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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Rollendistanz

Hamburg

Zuerst erscheint uns, wir hätten es mit einer losen Sammlung an anekdotischen Fußnoten und Nachträgen zu Entstehung und Edition des soziologischen Bestsellers "Rückkehr nach Reims" zu tun, der (zumindest im deutschen Sprachraum) Didier Eribons Ruf bei einem breiteren Publikum begründet hat. Nicht abwegig erscheint es, bei der Lektüre des ersten der drei Abschnitte in dem Vorliegenden die präliminarische Materialiensammlung zu einer Selbstbefragung zu sehen, betreffend die Bedingungen jener anderen, vorhergegangenen Selbstbefragung. Aber – wir sind auf dem Planeten französischer Theorieschreibe – an den Details der einzelnen Formulierungen der Selbstbefragung, und am anekdotisch "Dahinerzählten" hängt voranschreitende Theorie, wie andersherum an der Theorie klarer erkennbar als im z.B. deutschsprachig üblichen akademischen Schreiben gesellschaftliche Parteinahme hängt. (Das hat dann mit dem Band selbst wenig zu tun, aber: Registrieren wir da so etwas wie die Effekte eines verhältnismäßig klaren, eines unproblematischen Begriffs vom gesellschaftlichen Ort der Diskurssphäre, davon, was vom Intellektuellen als Typus zu erwarten wäre und wie, im weitesten Sinne, Sprache und soziale Wirklichkeit aufeinander bezogen sein können?)

Nun gibt es von ausgerechnet literaturkritischer Seite in doppelter Hinsicht wenig zu "Gesellschaft als Urteil" zu sagen: Von literaturkritischer Seite wenig, da, was in dem Band stichhaltig ist, zwar mit den auch-literarischen Stilmitteln des Essays vorgetragen wird, aber klar und durchgängig ins Gehege der empirischen Sozialwissenschaften verweist (und es an der kompositionstechnischen Seite nichts zu mäkeln gibt…); ebensowenig von literaturkritischer Seite, weil die Stellung des Buchs in Bezug auf den Kanon ohnehin schon ausgemacht ist ("Rückkehr nach Reims" ist eins der paar aus dem Französischen übersetzten Bücher der letzten zehn-zwanzig Jahre, dessen Existenz und ungefährer Inhalt dem deutschsprachigen Publikum halbwegs verlässlich bekannt ist; die Person Eribon markiert hierzulande als Kürzel den historischen Moment eines, sagen wir, wiedererstarkten Interesses an Klassen- und Bündnisfragen innerhalb einer akademischen Linken, die gerade dabei war, ihre Enttäuschung von der postmoderner Identitätspolitik zu verdauen; das ist etwas sehr eng Bestimmtes, aber das ist nicht nichts, und es bedeutet für den Folgeband "Gesellschaft als Urteil", dass dieser zum selbstverständlichen Teil des nämlichen Rezeptionskontinuums werden wird … was man als Kritikus dann bloß noch pflichtschuldig zu vermerken hat.)

Will sagen: Ich mag im Detail Eribons Meinung sein oder nicht1, und man könnte die einzelnen Punkte wohl trefflich diskutieren; aber weder fällt ihre Richtigkeit in meinen Zuständigkeitsbereich, noch auch ist es an mir, hier Haltungsnoten zu vergeben, ihre Wirkung im Diskurs betreffend.

So viel, und so vieles, zum Kontext. Zum Inhalt dagegen nur dieses wenige: Es ist "Gesellschaft als Urteil" nicht rasend kompliziert. Eribon  spricht zwar Anfangs über das Erscheinen seines Reims-Buchs, setzt es aber nicht wirklich zwingend voraus. Der Band  buchstabiert im Wesentlichen Sachverhalte vor, die zu anderen, gar nicht so weit zurückliegenden historischen Momenten als unausgesprochene Selbstverständlichkeiten herumliegen (und also ideologische Gewalt ausüben) konnten und deren unzweideutiges Benennenkönnen derzeit ausgesprochen nützlich erscheint, so im Gesamtgesellschaftlichen zwischen Echo 2018 und Bayerischer Polizeigesetzreform; es gibt, zusammengefasst, keinen guten Grund, "Gesellschaft als Urteil" angesichts von Abschnitten wie diesem folgenden nicht zu lesen:

Genets Beispiel ist frappierend: Ein Weißer sieht an einem Baum die Äste, die Blätter und die Vögel, die sich darin ihr Nest bauen. Ein Schwarzer hingegen sieht den Lynchgalgen, den Strick, die grässlichen Morde, die mit seiner Hilfe verübt worden sind.

(…)

Im Grunde scheinen mir die "Aufstände" in den Banlieus und die Zustimmung zum Front National zwei Seiten derselben Medaille zu ein, zwei Folgen desselben Phänomenkomplexes, zwei extreme und dabei gegensätzliche, in ihrem inneren aber verbundene Effekte einer einzigen sozialen Situation. Die Protagonisten erleben dieses wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Drama, das seit vielen Jahren von den Regierenden und ihren technokratischen Beratern inszeniert wird, auf je unterschiedliche Weise.

  • 1. Stichwort: Ungebrochener postmoderner Machtfetisch-Fetisch …
Didier Eribon
Gesellschaft als Urteil - Klassen, Identitäten, Wege
Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn
Suhrkamp
2017 · 320 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-518-07330-8

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