Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Leere Felder, leere Herzen und das Paradies

Ein Hinweis auf den waadtländischen Dichter Gustave Roud
Hamburg

Aus welch abgründigen Tiefen emporgestiegen!, unter die blinden Menschen geschleudert, habe ich ohne Stolz gelitten unter meinem Anderssein, trunken von einer Einsamkeit, die mir die Welt zurückgab. In ihren hohen rosa Häusern mitten im frischen Gras, stehend oder reglos im Schein der Lampen sitzend, braun gebrannte Schnitter mit von Stoppeln zerstochenen Füssen in der verglühenden Sonne, unermüdliche Gärtner eines riesigen Gräser- und Blumengartens unter dem Himmel, diese Männer, diese Gefangenen des Schattens, des Lichts, ihres Lebens ― mein Gesang entriss sie dem Abgrund der Zeit, gab ihnen ihre ursprüngliche Unschuld zurück. („Adieu“)

Ein heimliches Programm scheint in diesen Zeilen aus dem Eingangstext der vorliegenden Sammlung zu sprechen, die nach „Das verstreute Paradies“ (Benziger Verlag, Zürich 1990) die leider erst zweite deutschsprachige Buchausgabe aus dem einigermaßen überschaubaren Werk von Gustave Roud ist, der einen Großteil des Lebens auf dem elterlichen Bauernhof in Carrouge im Schweizer Kanton Waadt verbracht hatte, bei der Ernte helfend, aus finanzieller Notwendigkeit übersetzend, aus innerer Not schreibend. Die hier vereinten vier Prosadichtungen unterschiedlicher Länge umspannen sein gesamtes Schaffen und stammen aus den Jahren 1927 („Adieu“), 1941 („Einem Schnitter“), 1945 („Lied der Einsamkeit“) und 1967 („Requiem“).

Es weht aus diesen Dichtungen eine Zeit und Gegend herein, die heute vielleicht noch verlorener wirken, als sie es damals wohl schon waren. Deshalb ergeht es dem Leser ein wenig wie dem Autor, der in einer „Bericht“ übertitelten Prosa beschrieb, wie ihn ungewollte Abschweifungen beim Wandern in einen seltsamen Zustand der Klarsichtigkeit versetzten: „das alles führte mich nach und nach ins Fremde, bestehend aus Bekanntem, das man nicht wiedererkennt“. Die Landschaft und das bäuerliche Leben, das Roud täglich auf seinen Wanderungen beobachtete und auch mit dem Fotoapparat festhielt, sind die unverzichtbare Folie, vor der sich die inneren Dramen abspielen.

Gustave Roud erinnert, so seltsam das zunächst anmutet, entfernt an Walt Whitman. Der amerikanische Dichter hat die Menschen in der großen Stadt Manhattan besungen, die Arbeiter bei ihren verschiedenen Gewerben, die Seeleute, Zimmermänner, Kutscher, Steinmetze, Brauer, Segeltuchmacher usw., er hat immer wieder ihre schlichte Würde bewundert und ihren schönen muskulösen Leib gepriesen; Roud dagegen wandte sich den einfachen Menschen auf dem Lande zu, er rief den Pflüger, den Säer, den Schnitter, den Holzfäller, den Dragoner an, und er sehnte sich nach ihren Körpern, nach ihrer Schulter, an die er sich lehnen, nach ihrer Anwesenheit, die ihn aus der Einsamkeit erretten kann:

Wo bist du? Wie oft rief ich mit diesen Worten nach einem Menschen, aus der Tiefe des zeitlosen Abgrunds hervor, in den mein Haus wie ein verlorenes Schiff langsam geglitten ist! („Ruf im Winter“, aus: „Einem Schnitter“)

Es ist das tief verwurzelte Bewußtsein der eigenen Andersartigkeit ― die sich gewiß nicht auf die offenkundige, allerdings nie explizit erwähnte, Homosexualität beschränkt ―, die ihn zu einem Außenseiter nicht nur der Gesellschaft, sondern, so fühlt er es zumindest, auch des Lebens macht. Das erklärt seine Ruhelosigkeit, das Umhergetriebensein, die vielen Wanderungen, tags wie nachts, und natürlich die schlimmste Abwesenheit, nämlich: „des aus sich selbst vertriebenen Menschen“. Alle Dichtung Rouds ist Suche nach einer Gegenwart, in der man endlich ankommen kann, wohl wissend, daß man sie nie finden wird oder wenn, dann nur für die winzigsten Paradiese.

