit einer besser ausbalanciert erzählten Geschichte der Ereignisse. Es geht um einen pädophilen Mann in einem kleinen Ort, der einen dreizehnjährigen Jungen vergewaltigt und ihn, dessen Geschwister und die Mutter getötet hat. Schnell ist in den Medien die Rede von einer Bestie. Geiser will die Tat nicht relativieren, doch den Beweggründen eines Menschen nachspüren, der so etwas tun kann. Eines Menschen, wie gesagt, nicht einer Bestie. Dieses Ziel verfehlt er also. Weil er eben kein Reporter ist, zu wenig opportunistisch, zu zaghaft. Womöglich zu sehr Dichter und somit zu sehr an den Ambivalenzen der Geschichte interessiert, als wirklich Antworten finden zu können. So erfährt der Leser zwar, was der Erzähler selber über den Mordfall durch die Medien erfährt. Den Täter allerdings wird er nicht genauer kennenlernen, nichts Näheres zu seinen Hintergründen erfahren. Zumindest nicht aus gesicherten Quellen. Geiser stellt Vermutungen an, er stellt Fragen. Wie könnte es gewesen sein? Und er ist mutig genug, seine eigenen Erfahrungen in die Waagschale zu werfen, um sich in den Täter einzufühlen. Die verfehlte Nähe des Täters z. B. ist ihm nicht fremd. Und genau das ist das Verdienst dieser Geschichte: Dass hier einer mit literarischen Mitteln über ein Tabu schreibt und sich selber dabei nicht schont. Schwieriger zu entscheiden ist dabei, ob die sprachlichen Mittel, die Geiser zur Verfügung stehen, sein Stil, angemessen sind für diese letzte Geschichte. Es hat seinen Reiz, den Verknüpfungen der Geschichten untereinander nachzugehen und den sonderbaren Assoziationen eines fremden Menschen zu folgen, solange es vordergründig um nichts geht und es egal ist, worin sich der Autor spiegelt. Nur, wie gesagt, bei der letzten Geschichte, ein kleines Unbehagen diesbezüglich. Doch insgesamt ein Vergnügen für geübte Leser, die gern innehalten, einer ziselierten Formulierung nachzusinnen - und dabei das Buch in Händen wiegen, am Lesebändchen nesteln, über den Einband oder das zarte Papier streichen (denn der Secession Verlag macht sehr schöne Bücher).
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