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Kritik

Elfriede Gerstls Nachlass

Hamburg

Im Droschl-Verlag ist nun der fünfte und letzte Band der Werkausgabe von Elfriede Gerstl erschienen. Der Band enthält einerseits einen Querschnitt durch bislang unveröffentlichte Gedichte, von den fünfziger Jahren bis zum Tod der Wiener Autorin 2009, andererseits diverse Materialien zur Schriftstellerin, zum Beispiel einige herrliche Interviews und Traumprotokolle. Nachlässe sind manchmal eine schwierige Angelegenheit, da sie “eine verdächtige Ähnlichkeit mit Ausverkäufen wegen Auflösung des Geschäfts” haben können (Musil). In Gerstls Fall ist davon allerdings nichts zu spüren. Im Gegenteil, alles, was sie auszeichnet, tritt hier noch einmal vor den Vorhang, und hinzu kommt eine überraschende, aber stimmige neue Beleuchtung. Insbesondere wird dem allgemeinen Leser Gerstls Interesse am Thema der Kommunikation vielleicht nirgends so deutlich wie in diesem Nachlassband.

Verkürzt könnte man sagen, dass zwei Elemente Gerstls Werk und Nachlass ausmachen, eine kunstvoll saloppe und direkte Art, die persönliche Stimmung oder Verstimmung auszudrücken, sowie eine Neigung zur verschrobenen Weltsicht, die sich in Sprachexperimenten und surrealistischen Bildverschiebungen zeigt. Den Sprachexperimenten in der Tradition der konkreten Poesie bleibt sie stets treu, wenn auch aus zunehmend ironischer Warte, eine Entwicklung, die 2000 in einer “konkreten elegie” gipfelt (s. 81):

            des net
            und des a net
            und a des net
            net des
            a net des
            und
            und
            und
            des
            des
            n e d
            diät is des

Der surrealistische Touch springt hingegen vor allem in den früheren Gedichten hervor, die aufgrund von Gerstls zu der Zeit begrenzten Publikationsmöglichkeiten im Nachlass besonders zahlreich vertreten sind. Hier finden sich unter anderem viele Prosastücke in federnder, symbolistisch angehauchter Sprache, die von eng begrenzten Räumen, durchaus auch dem Weltraum, handeln, aus denen kein Ausweg ersichtlich ist. Der etwas pathetische Tonfall dieser Texte wird spätestens in den sechziger Jahren von der luziden, bissigen Sprache abgelöst, die wir aus ihrem Roman Spielräume (1977) oder der (Neuen) Wiener Mischung (1982 / 2001) kennen. Während sie also 1958 noch ein Gedicht schreibt, das düster mit dem Vers “Meine Gedanken sind schwarze Vögel” anhebt (s. 12), beginnt 1964 das Gedicht “Bundes-Kosmetik” so (s. 45):

Pit die Schönheit
sage ich
wird
           arden for men
    ausbrechen unter den Bundesbürgern
    überall

Allerdings sollte man den stilistischen Übergang nicht übertrieben darstellen. Schon 1958 schreibt Gerstl auch im besten Sinn salopp und satirisch einen “Schlagertext” (s. 22): “ich möchte mit dir staubsaugen / ich möchte dich aufräumen / am silbernen Meer.” Außerdem behält sie ihren Geschmack für das Surreale bis zuletzt. Sie hält in einer Notiz in den Neunzigern fest, dass “gedichte eine prise surrealismus brauchen”, beklagt, dass ihr diese manchmal abgehe, aber rettet sich dadurch, dass sie bemerkt: “im übrigen glaube ich, dass im traum alle menschen surrealismen erleben” (s.154). Ihre lebenslange Gewohnheit, Träume aufzuschreiben, gibt sie nie auf, wie die Abteilung “Träume” in diesem Band zeigt, und in den Niederschriften scheint Gerstls Penchant für das Surreale weiterhin auf. Bemerkenswert ist zum Beispiel das wunderbare Protokoll eines Traums über Ernst Jandl: “Jandl war gestorben, ausgestopft in eine Art Käfig gesetzt…” (s. 104). Insgesamt ziehen sich also die anfangs genannten Tendenzen alle durch das ganze Werk, aber der stilistische Schwerpunkt verlagert sich zunehmend zum saloppen Ton hin.

Der hauptsächliche Zweck dieses saloppen Tonfalls ist es, eine Beiläufigkeit des sprachlichen Ausdrucks zu erzeugen: “alles was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen” (Spielräume, s. 61). Die Beiläufigkeit erlaubt es Gerstl, den Worten durch einen leicht schiefen Gebrauch eine neue Bedeutung abzugewinnen, in einer literarischen Aneignung des pseudo-Wittgensteinschen Slogans, dass der Gebrauch der Worte ihre Bedeutung bestimme. Denn Wittgenstein “hatte sie ja gelesen”, wie es von der Protagonistin Grit wiederum beiläufig in Spielräume heißt (s. 53) und wie man an der eben zitierten Tractatus-Persiflage ablesen kann. Es erstaunt deshalb auch nicht, dass Gerstl in einem Interview mit Hubert Fichte von 1982 die Philosophischen Untersuchungen neben Klassikern der Wiener Gruppe unter ihre Inselbücher zählt (s. 165). Die Anwendung des Slogans jedenfalls findet durch Wortspiele statt, die also nicht müßig sind, sondern ein Grundprinzip von Gerstls Poesie. Am überzeugendsten wird die Wortspielerei einmal mehr in Spielräume durchgeführt, aber auch im Nachlassband ist sie relevant, zum Beispiel in “denker-szene-lokal” von 2006: “theorieverrichter / theorieverzierer / theorievernichter / hektisch im café / am ecktisch” (s. 92).

