Anders als die Wirklichkeit, anders als die Bilder
Es ist nicht leicht, die Gedichtsammlung „Atem anhalten” von Gerlind Reinshagen mit herkömmlichen Kategorien der Lyrik zu beschreiben. Sie funktioniert auf mehreren Ebenen: Vieles wirkt naturalistisch und erzeugt plastische Eindrücke von bestimmten Zeiten oder Milieus; gleichzeitig bedienen sich die Gedichte ausgefeilter sprachlicher Mittel, die für sich stehen können. Obgleich der Inhalt meistens im Vordergrund zu stehen scheint – besonders, wenn es um solche Themen wie die Nachkriegsjahre oder das Leben von Arbeitern geht – sind die Gedichte modern und heben sich vom Realismus, dem man sie vielleicht im ersten Moment zuordnen möchte, deutlich ab, sowohl was ihre Absicht als auch ihre Machart angeht.
Stilistisch gibt es große Ähnlichkeiten bei den meisten Gedichten des Bandes: Einzelne Personen oder alltägliche Situationen dienen dem Gedicht als Stoff und werden in einer Sprache, die der Prosa nahe ist, mit wirkungsvollen Bildern wiedergegeben. Dieser mikroskopische Ansatz gelingt am besten, wenn er mit der Intention des Gedichts übereinstimmt, so wie in „Julias Kleid”, wo mithilfe der Geschichte eines Kleidungsstückes über die Jahrzehnte seine Besitzerin aus verschiedenen Blickpunkten erscheint. Dabei wird weniger ein detailliertes psychologisches oder soziologisches Porträt gezeichnet, als dass aus dem Gegenstand gleichsam Spuren eines Individuums wie der Gesellschaft heraus gelesen werden. Diese Fokussierung auf etwas Kleines, Unscheinbares, aber eigentlich Bedeutsames macht die Stärke von vielen Gedichten von Reinshagen aus.
Dies verbindet sich mit äußerst genauen Beobachtungen der Wirklichkeit, auf die sich der Eindruck des Naturalismus gründet. So zum Beispiel der Einsatz von Jugendsprache in „An der Stanze”, der sich auch auf Satzbau und Sprachrhythmus niederschlägt: „Wenn sien da / Ganz lässig so / Am Schaschlikstand / Und sie so ungefähr / Drei Meter überm Boden / Schwebend”. Wenngleich in den anderen Gedichten nicht so weit vom Standarddeutsch abgewichen wird, ist doch häufig eine sozial verortbare Stimme in den Gedichten zu erkennen. Somit ist es nicht nur die Stoffwahl, die den Gedichten etwas beinahe Bodenständiges oder zumindest Wirklichkeitsnahes gibt.
Dass die Stärke von Reinshagen nicht allein im Verbildlichen von sozialen Sachverhalten liegt, zeigt auch „Das sterbende Tier”. In auffälliger Kürze werden Gefühlswelten auf Seiten des Tieres wie auch der Beobachterin suggeriert, die durch die lakonische, beschreibende Sprache eine Tiefe zu gewinnen scheinen, die sich mit Worten nicht ausloten lässt. Dies ist eines der besten Beispiele für die Fähigkeit von Reinshagen, mit klaren, knappen Bildern viel anzudeuten, ohne in eine allzu offene Mehrdeutigkeit zu gelangen.
Die deutliche Sprache, derer sich die Gedichte bedienen, gerät allerdings gelegentlich in die Gefahr, zu simpel zu werden, wie in „Kaufhaus – in der Blumenabteilung”, wo die Gegenüberstellung zwischen toten und künstlichen Blumen recht flach wirkt, oder bei „In Italien”, wo eine Aufzählung ungewöhnlicher deutscher Wörter mehr auf den bloßen Klang der Wörter als auf strukturelle, dem Gedicht wesentliche Gründe zurückzugehen scheint. Solcherlei Stellen bleiben aber die Ausnahme; die meisten Gedichte sind stilsicher geschrieben und dementsprechend schön zu lesen.
Einzelne Gedichte, die mehr auf die Form als auf den Inhalt setzen, stehen in einer interessanten Beziehung zum restlichen Band. Besonders gelungen wirkt zum Beispiel „Rosinski III. Rosinski hängt sich auf”, ein innerer Monolog, der einen Strick adressiert. Diese innere Perspektive, für Lyrik typisch, taucht nur selten in den Gedichten von Reinshagen auf, in denen die Figuren fast ausschließlich über das charakterisiert werden, was von außen zu beobachten ist. Hier dient sie zudem als Finale für die „Rosinski”-Gedichte, die um dieselbe Figur kreisen und dadurch eine Verbindung zwischen den Gedichten schaffen, die konkreter ist als die ungefähre räumliche und zeitliche Übereinstimmung, die meistens den augenscheinlichen Zusammenhang eines Abschnitts des Buches stiftet.
Besonders in den späteren Gedichten des Bandes ist der Umgang mit Syntax und Form freier und auch der inhaltliche Spielraum erweitert sich. Dabei kommen konzeptuelle Entscheidungen wie das Thematisieren vom Dichten selber oder von (vor allem kulturellen) Persönlichkeiten im Abschnitt „Vorbilder – Nachbilder” eher ungelenk daher. Die Sprache von Reinshagen, die sich auf feinfühlige Bilder gründet, eignet sich weniger für kunstphilosophische Thesen als für Gedanken über Worte und Sprache, die sich in keine andere Form übersetzen ließen, wie in „Wacholder”: „Schon hör ich euch / Sprengen / Den Stein / Das Gewölbe / Unrastige Enkel / Den zwölffach verschlossenen Schrein / Die Schrift”. In diesem Gedicht werden starke Bilder mit gewichtigen und zugleich mehrdeutigen Referenzen verbunden auf eine Weise, die im Vergleich mit dem Rest des Bandes geradezu exzessiv wirkt und genau dadurch einen wirkmächtigen Eindruck hinterlässt.
In den ersten Versen von „Kassiererin im Supermarkt” scheint Reinshagen zunächst ihr poetologisches Anliegen kondensiert zum Ausdruck zu bringen: „Nur mit Worten / Von größter Gewalt / Wär das zu fassen”. Diese Gegenüberstellung von dichterischer Anstrengung und alltäglichem Stoff scheint das Ideal zu bezeichnen, das die meisten Gedichte von Reinshagen verfolgen. Jedoch sagen diese Verse zugleich aus, dass es nicht um eine Wiedergabe oder eine Interpretation des Stoffes geht – ihn „fassen” zu wollen hieße, ihm Gewalt anzutun. Somit scheitert der Versuch, die Dichtung von Reinshagen auf diese Formel zu bringen.
Tatsächlich lässt sich keine einfache Zusammenfassung von „Atem anhalten” liefern. Nicht nur, weil es sich um eine Sammlung verschiedenster Gedichte der Autorin handelt – wobei verwunderlich ist, dass keinerlei Informationen über Entstehungsjahre der Gedichte gegeben werden – sondern auch, weil bereits ein einzelnes Gedicht mehr als nur ein Anliegen zu haben scheint. Wenngleich also eine gewisse Gleichförmigkeit der Texte, gerade innerhalb eines Abschnitts, nicht von der Hand zu weisen ist, sind sie dennoch eines genaueren Blicks wert, um mehr als nur den oberflächlichen Eindruck zu gewinnen.
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