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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Vom heilignüchternen Schreibtisch

Hamburg

Es gibt Gedichte und GEDICHTE. Letztere sind Knoten in dem lyrischen Netz, das mir die Zeit und meine Umwelt erklärt, indem sie Tacheles reden. Sie sind lebenswichtig, sie sind, Günter Eich folgend, trigonometrische Punkte in der Landschaft des Geistes. Ich benenne einige in chronologischer Reihenfolge für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, damit sie für sich selbst und für meine trigonometrische Messlatte einstehen können:

I

„Dezember 1942“ von Peter Huchel, aus „Chauseen, Chauseen“:1 

[…]
Vor Stalingrad verweht die Chausee.
Sie führt in die Totenkammer aus Schnee. […]

Das Gedicht erfasst die apokalyptischen Schrecknisse des von Deutschen zu verantwortenden Weltkrieg II anhand einer Beschreibung des Weihnachstages und seines überlieferten Geschehens im Kriegsjahr 1942.

II

„Die letzte Epiphanie“ aus „Dies irae“ von Werner Bergengruen, 1892-1964, verfasst 1944.2 Jesus spricht zu den Deutschen, die Ihn, der als „bleicher Hebräer“ zu ihnen kam, mit „Schergen“ und „Spähern“ empfingen. Es ist 1944 die Abrechnung mit dem von Deutschen praktizierten eliminatorischen Antisemitismus aus christlicher Sicht. Das Gedicht wurde in hebräischer Übersetzung am Ende des Eichmann- Prozesses vorgetragen.

[…]
Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuhn.
[…]
und nur meine Asche gabt ihr frei.
[…]
ihr zucktet die Achseln und gabt mir den Tod.

III

„Todesfuge“ von Paul Celan, Erstdruck in Deutschland am 10.06.1952.3

[…]
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau […]

Das Gedicht dient heute als ein Emblem der Shoah.

IV

1952, „Früher Mittag von Ingeborg Bachmann.4

[…]
Sieben Jahre später, / in einem Totenhaus, / trinken die Henker von gestern / den goldenen Becher aus. / Die Augen täten dir sinken.

V

1960, „landessprache“ von Hans Magnus Enzensberger.5

[…]
Was habe ich hier? und was habe ich zu suchen, […] in dieser Mördergrube […]

Ich fasse zusammen, wir leben in einem räumlichen und historischen Kontinuum, das Deutschland genannt und für meine Lebenszeit mit den Emblemen „Totenkammer, Asche, Tod, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, Totenhaus, Mördergrube“ lyrisch bestimmt wurde, mindestens bis zur Revolte 1968. Heinrich Detering sitzt an Friederich Hölderlins heilignüchternem Schreibtisch ("alte Fotos", S. 83) und sollte sich bei diesem nicht zu überbietbarem Anspruch gefallen lassen, dass an seine Texte die hohe Messlatte angelegt wird. Zwei Gedichte („Hanning“ und „Ernster Bibelforscher“) in dem knapp 100 Seiten umfassenden, ansprechend gestalteten Bändchen knüpfen thematisch an die genannte Reihe an, erreichen aber nicht die über das Individuelle hinausreichende Kraft der genannten fünf Gedichte:

Ernster Bibelforscher
der Großonkel war Ernster Bibelforscher
man fand ihn sonderbar zu Weihnachtsfeiern
Geburtstagen Erntefesten lud man ihn
nicht ein aber da war doch dieser Respekt
und die Ungewissheit was das wohl sei ein
 Ernster Bibelforscher

so dauerte es ein paar Wochen ehe
man verstanden hatte er war deportiert
nach Buchenwald wie die Spartakisten die
auch nicht mehr zurückkamen die Familie
sprach nie mehr davon bis ich achtzehn war die
 Schande diese Schande

Bibelforscher war der Nazi-Begriff  für einen Zeugen Jehovas, die in den Konzentrationslagern ein blaues gleichschenkliges Dreieck als Kennzeichnung tragen mussten. Heinrich Detering, 1959 geboren, benennt klar ein Bild, das der tiefe Blick in den Brunnen vor dem Tore Ingeborg Bachmanns in der bleiernen Zeit vor dem Aufbruch 1968 erfasst.

Mit „Hanning“ reagiert Heinrich Detering auf einen der letzten Prozesse gegen einen NS-Kriegsverbrecher, in dem der Wachmann in Auschwitz Reinhold Hanning wegen der Beihilfe zum Mord an 170.000 Tausend Menschen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.  Hanning arbeitete offenbar unbehelligt in einem Milchladen, aus dem Familie Detering ihre Milch besorgte. So anrührend die aufgerufene Erinnerung an den banalen bösen Menschen Hanning sein mag, so seltsam ist Heinrich Deterings Versuch, sich an eines der genannten KnotenGEDICHTE, ausgerechnet an Paul Celans „Todesfuge“, anzuhängen. Man möchte ihm zurufen: Hände weg von diesem Emblem, sitzt er doch schon an Hölderlins Schreibtisch. Ein wenig mehr Takt und Respekt vor einem ganz Großen wäre zu wünschen. Ich empfinde die plakativen Übernahmen aus Celans Text, die ja deutlich mehr sind als Anspielungen, als befremdlich und in der Konkretion des Oxymoron "schwarze Milch" eine Verflachung des emblematischen GEDICHTES und seiner Aura:

weiße Milch weiße Milch vor weißen Kacheln […]
der Frühe der Frühe […]
[…] der Mann der weiße Mann
[…] wir tranken und tranken […]
[…] der Meister […]

Die drei, wohl auch titelgebenden, Gedichte zu dem Freiherrn Eugen von Ransonnet-Villez  „der Untertaucher“ erinnern stark an „Mausoleum“ von Hans Magnus Enzensberger6,  zumindest was den Einfall angeht, einen frühen „Naturwissenschaftler“ in der Verfremdung infolge des Zeitabstandes zum heutigen Tag zum Thema von Lyrik zu wählen. Hans Magnus Enzensberger schreibt zu Tobias Schmidt, Mechaniker aus Deutschland, 1762-1796:

Meine Hydraulik-Maschine erlaubt es, bis zu beliebigen Tiefen zu tauchen,
unter Wasser zu sägen, zu nageln, zu bohren, verlorene Gegenstände
vom Grunde zu bergen, einen halben Tag lang in der Tiefe zu weilen
und dabei Unterredungen mit dem festen Lande zu pflegen.

Das in gut klingenden Jamben mit paarigen Reinem (a,a, b, b, // c, c, d, d, // e, e, a, a//), alter Konvention folgend, verfasste „nach Frankenhausen“ formuliert, gedämpft von der zuchtvollen, sanglichen Form, ein Menetekel für die Zukunft:

nach Frankenhausen
seht der Traum hat nicht gelogen
blau erglänzt der Himmelsbogen
marsyas wird neu gehäutet
wenn die Morgenglocke läutet

über Bergen über Tälern
stahlt der Himmel blau und stählern
seht die Zukunft wird erbeutet
wenn die Mittagsglocke läutet

seht es wird sich alles wenden
wenn sie sengen brennen schwenden
leuchtet blau der Himmelsbogen
hat der Traum euch nicht belogen

In der ersten Strophe ruft Detering professoral die mythologische Gestalt der Antike Marsyas auf, ein Satyr, der sich die Doppelflöte der Pallas Athene gegen ihr Verbot aneignete, die sie wütend auf den Boden schleuderte, da sie von Juno und Venus ausgelacht wurde, als sie die Flöte mit aufgeblasenen Wangen spielte.7 Marsyas bringt es auf dem Instrument zur Meisterschaft und fordert den Leier-Spieler Apollo zum Wettstreit auf. Die Musen bilden die Jury, Marsyas unterliegt und erleidet einen grausamen Tod:

(Er wurde) von dem Apollo an einen Baum angebunden. Hier zerschnitt ihn ein scythischer Knecht gliederweise, worauf dann der der zerfleischte Körper seinem Schüler, Olympus, zu begraben gegeben wurde, aus dem vergossenen Blute aber entstund der Fluß Marsyas. […] (Nach anderen) soll (Apollo) ihn an einem Ast einer Fichte aufgehängt, und also die Haut lebendig abgezogen haben.8

Die Metapher steht für die Unterdrückung, ja Vernichtung des Künstlers, eine Gefahr, die heute wieder droht, je größerer Einfluss der Neo-Rechten eingeräumt wird. Benjamin Hederich verstand die grausame Geschichte als eine Gottesstrafe für künstlerische Arroganz:

Wenn aber gleich alles erdichtet wäre, so soll es doch zur Lehre und Warnung dienen, sich auf seine Kunst nicht allzu viel einzubilden, weil sonst Gottes Strafe gern darauf erfolge.9

Auch die dritten Verse der beiden folgenden Strophen kündigen Unheil an: „seht die Zukunft wird erbeutet“ und „wenn sie sengen brennen schwenden“.

