Wie viel weiß man von einer Vergangenheit, deren Menschen man nicht kennt?
Warum erzählen Menschen Geschichten? Scheherazade, aus 1001 Nacht tut es, um Zeit zu gewinnen. Sie spinnt ein Netz aus Erzählungen, in der Hoffnung, dass irgendwann vielleicht Rettung eintrifft. Dinçer Güçyeter hingegen enthüllt in seinem dritten Gedichtband „Aus Glut geschnitzt“, er nimmt den Schleier von den Ereignissen und zeigt, grausam und zart, was dahinter liegt. Hinter dem, was wir uns immerzu unbewusst oder bewusst zu verbergen bemühen.
Aus der Gegenüberstellung von märchenhaft erlösend und nüchtern aufdeckend bezieht der Gedichtband einen großen Teil seiner Spannung. Mit der schönen, ornamentalen Gestaltung, und den stets sinnlichen Gedichten gelingt Güçyeter eine Synthese von Orient und Okzident, er selbst sagt, er denke häufig auf Türkisch, bevor er dann seine Zeilen auf Deutsch niederschreibt.
Was so entsteht, sind magische, melancholische, aber auch grausam harte Szenen, die sich aus den Gedichten entfalten. Das Langgedicht „Der Koffer“ erzählt z.B. die Geschichte von Güçyeters Mutter. Es ist die Geschichte einer Einreise nach Deutschland, einer Auswanderung aus Anatolien, es ist eine Geschichte des Opferns und der Erkenntnis: „es gibt kein zurück.“ Aber auch, vielleicht noch wichtiger, verkörpert es den Aufruf: „Hör zu...“ Weil wir das noch immer, immer wieder viel zu selten tun, wir wollen einordnen, urteilen, sehr selten nur bemühen wir uns wirklich zu verstehen.
Dinçer Güçyeter ist Dichter, Verleger, Schauspieler und Regisseur. In einem Interview mit Safiye Can und Hakan Akcit erzählte er, dass sich seine unermüdliche Energie für eine Vielzahl ambitionierter Projekte aus seiner Neugier speist. Auf Geschichten, auf Menschen. Und auf Möglichkeiten. Den Möglichkeiten zuzuhören, und andere zum Zuhören zu bringen.
Inhaltlich geht Güçyeter den großen Fragen nach Identität, Heimat und Zugehörigkeit auf sehr konkrete Art und Weise nach.
Dabei nutzt er seinen Hintergrund als Schauspieler auf produktive Weise. Die Gedichte bekommen einen Körper, das lyrische Ich schlüpft in die Rollen der Menschen, von denen erzählt wird.
Es geht um Verluste, aber auch darum, wie es möglich ist, an den Verlusten zu wachsen.Die Gedichte behandeln Themen wie Vergewaltigung, Armut und Prostitution, aber auch Liebe und Geburt. Das sind häufig keine schönen Inhalte, Gücyeter bietet seinen Lesern vielmehr einen Stoff, der ebenso grausam ist, wie die Märchen. Nur haben Märchen wenigstens ein Happy End. Bei diesen Gedichten ist es anders. Gücyeter will mit ihnen keine Zeit gewinnen, vielmehr zumindest seine Leser aufwecken, und darauf aufmerksam machen, dass es längst Zeit ist, all die Legenden hinter sich zu lassen, um sich mit dem auseinander zu setzen, was die schmerzhafte Realität uns Tag für Tag erfahren lässt.
Dabei changieren die Gedichte zwischen anspielungsreich und ganz nackt. Die Form passt sich dem Inhalt an. Und dieser ist immer getragen von der Leidenschaft, mit der der Dichter, Dinge anspricht, Zustände und Tatsachen, die weder zu verstehen noch zu ertragen sind, die wie Glut Verletzungen in ein Weltbild schnitzen, das nicht nur unvollständig, sondern gelogen ist, solange diese Geschichten fehlen. Solange sie nicht erzählt sind.
Was den Band neben der Spannung einer Synthese von Orient und Okzident auszeichnet, ist der Mut, der Gewalt der Welt nur die Sprache und die Kraft über die Missstände zu sprechen, entgegen zu setzen. Weder Antworten noch Theorien werden als Schutzschild aufgestellt zwischen dem Unerhörten und demjenigen, der es erzählt.
