Im Gehen
1923 geboren in Wien, hat Ilse Helbich 2017 nach mehreren Prosaveröffentlichungen ihren ersten Gedichtband „Im Gehen“ im Droschl Verlag veröffentlicht, den sie als 93-Jährige Ende des Jahres 2016 fertig gestellt hat – das späte Lyrikdebut einer Person, die zwar eine Frau des Wortes war, jedoch als Autorin fiktionaler Texte lange im Hintergrund blieb. 1923 – zu diesem Zeitpunkt lebt Rilke noch. Helbichs Geburtsjahr liegt zwischen dem von Paul Celan (*1920) und dem von Ingeborg Bachmann (*1926), außerdem vor dem von Friederike Mayröcker, die 1924 geboren wurde.
Helbich wuchs in Wien auf, promovierte im Fach Germanistik und war zunächst als Verlagskauffrau tätig. Sie war über drei Jahrzehnte verheiratet und ist Mutter von fünf Kindern. Später schrieb sie für verschiedene Tageszeitungen und verfasste für den Österreichischen Rundfunk zahlreiche Radiosendungen. 1985 erwarb sie die Alte Post im Ortszentrum von Schönberg am Kamp, die sie renovierte und wo sie heute noch lebt. Es sieht aus, als habe dieser „room of one's own“, der in diesem Falle ein ganzes Haus ist, Helbichs Autorschaft maßgeblich befördert.
In Helbichs Gedichten ist die Stimme einer Autorin zu hören, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreift und in deren Bewusstsein sich weit stärker als bei Jüngeren manifestiert, dass sie schreibend dem Tod unweigerlich und rasch näherkommt. Das wird beim Lesen der dezidierter autobiographischen Prosa Helbichs ebenso deutlich wie bei ihren diskreter autobiographischen Gedichten.
Helbichs Gedichte, die der Band „Im Gehen“ versammelt, sind in der Zeit zwischen 1975 und 2015, also im Verlauf von vier Jahrzehnten entstanden. Sie reichen zurück in die Zeit vor dem Erscheinen ihres ersten Romans. Es sind Gedichte einer Autorin, die sich wahrscheinlich nie dezidiert als Lyrikerin verstanden hat, wohl nie in dieser Rolle zuvorderst hat reüssieren wollen. Dezidiert Historisches und Politisches ist hier, anders als in der Prosa der Verfasserin, ausgeklammert und man kann annehmen, dass die Gedichte teilweise wohl eher en passant entstanden sind – eine gute Überleitung zum Titel des Bandes: „Im Gehen“ ist ein unprätentiöser Titel, der sich aus zwei Worten, der Kontraktion „im“ und dem unregelmäßigen, normalerweise intransitiven Verb „gehen“, zusammensetzt. Während „im“, kontrahiert aus der Präposition „in“ und dem bestimmten Artikel „dem“, sowohl zeitlich als Position innerhalb einer Zeitspanne, räumlich als Position innerhalb eines genannten Raums oder modal im Sinne eines Modus, einer Art und Weise, gelesen werden kann, ist das Verb „gehen“ nachgerade vollgestopft mit Bedeutungen, von „sich schreitend fortbewegen“ (Woher? Wohin?) über „funktionieren“ bis „sich ausdehnen“ (wenn von Teig die Rede ist). „Im Gehen“ lässt sich weiterhin in der Bedeutung „jemanden verlassen“ lesen, eine weitere mögliche wäre „sich im Körper ausbreiten“ (im Sinne von „ein Ruck geht durch einen Körper“).
Hat man diese Bedeutungen aufgefächert, könnte man sich mit Blick auf den Titel auch ein wenig in der literarischen, philosophischen und religiösen Tradition umsehen, wo jede*r seine eigenen Assoziationen hat.
Wohin denn gehen wir? Immer nach Hause.
(Novalis)
Vielleicht geht man hier auf Heidegger'schen „Holzwegen“? Oder, in leichter Abwandlung des Verbs „gehen“, mit Hermann Hesse in dem bekannten Gedicht „Stufen“:
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
An keinem wie an einer Heimat hängen
[…]
Denken kann man auch an Wilhelm Müllers Verse aus dem Gedicht „Gute Nacht“ in der „Winterreise“, die das Transitorische des Lebens und eine gewisse Verlorenheit beschwören:
Fremd bin ich eingezogen,
Fremd zieh' ich wieder aus.
Der Mai war mir gewogen
Mit manchem Blumenstrauß.