Die Arbeit der Menschen ist in die Landschaft eingebettet, die Landschaft wird von den Jahreszeiten umfangen, die Jahreszeiten wiederum bestimmen die schwere Arbeit der Frauen und Männer in den Dörfern. Dennoch vergleicht Roud die Landschaft mit einem „riesigen Orchester“, weil sie die Macht hat, wie die Musik auf das ganze Wesen des Menschen einzuwirken. Unverbraucht, still und zärtlich beschreibt Roud seine Umgebung, nicht ganz ohne Pathos, gefühlvoll, zuweilen auch sentimental, aber immer von großer Kraft durchstrahlt. Von den einfachen Verrichtungen zu lesen, stimmt einen heiter und melancholisch zugleich, denn man liest davon ja aus der Perspektive des Außenseiters, der nur in kurzen Augenblicken das Gemeinschaftliche fühlt:

Ich bin von Wesentlichem umgeben; alles scheint bereit zu sein, damit das Herz gesättigt, unser Hunger nach Poesie endlich gestillt werde ...

Unvermittelt kehrt die Erinnerung zurück und schnürt mir die Kehle zu, und alles bricht in der Angst zusammen. („Brief“, aus: „Lied der Einsamkeit“)

In der „Sandwüste der Wirklichkeit“ ist der Autor (den man wohl in diesem Fall mit einigem Recht mit dem literarischen Ich gleichsetzen darf) dauernd von allerhand Schattengestalten umgeben, Verstorbenen, die schwer am Leben trugen, und deshalb auf der Suche nach Lebendigen, die ihm „eine verlorene Welt zurückgeben“ sollen. Er selbst: nichts weiter als „ein lächerlicher Schattenerwecker“, „ein Schatten im Reich meiner Toten“. Dabei handelt es oft um reales, namentlich genanntes ― und im fotografischen Anhang zu sehendes ― Personal, dem Roud seinen Dank abstattet, doch meist spricht er einen gewissen „Aimé“ an, einen Charakter, der wohl rein fiktiv und überhöht ist (wörtlich: ‚der Geliebte’). Round beobachtet das alles genau, einfühlsam und mit eisklarer Härte. Die Bank, auf der er sitzt, könnte auch ein Sinnbild für das Schreiben sein:

Etwas Ruhe sei mir noch vergönnt auf dieser schmalen, rohen Holzbank, dieser nichtigen Brücke zwischen zwei Welten, diesem Gestade, gegen das abwechselnd die Zeit und die Ewigkeit branden. („Schattengestalten in Port-des-Prés“, aus: „Lied der Einsamkeit“)

Wenn das namenlose Anderswo hereinweht, wenn die Natur, abweisend und heimatlich zugleich, voll Fragen und der Angst ist, man „könnte ohne Antwort bleiben“, darf man trotzdem teilhaben, wenn auch bloß für kurze Zeit. Konkretes und Überhöhtes, Erfahrenes und Erträumtes verschmelzen in diesen Dichtungen, was sich in der formalen Gestaltung niederschlägt. Gustave Roud befindet sich in der langen französischen Tradition des Prosagedichts, des poème en prose, das in Deutschland leider nie recht Fuß fassen konnte, auch wenn Saint-John Perse oder René Char die eine oder andere Spur hinterlassen haben. Der ausschweifende Gesang, der bei Roud mal deskriptiv, mal narrativ, mal introspektiv ist, verliert innerhalb dieser Tradition jegliches Pathos.

Ach, diese vielgestaltige Gegenwart um mich herum, die sich erhebt und im Fieber und im Frieden der All-Gegenwart neu zusammensetzt, wie um diesen Ort von seiner Wunde endlosen Wartens zu heilen! („Requiem“)

Das Paradies und die Verzweiflung liegen in der Geographie des Gustave Roud ganz dicht nebeneinander, ihre Grenzen überschneiden sich vielfach, so daß aus jedem Moment die Ewigkeit hervorbrechen kann, damit Tod und Leben eine geschwisterliche Einheit bilden. Am Ende des Buches finden sie dann einmal doch in voller Intensität zusammen, in den Blumen im eigenen Garten, beim Haus, „dessen Unterhalt meine Kräfte nun übersteigt“. Das ist traurig, ernüchternd, schlicht, nackt und erschütternd wahr. Roud ist nicht der erste, der Landschaft und existentielle Krisen verquickt, aber kaum jemand sonst hat es mit so präziser Zärtlichkeit aufgezeichnet.

Gustave Roud
Lied der Einsamkeit und andere Prosadichtungen
Übersetzt von Gabriela Zehnder / Mit einem Vorwort von Philippe Jaccottet
Limmat Verlag
2017 · 192 Seiten · 29,80 Euro
ISBN:
978-3-85791-841-4

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge