Die Geisterseherin
Was würde Wolfgang Koeppen wohl von einem Smoothie denken? Diese Frage geht Eva Demski beim Spaziergang über die Frankfurter Buchmesse durch den Kopf, wo die „frisch geschlüpften Wunderfräuleins und Slammer, Romanciers und Blogger“, die sonst das Netz dominieren, das Szenenbild prägen. Doch lässt sich die buchmessenerfahrene Autorin nichts vormachen. So laut und demonstrativ der Nachwuchs dem von Twitter und Instagram getriebenen Augenblick auch huldigen mag, am Ende steht doch die Sehnsucht nach der Ewigkeit. Das verbindet die Jungen mit denen, die in den vergangenen 50 Jahren die Messegänge bevölkert haben. Und nach einem langen Tag hört man wie eh und je die Frage: „Geht ihr auch zu Hanser?“
Mit diesem szenischen Einstieg setzt die frühere Theaterfrau den Ton für ihre Erinnerungen. Es ist ein versöhnliches, fast heiteres Buch geworden. Trotz der zahlreichen persönlichen Schicksalsschläge, die dieses Leben begleiten und die nicht ausgespart werden. Bitterkeit oder gar die späte Abrechnung mit einstigen Widersachern sucht man bei Eva Demski vergeblich. Darin unterscheidet sich ihr Buch wohltuend von denen zahlreicher (männlicher) Kollegen. Auch die vereinzelt eingeflochtenen Porträts prägender Weggefährten, von Walter Kempowski über Marcel Reich-Ranicki bis – auf die Mischung kommt es an – Rudolf Mooshammer, fallen durchweg liebevoll aus, ohne dabei zu verklären oder der Inszenierung des Porträtierten auf den Leim zu gehen.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Eva Demski als Filmemacherin und Journalistin dem Literaturbetrieb lange Zeit lediglich als Beobachterin verbunden war. Als mit „Goldkind“ 1979 ihr literarisches Debüt erschien, war sie bereits Mitte dreißig und hatte neben etlichen Freunden und Bekannten auch ihren Ehemann zu Grabe tragen müssen. Tod und Abschied waren somit früh ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, das Thema hat sie – verständlicherweise – nie wieder losgelassen. Womöglich hat es aber auch damit zu tun, dass sie in einem Theaterhaushalt aufgewachsen ist und ihre ersten beruflichen Schritte als Dramaturgin gemacht hat. Diese Erfahrungen dürfte ihr das Durchschauen von jeglicher Form der Inszenierung erleichtert haben.
Die aus ihrer Sicht prägenden Jahre zwischen zehn und zwanzig – sie nennt sie „die vulkanischen Jahre“ – verbrachte Eva Demski zunächst in Regenburg, dann vor allem in Frankfurt, wo der Vater als Bühnenbildner arbeitete. Der Umzug aus der Provinz nach Frankfurt war für die ganze Familie befreiend gewesen. Ihre Schulzeit empfand Eva Demski hingegen als „läppisch“, verglichen mit der Zeit, die sie mit den Schauspielerinnen am Theater verbrachte; obwohl noch ein Kind, wurde sie nicht als ein solches behandelt. Und „was war schon Latein gegen die Eifersuchtsdramen zwischen Regisseur und Hauptdarstellerin.“
Zu den lesenswertesten Passagen des Buches zählen die Beschreibung der 68er Bewegung und des Aufbegehrens der Jugend, das in einer seiner zahlreichen Verästelungen schließlich im Gewaltsumpf der RAF mündete. Zunächst in Frankfurt, anschließend als Studentin in Mainz, war Eva Demski dem Zentrum der Ereignisse nicht allzu fern. Ihre Haltung dazu lässt sich mit einem Modebegriff als Äquidistanz bezeichnen. Heute, ein halbes Jahrhundert später, schreibt sie, werde die damalige Zeit gleich von zwei Seiten verteufelt: Von denen, die noch zu jung waren, um mitzumachen; und von all jenen, die dafür bereits zu alt waren. Dabei hätten Letztere „wahrscheinlich gern mitgespielt, hatten aber zu viele Sünden auf dem Buckel“. Und „ihre Enkel nehmen heute den Faden auf und machen für sämtliche Wirrungen des Jetzt Achtundsechzig verantwortlich. An ihrer ganzen riesigen modernen Ängstlichkeit sollen die angeblich wilden Jahre schuld sein.“