Dieser Gedichtband ist auch ein Bilderbuch, ein inszeniertes Buch, was viel zur Stimmung beiträgt, ein Band, der mit einer hart erworbenen souveränen Leichtigkeit immer wieder Grenzen überschreitet.
Der Vogel, der mit dem Leser von Seite zu Seite fliegt, ist mindestens verwandt mit dem Vogel des Idioten, von dem Monika Rinck in ihrem gerade erschienenen Lesebuch spricht. Er hat die Aufgabe, die Seele des Idioten, sollte sie sich des Nachts zu weit von ihm entfernen, rechtzeitig zum seelenlos schlafenden Idioten zurück zu bringen. Eine Aufgabe, die Güçyeters Gedichte ebenfalls zu verfolgen scheinen, der seelenlos schlafenden Welt, die Seele gerade noch rechtzeitig zurück zu bringen.
In erster Linie und intendiert, ist Güçyeters Vogel aber verwandt mit „Birdy“, der titelgebenden Figur aus Alan Parkers 1984 in die Kinos gekommenen Antikriegsfilm „Birdy“. Ein Film, der nicht nur Stellung gegen den Krieg, sondern für die Freundschaft bezieht.
Und Freundschaft ist das große Geschenk, das Güçyeter mit diesem Gedichtband seinen Lesern macht.
„ich will ihnen nur die
Flügel schenken, die man
dir geraubt hat...“
schreibt der Dichter an Birdy.
Mit „ihnen“ sind seine Kinder gemeint.
Und wir alle.
Eines meiner liebsten Gedichte ist das bewegende Gedicht über den Tod des Vaters, ein Gedicht das noch stärker wirkt, weil die vorausgegangenen Gedichte diesen Mann bereits ambivalent vorgestellt haben, weil der Leser miterleben durfte, wie der Sohn sich am Vater reibt.
die Rücksendung
mit knirschenden Glasmurmeln in der Tasche
stand ich mitten im Terminal
bis die Durchsage meine Hände erlöste
Achtung! Achtung! Herr Güçyeter, kommen sie bitte zum Schalter 5!am Schalter 5 drückte mir die Dame den unleserlichen Schein in die
Hand
sie können ihr Paket da und da / so und so abholenso und so bin ich gelaufen, da und da war ich
gab der Dame hinter der Glasscheibe den unleserlichen Schein
warten Sie einen Moment, die Männer holen das Paketnach 10 Minuten kam er, auf den Schultern von vier Männern
meine Majestät, in seinem Himmelbett, mit einem Wedel in der Hand
an seinem schmunzelnden Mund hing die lange Apfelschale
keiner will es glauben: er konnte die Äpfel in einem Zug schälenhinter mir hörte ich
wie das Kind von seinem blauen Fahrrad sprang
und mit einem Hammer den herrenlosen Sarg zerlegte
keiner will es glauben, aber...
der Tod des Vaters ist die zweite Geburt des Sohnes
Nicht zuletzt demonstriert dieses Gedicht, wie verletzbar Güçyeter ganz bewusst bleibt, wie er niemals das Kind in sich verliert, und immer wieder Kraft und Bereitschaft aufbringt für all die schmerzhaften Geburten, die das Leben einigen von uns abverlangt.
Wie er unermüdlich zuhört, den anderen, und dem Kind in ihm selbst. Denn nur wenn wir zuhören, können wir die Menschen hinter den Geschichten, die letztendlich die Geschichte ausmachen, erkennen. Und das Zuhören machen uns die Gedichte von Dinçer Güçyeter leicht. Diese Gedichte entwickeln eine Kraft, die ganz anders ist als die kühnen und gelungenen Experimente der Dichter, die hoch versiert mit Theorien spielen. Hier scheint alles Praxis, eine manchmal erdrückende Realität, der einzig die Schönheit der Sprache zuweilen hilft, zu schweben, nicht jedoch um abzuheben, sondern um aus der Distanz auch hier noch die klitzekleinen Samen der Hoffnung zu erkennen und zu besingen. Das Gegenteil von Märchen, die letztendlich immer gut ausgehen, geben seine Gedichte den Menschen ein Zuhause, die Heimat und Hoffnung verloren haben, deren verschwiegene unerhörte Geschichte, unsere Gegenwart verkörpert.
Vielleicht, denke ich, ist das Poesie: das Überschreiben des Leids und des Unerhörten mit Worten so klar und schön, dass jeder hinsehen muss.
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