Schmerzgedächtnis
Ein Gedicht-Zyklus, wie ein zerstückelter Körper. Das ist es, was Georg Leß uns anbietet und wie bei einem Horror-Film will man manchmal nicht mehr hinschauen und muss doch.
Der schwarze Handschuh, der das Cover des schlichten, aber im Design sicheren Kookbooks-Bandes ziert, illustriert den Titel, der in seiner Rätselhaftigkeit eine Ahnung davon gibt, was da auf den knapp 90 Seiten auf die Leserin wartet: »Die Hohlhandmusikalität.«
Gegliedert ist der Text in drei größere Teile, die wiederum kleine Gedichtzyklen unter Überschriften wie »zu Füßen«, »Reste und Reliquien« und »Wegsehen und andere Sinne« versammeln.
Hochartifiziell und hermetisch sind diese Gedichte, die Sätze führen manchmal ins Nichts, der Sinn scheint zu verfallen und verfestigt sich wieder. »Ich finde die Bilder schlecht, die ich begreifen kann«, hat der Maler Gerhard Richter mal gesagt. Und Leß' Gedichte sind in ihrer Unbegreiflichkeit eben ziemlich großartig, so viel sei hier schon verraten.
Doch wie nähert man sich dem Unbegreiflichen, das ja nicht mit dem Beliebigen zu verwechseln ist?
Zahlreiche Gedichte sind mit nummerierten »Wirbeln« überschrieben, was einerseits an Sturm und Unordnung, andererseits ganz unmittelbar an die Knochen in unserem Oberkörper denken lässt. Doch hier sind sie zu keiner tragenden Säule verbunden, sondern liegen offen da, wie auseinandergerissen, und an ihnen hängt das schöne Fleisch der Sprache.
Ähnlich wie Ann Cottens jüngster Roman Lyophilia, der als Sciencefiction auf Hegel-Basis beschrieben wurde, hängt dieser Text vor allem mit sich selbst zusammen und lotet gerade in der dadurch erzeugten Komplexität den Möglichkeitsraum unserer semantischen Wirklichkeit aus. Immer wieder werden die Körpermotive variiert, wird das große semantische Feld des Körpers abgeschritten, finden sich Rückbezüge auf schon Beschriebenes. Oft haben wir es mit allen möglichen Gliedmaßen, Kadavern oder eben mit Dingen wie einem Handschuh zu tun, der bei Leß zu einer seltsamen außerirdisch-ägyptischen Reliquie zu werden scheint; dunkel und musikalisch, mit einem Hohlraum, etwas, das man erkunden kann und das »zu Händen« lebt. So geht es den meisten Dingen in Leß' Gedichten, sie »verformen« sich und können in kreativer Adaption von uns neu codiert werden.
Bei all dem ergeben sich zahlreiche Konstellationen des Unheimlichen. Manche Gedichte klingen wie Hexensprüche, in anderen tauchen »fleischfressende Lampen« oder »eingewachsene Wimpern« auf. Immer wieder kommunizieren einzelne Komposita aus verschiedenen Gedichten miteinander, werden auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, tauchen unter und wieder auf.
Eine Beispiel für die Art, wie Leß' den Bedeutungsgehalt der Wörter auflöst und neu verknüpft, lässt sich im Gedicht »gute Taten der Literarischen Gesellschaft Arnsberg« nachvollziehen. Da ist »die Sicht begrenzt wie ein Schmerzgedächtnis« und die Reihe der »Rehe, Gänse, Sensen«, die da auf der »Flur« stehen, lässt phonetisch-assoziativ verschwimmen, was die Ratio sauber als »Wildtier« und »Werkzeug« scheidet und verleiht der Sense wiederum eine Art tierische Lebendigkeit. Die volle Strophe hört sich so an:
Miniaturschloss am Ruinenfuß, fragst nach Abkürzung auf die Flur,
die Sicht
begrenzt wie ein Schmerzgedächtnis, entfernte Rehe, Gänse, Sensen
vergehst an dieser Unentschiedenheit? nein, sie passt, wärmt, wenn sie
über Winter bleibt
gleicher Tag, nachts, mit der LGA in der Blutigen Axt
In »Sechster Wirbel / die Gehängten« heißt es:
weite die Pupille, nichts fällt ein, knack auf, taste in der Frucht
nach Kernschatten, das Wort
hab ich schon wieder falsch benutzt
Die Wörter »falsch« benutzen, das ist es, was Leß virtuos betreibt. Dabei erkundet er ihre semantische Mutationsfähigkeit. Das geschieht auch über nicht enden wollende Satzgebilde, eine ins leere laufende Syntax, die kein klares Subjekt mehr kennt.
Dass uns das auf Dauer nicht ermüdet, dafür sorgen immer wieder Verse, die uns auch unmittelbar emotional adressieren, wie in »erster Wirbel / Fossilienfund, Hagen« (Man möchte dieses Gedicht perfekt nennen.)
schneckenhausförmig, ein Stein entspannt sich
von einerseits schwer zerbrechlichem
hinter andererseits längst zerbrochenem GlasEin Ohrenzeuge sagt aus: denn du kannst
durchgängig reden, ohne dich zu verwandelnoder, so wie der Berg, mit jeder Silbe
ein anderer werden
Wer entdeckt in diesen Zeilen nicht eine Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt Gedichte lesen? Und wer hört da nicht den Rilke-Vers »Du musst dein Leben ändern« nachhallen. Auch andere Referenzen lassen sich entdecken, vor allem Benn und Nietzsche.
Die Lektüre von Leß' Gedichten erinnert an einen LSD-Trip. Wer den Worten genau folgt wird in einem traumartigen Zustand erst einmal ganz schön auseinandergenommen und dann irgendwie neu wieder zusammengesetzt. Am Ende weiß man auch nicht genau, was da passiert ist, aber eine irre, auch irgendwie gefährliche Erfahrung ist die Lektüre allemal.
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