Wer zuletzt lacht
Es ist ein Kreuz mit den pentelischen Marmorböden. Schön anzuschauen, aber bei Regen spiegelglatt, haben sie schon manchen eiligen Athener zu Fall gebracht. Bevor Aris, Hauptfigur in Gerasimos Bekas‘ Debütroman, diese Erfahrung am eigenen Leib machen und sich dramatisch langlegen darf, hat er allerdings einen nicht weniger schmerzhaften Weg zurückzulegen, der in seiner Kindheit seinen Anfang nimmt. Aris Kommenos-Stein wurde als griechisches Baby von einem deutschen Ehepaar adoptiert, Helmut und Gitte nahmen ihn mit nach Würzburg. Und da ist der mehr oder weniger erwachsene Aris nun: Altenpfleger in der gerontopsychiatrischen Abteilung eines Spitals, wo er neben der bodenständigen Claudia auch seinen „erotischen Endgegner“ Sibel zur Kollegin hat. „Der junge Deutschgrieche, Grecodeutsche, Interimsfranke, Mensch mit Migration“ sitzt statt zu arbeiten lieber in der Kneipe, wo er schon mal fünf Guinness auf einmal bestellt, wenn es ein Sonderangebot gibt. Nichts scheint Aris so fernzuliegen wie Ehrgeiz. Er wirkt wie aus der Zeitachse seiner eigenen Biografie hinausgestolpert. Richtungen gibt es nicht, nur Gegenwart. Zumindest bis er Aphrodite Xenaki („diese X-Frau“, sagt Claudia; „Lady X“, sagt Sibel) begegnet: Die greise, schwer kranke Einwohnerin des Pflegeheims sendet den widerstrebenden Aris auf eine Heldenreise in ihre griechische Heimat. Dort soll er der Enkelin das Erbe überreichen, einen Koffer, der neben Geld noch einige familienhistorische Überraschungen parat hat. Wie bitte? Aris stellt lieber nicht zu viele Fragen, nicht zuletzt, weil er kurz zuvor im Suff einen Polizisten verprügelt hat und sich in Würzburg kaum mehr auf die Straße traut.
Egal ob im Pausenraum des Silvaner-Spitals, im fußbodenbeheizten Haus der Adoptiveltern oder im heruntergekommenen Athen: Stets liegen Komik und Tragik so dicht beieinander, dass man das eine vom anderen kaum unterscheiden kann. Darin liegt der wohl größte stilistische Kniff dieses Romandebüts. „Für mich gehört das Lachen in einem verheulten Gesicht zu den schönsten menschlichen Ausdrücken“, sagt Gerasimos Bekas in einem Interview auf dem Verlagsblog Tausend Augen. Es ist eine große, seltene Art von Schönheit; wenn man „Alle Guten waren tot“ liest, bekommt man sie in wunderbar absurden Momenten zu Gesicht. Mitlachen kann man auch, und ja, vielleicht heimlich etwas mitweinen, ist ja nichts dabei. Zugewandt und in jeder Hinsicht beherzt erzählt Bekas nicht nur Aris‘ persönliche Leidensgeschichte. Er verbindet sie auch mit einem historischen Handlungsstrang, von dem man lange nur ahnt, dass er etwas mit Aris‘ Biografie zu tun hat. Im Sommer 1943, Griechenland ist von Italien, Bulgarien und auch Deutschland besetzt, macht sich der junge Stylianos auf den Weg ins Kloster. Anders als sein Vater – der Aris Kommenos heißt, genau wie Jahrzehnte später unser Altenpfleger-Antiheld – ist er kein Widerstandskämpfer, er sucht einfach Schutz. Die Nachbardörfer brennen bereits. „Ich kann kein Blut sehen“, sagt Stylianos. „Dann bist du in der falschen Zeit geboren“, entgegnet Aphrodite, eine junge Soldatin, die er auf dem Weg in sein Refugium trifft.
Die jüngere Geschichte blendet Bekas natürlich auch nicht aus; womöglich kann man gar kein Buch über die griechisch-deutsche Gegenwart schreiben, das nicht im Kern politisch ist. So trifft Aris vor dem griechischen Parlament eine junge Aktivistin, die den Hungerstreik syrischer Camper*innen begleitet. „Ja, ja, ich kenne das“, sagt Aris. „Bei uns hat das angefangen. […] In Würzburg. Da haben sie sich die Münder zugenäht. Und dann sind sie nach Berlin marschiert.“ Die Aktivistin entgegnet bloß: „Okay.“ Damit endet das Gespräch, Aris‘ Blick fängt als nächstes die Touristen ein, die sich mit Tauben fotografieren lassen, und die Leser*innen werden mit den Nachbildern solcher Momentaufnahmen aus Athen allein gelassen – gute Strategie. Bekas‘ Sinn für Kontrapunkte und Kontraste ist überhaupt beeindruckend: keine Tristesse ohne humoristischen Rettungsschirm, das Hässliche ist immer auch ein wenig schön, und aufrichtige, tiefe Menschlichkeit da zu finden, wo man sie am wenigsten vermutet.
Dass der in Berlin und Athen lebende Gerasimos Bekas ein erfahrener Theatermacher ist, merkt man nicht zuletzt an den Dialogen. Die geben noch den unwichtigsten Nebenfiguren eine ganz eigene, unverwechselbare Stimme. Wenn Aris etwa mit einer Abiturientin durch die Nacht mäandert, wenn er sich von seinem griechischen Fahrer übers Ohr hauen lässt oder mit Frau Xenakis liebenswürdig verlaustem Urenkel mit der Tram ans Meer ruckelt, dann lauscht man ihren Gesprächen, als wären sie Menschen aus Fleisch und Blut. Mit Fehlern, Macken, verborgenen und offenkundigen Talenten, Witz und Liebe. Mit einer unerzählten Geschichte, die geduldig auf Publikum wartet. Am Ende wünscht man ihnen allen, dass sie auch mal im Mittelpunkt eines Romans stehen dürfen, oder eines Bühnenstücks. So konstruiert die Handlung auch sein mag, die Fäden laufen beständig zusammen – auf eine Weise, die zwar wenig überrascht, aber umso glücklicher macht. „Alle Guten waren tot“ haucht einer schon im Mittelalter bewährten Form (Held, männlich, besteht in der Ferne maßgeschneiderte Bewährungsproben) mit erfrischendem fränkischem Bier- und griechischem Weinatem neues Leben ein. Aris‘ alles andere als marmorglatte Âventiure vergisst man so schnell nicht, und wenn man das Buch schon längst zugeklappt hat, hört man vielleicht irgendwo in der Ferne noch Sibels dreckiges Lachen.
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