Wie man an den Kerben dieses Ecktischs sieht, eignen sich das Wortspiel und generell der saloppe Ton bestens für die Invektive, eine von Gerstls Lieblingsgattungen. Im allgemeinen ist ihr Ziel die Heuchelei der sich dem Kulturbetrieb anbiedernden Schriftsteller, Kritiker usw: “in einem galeriewald stehen / die grosse galeriepredigt anhören / die adabeis und wichtigtuer treffen ein-winken” (2006, s. 92). Ähnliche Schmähreden finden sich auch in der Neuen Wiener Mischung, “er wird kahl / er wird radikal / er wird radikal kahl” (s. 117), und natürlich in Spielräume, wo sie Catull ebenbürtig ist: “einer, der Papier redet / einer, der Oden atmet / einer, der Aphorismen pisst / einer, der Konvolute scheisst” (s. 59). Die zeitliche Streuung dieser Ausbrüche des heiligen poetischen Zorns weist wieder darauf hin, dass die Grundzüge von Gerstls Literatur durchwegs erhalten bleiben. Auch im Nachlass leuchtet so der klassische Gerstlstil hell und klar wie seit eh und je.

Zusätzlich aber ermöglicht der vorliegende Band eine neue Sichtweise auf die Autorin. Speziell die Interviews legen nahe, dass es in allen ihren Texten eine Konstante gibt, nämlich die Beschäftigung mit Kommunikationsvorgängen. In der klaustrophobischen Prosa der Fünfziger ist das Eingeschlossensein unter anderem unschwer als Symbol für gekappte Kommunikationswege mit der Außenwelt zu deuten. Die Invektiven scheinen unter anderem ein Bedürfnis auszudrücken, mit dem ignoranten Establishment zu sprechen, und das sprachliche Experiment kann auch als Teil eines Versuches gelesen werden, neue Arten der Kommunikation zu ermöglichen. In einem großartigen gemeinsamen Interview mit Elfriede Jelinek über die Mode, bricht Gerstl die Fragen zuletzt auf eine Analogie mit der Kommunikation herunter: “Es gibt ja auch gar keine Möglichkeit, sich der Mode zu entziehen. So wie der Watzlawick sagt, daß es unmöglich ist, nicht zu kommunizieren, so kann man sich auch nicht nicht modisch verhalten” (s. 211). Gerstls literarischer Stil scheint vom Misstrauen gegenüber den Möglichkeiten der Kommunikation geprägt zu sein, bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass in Texten kommuniziert werden muss.

An dieser Stelle könnte man natürlich einem plumpen Biographismus verfallen. Denn wie sie im Interview mit Fichte selbst erzählt, überlebte Gerstl als jüdisches Kind die Nazi-Jahre in Wien versteckt in einer kleinen Wohnung. Außerdem wissen wir, dass sie lange nicht die ihr gebührende Anerkennung als Schriftstellerin erhielt. Die einfachen biographischen Interpretationen der Kommunikationsmotive wären also schnell gestrickt, die geschlossenen Räume einerseits, die Angriffe auf den Kulturbetrieb andererseits vermeintlich decodiert. Ein solcher Rückgriff auf die Biographie ist nun zwar möglich, aber mäßig hilfreich. Gerstls Lektüre von Wittgenstein oder eben Watzlawick reichte völlig aus, um eine externe Teilerklärung ihrer literarischen Beschäftigung mit den unergründlichen Wegen der Kommunikation zu liefern, wenn man denn an solchen externen Erklärungen Freude hat. Gerstl selbst äußert sich zur Frage der Biographie im Interview mit Fichte so (s. 166): “Ich möchte Echo für meine Literatur, nicht für mein Schicksal.” Ich sehe in diesem Fall keinen Grund, den Wunsch der Autorin nicht ernstzunehmen.

Wichtiger als Gerstls explizite Aussagen ist allerdings die Weise, auf die sie die Interviews gibt. Denn ihr ambivalentes Verhältnis gegenüber der kommunikativen Kraft der Sprache zeigt sich auch hier. Sie antwortet sehr offen, aber gleichzeitig in einem trockenen, zurückhaltenden Ton. Zum Beispiel gibt sie freimütig zur Masturbation Auskunft (s. 187), und trotzdem bleibt sie scheinbar distanziert. Die Interviews mit Gerstl fügen sich so nahtlos in ihr literarisches Werk ein: Es wird etwas gesagt, und es soll etwas gesagt werden, aber gleichzeitig muss man dem, was der Text dann sagt, auch schon wieder misstrauen.

Die Distanzierung vom geschriebenen oder gesprochenen Text kann am besten dadurch vollzogen werden, dass er beiläufig gesprochen oder geschrieben wird, als ob einem gar nichts an ihm läge (genau weil einem so viel an ihm liegt). Damit sind wir wieder beim saloppen Ton, bei den Wortspielen und all den stilistischen Tendenzen, die für Gerstls Literatur entscheidend sind; aber diese Tendenzen können nun, unter Berücksichtigung des Nachlasses, als Teile einer gesamthaften kommunikativen Strategie und einer gesamthaften Haltung zur Kommunikation gesehen werden.

À propos: Im erwähnten Interview über die Mode sind Jelinek und Gerstl eben drauf und dran, Hegel zu verhandeln, da ergibt sich der für den ganzen Band bezeichnende, weil absurd nebensächliche Moment. Es tritt nämlich wie aus dem Nichts eine Kellnerin auf und spricht (s. 211):

“Darf ich abkassieren, wir machen schon Schluß.”

Elfriede Gerstl
Das vorläufig Bleibende
Texte aus dem Nachlass und Interviews 2017
Droschl
2017 · 344 Seiten · 29,00 Euro
ISBN:
9783990590003

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