Allzu wild verliefen diese Jahre für Eva Demski nicht; dafür aber ereignisreich. Und die „anarchistischen Jungs“ aus der Studienzeit, mit denen man der Idee von Bohème anhing und gelegentlich das Bett teilte, sind heute „alte Wissenschaftler oder emeritierte Professoren“. Überhaupt waren Eva Demski die theoretische Großtat und der Hang zum lebensabgewandten Philosophieren stets ein Graus. „Es kam mir immer so vor, als diene die Philosophie nur dem Einwickeln von Leben in Wörter“, schreibt sie (was sie freilich nicht davon abhielt, Germanistik und Philosophie zu studieren). Ein kurzes Intermezzo im Freiburger Elfenbeinturm wurde rasch wieder beendet, und auch den „neuen Götter, ob sie nun Krahl, Cohn-Bendit, Angela Davis, Malcolm X oder sonstwie hießen“, vermochte sie nichts abzugewinnen. Gering war die Lust, sich „Ereignisse durch Analysen vermiesen zu lassen“.
Stattdessen stieg sie beim Radio ein, ging später zum Fernsehen. Dem Literatur- und Kulturbetrieb blieb sie verbunden. Dieser, sprich, das „fröhliche kulturelle Trüffelsuchen, [die] Bilderfreude und Neugier“, sei nicht kompatibel mit den diversen dogmatischen Ismen, die einem freien Denken und Handeln entgegenstünden („Wenn auf der Straße in Algerien Hundescheiße liegt, Genosse, dann ist das sozialistische Hundescheiße und deswegen großartig“). Es folgten aufwendige Reportagen unter anderem über Joseph Roth und den irischen Autor Christy Brown, der seine Bücher aufgrund einer Behinderung mit dem linken Fuß schrieb und dem der Schauspieler Daniel Day-Lewis Jahre später ein filmisches Denkmal ein Denkmal setzte. Parallel dazu wuchs eine kleine grüne Mappe immer weiter an, bis aus ihr schließlich Ende der 1970er Jahre der lange ersehnte und mindestens ebenso gefürchtete Romanerstling entschlüpfte. Weitere folgten, doch dauerte es bis zum dritten Buch, dass Eva Demski sich im Hotel selbstbewusst als Schriftstellerin ins Gästebuch eintrug.
„Meine Mutter liest ihre Bücher so gern“. Der Satz aus dem Munde eines mittelalten Herrn am Rande einer Lesung im Jahr 2010 war nur ein kurzer Schock. Denn, so Eva Demski gegen Ende des Buches, „ich war alt geworden und kann nicht einmal sagen, dass ich es nicht bemerkt hätte“. Mit „Den Koffer trag ich selber“ hat sie nun einen großartigen, gänzlich unprätentiösen und unbedingt lesenswerten Rückblick auf ihr bisheriges Leben vorgelegt.
Wenn überhaupt eine Kritik angebracht ist, dann betrifft sie nicht die Autorin, sondern das Lektorat. Wann endlich hören Verlage damit auf, Erinnerungen im Klappentext mit dem Hinweis zu bewerben, dass sich in ihnen die „deutsche Geschichte der vergangenen Jahrzehnte widerspiegle“. Dabei zeigen doch gerade die ebenso differenzierten wie klugen Überlegungen von Eva Demski, dass sich Geschichte nicht „widerspiegelt“, sprich: künstlich dupliziert wird, sondern dass sie in einem Text wie dem vorliegenden in sehr subjektiver und persönlicher Art und Weise regelrecht neu geschaffen wird.
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