Was ist denn Agens der drohenden allgemeinen Zerstörung? Wer macht denn Beute? Darauf gibt Heinrich Detering keine Antwort, weshalb die Klage ungerichtet ohne Biss bleibt und nicht wirklich beunruhigt. Wir alle sind an der Zerstörung unserer Umwelt beteiligt, wir selbst betreiben sie, aber wir sind auch als Unfreie in den sich kapitalistisch organisierenden Produktionsprozess eingebunden, ohne kollektiv aussteigen zu wollen. Wer wollte schon auf den so teuer erworbenen Reichtum und Überfluss an Gütern verzichten? Keine Andeutung solcher Zusammenhänge in den Texten Heinrich Deterings, sie bleiben meist unverbindlich, legen sich nicht fest und verfehlen so die oben angedeutete Knotenfunktion. Die von Heinrich Detering nicht erwähnte Abendglocke läutet doch schon: Eine Million Arten sterben aus, die Insekten, nicht nur die Bienen, werden infolge rücksichtsloser Produktionsmethoden ausgerottet, dem Planeten wird im Anthropozän die Haut abgezogen, ohne dass Apollo jemand in den Arm fiele.

Grundsätzlich ist die Frage zu stellen, ob sich die gekonnte Anwendung des Reims in der Schilderung einer drohenden Apokalypse, jedenfalls einer negativen Entelechie, vertreten lässt. Dass Lyrik in der tradierten Form nach Auschwitz nicht mehr möglich sei, ist eine allseits bekannte und diskutierte These Th. W. Adornos. Vielleicht sollte sie eingeschränkt werden in die Aussage, nach dem Holocaust ist für eine lange Zeit die Reimung ästhetisch nicht begründbar, da sie die blutigen historischen Schatten unserer spezifischen Geschichte und die für die Zukunft befürchteten globalen Verschattungen mittels sanftem Wohlklang in eine Harmonie  vorgaukelnde Folie einhüllt. Es ist ästhetisch bei aller handwerklichen Fertigkeit unstimming, wenn Heinrich Detering, die drohende "Versengung" der Welt mit Eichendorffschem Wohlklang überzuckert.

Heinrich Detering liebt offenbar die animalische Welt. Er beginnt mit Bienen, fährt fort mit Löwe, Lamm, Maus, Wasseramsel, Biber, Schmetterling, Katze, Mönchsgrasmücke, Wolf, Ratte, Schabe, Wasserläufer, Aaskrähe, Ziege, Fisch, Taube, Esel, Widder, Seelinien, Schwein, Hund, Wellensittich, Marder, Schildkröte, Pferd, Koralle, Hering, Rochen und endet bei der Fliege. Natur ist dem Poeten auch in Form der Flora nahe: Zyperngras, Araukarie, Feigenbaum, Gräser, Schachtelhalm, Moos, Huflattich, Brennessel, Brombeere, Weizen.

Mich wundert, dass Heinrich Detering nicht deutlicher anzusprechen versteht, was allen diesen Lebewesen in einem „ausgetrocknete(n) wüste(n) Land“ droht. Es reicht nicht, auf ansprechende Weise in Märchenwelten („Märchen“, „Glücksmarie“, „in Großmutters Haus“, „from Hell“) oder Kindheitserinnerungen („vorübergehend“, „Schwimmschule, nachmittags“, „an der Wand“, „bei Kassel“, „den hätten Polen erschlagen“ und besonders beeindruckend „im Stall“) abzutauchen, es fehlen einfach die oben aufgereihten „Codewörter“, die das Gedicht zu einem GEDICHT und Emblem für die Heutigen, zu einem trigonometrischen Punkt in unübersichtlichem Gelände, machten.

  • 1. Zitiert nach Peter Huchel, Gedichte, Deutsche Buchgemeinschaft C. A. Koch`s Verlag Nachf., Berlin o. J., S. 145
  • 2. Zinnen-Verlag Kurt Desch, München o. J, S. 9
  • 3. Paul Celan. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, Suhrkamp Taschenbuch 3665, S. 40 f. und S. 606 ff.
  • 4. Zuerst im Hörfunk gesendet am 03.11.1952.  Zitiert nach Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte, R. Piper & Co. Verlag, München 2002, S. 54 f. und S. 201.
  • 5. Aus „landesprache“ 1960, zitiert nach Hans Magnus Enzensberger. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1963. Edition Suhrkamp 20, S. 48 ff.
  • 6. Hans Magnus Enzensberger: Mausoleum, Suhrkamp Verlag Frankfurt Main 1975, S. 46.
  • 7. Die Szene ist mit einer Replik der einzigartigen in Rom gefundenen Athena im (frei zugänglichen) Garten des Liebieghauses Frankfurt am Main zusammen mit dem erschlossenen Marsyas in einem bronzenen Nachguss zu betrachten.
  • 8. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon, Darmstadt 1996, Reprograph. Nachdr. D. Ausg. Leipzig, Gleditsch, 1770, Spalte 1532.
  • 9. a. a. O.
Heinrich Detering
Untertauchen
Wallstein Verlag
2019 · 95 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3444-1

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