[…]
Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit,
Muß selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Der Assoziationsraum ist den Lesenden des Titels schon geöffnet. Auch anhand von Reflexionen Helbichs, die in ihren zugleich so klar artikulierenden und doch in sich gekehrten Prosabänden nachzulesen ist, lässt sich der Titel „Im Gehen“ vielfach mit Bedeutung aufladen. In „Schmelzungen“, dem 2015 erschienenen Band mit Notaten, heißt es zu Beginn:
Das Gehen ist heute ein Fließen, sie streift über die gerade gemähten Wiesen langsam dahin, dann rastet sie auf einem der Feldblöcke, die wie Inseln im Grünen liegen
oder, wenige Seiten später:
Sie sitzt, hie und da, fährt ein Auto vorbei, ihr ist, als wären sie alle sehr rasch, wie gehetzt auf ihren Wegen, wahrscheinlich jedoch ist sie es selbst, die aus der aufgetragenen Lebensgeschwindigkeit herausgefallen ist, hinein in eine andere Art von Dasein, eine des Schauens, eine des Atmens, und wenn wieder ein Windstoß kommt und vergeht und die Sonne durch die Kleidung wieder spürbar ist.
Ilse Helbich zu lesen, insbesondere auch ihre Gedichte zu lesen, bedeutet, sich ein Stück weit in einen anderen Modus des Betrachtens, des Lesens und Denkens zu begeben, sich mit der Autorin in
diese andere Art von Dasein
hineinzuversetzen, eine Art von Dasein, die auf das Gegenwärtige zielt, in dem das Erinnerte aufgehoben ist – und auch „aufgehoben“ ist hier wieder im mehrfachen Sinne des Wortes zu verstehen. Die Gedichte brauchen nicht viel, um geistesgegenwärtig und der Sprache gewahr in Regionen vorzudringen, in denen gelebtes und ungelebtes Leben in Versen zusammenschießen, im vermeintlich Kleinen das Gewaltige, im Profanen das Poetische zu benennen. Häufig bleibt das sprechende Ich in der Redesituation mit sich allein, bisweilen tritt es in einer die Gegenwart beschwörenden und zugleich transzendierenden Geste in Beziehung zu einem Gegenüber, wie im folgenden Gedicht:
Wir kennen einander schon lange, lange
Und durch und durch, wie man zu sagen pflegt.
Ich weiß, dass du eine panische Angst
Vor Wespen hast, und du
Dass ich in der untersten Lade einen silbergrauen
Hasenschwanz aufbewahre.
Von einem Karnickel, das schon 60, nein
70 Jahre im Hasenhimmel ist!
„Wenn es denn einen Karnickelhimmel gibt“,
sagst du und lächelst
und schaust irgendwohin, wo
ich noch nie mit Dir war.
Es ist eine zunächst vermeintlich alltägliche, wenngleich intime Situation zwischen zweien, die hier geschildert ist. Gezeigt sind zwei, die in einem nicht näher bestimmten Verhältnis zueinander stehen, es könnten Liebende, aber auch Geschwister oder alte Freunde sein, die hier beschrieben sind und über deren Verhältnis lediglich gesagt ist, sie kennen einander „lange, lange“. Die Anapher unterstreicht die Dauer der Verbindung, die durch das „durch und durch“ nicht nur quantitativ als von erstaunlicher Länge, sondern auch qualitativ im Sinne besonderer Tiefe, quasi „durch Mark und Bein“ charakterisiert wird. Je eine Besonderheit, womöglich Idiosynkrasie der beiden Beteiligten wird herausgegriffen, die „panische Angst vor Wespen“ und das Aufbewahren eines objektiv wertlosen, subjektiv aber mit Bedeutung bzw. Erinnerung aufgeladenen Hasenschwanzes, Relikt eines längst toten Tieres. Das Adjektiv „silbergrau“ deutet womöglich auch auf das Alter des sprechenden Ichs und des angesprochenen Dus. Die geteilten Ängste und Momente des Glücks werden im Gedicht angespielt, das von hier aus kippt in die Frage nach dem, was nach dem Tod geschieht. Der symbolisch in der Schublade begrabene Hase, dessen Schwänzchen als „pars pro toto“ in einem „Erinnerungssarg“ liegt, wird zum Stellvertreter bei der Frage nach dem eigenen Leben nach dem Tod. Die kindliche Vorstellung vom „Hasenhimmel“ wird nicht etwa komplett rationalisiert, sondern lediglich infrage gestellt. Indem der Blick des angesprochenen Dus aber gerichtet ist auf ein „irgendwohin, wo / ich noch nie mit Dir war“, bleibt die Frage, was noch kommt, offen. Der Ort, der noch unbekannt ist, er könnte auch ein Utopia bezeichnen, ein Paradies, einen Freundes-, Familien- oder einen Himmel der Liebenden. Ilse Helbich hat sich in „Schmelzungen“ zur Frage nach der Transzendenz einerseits unbestimmt, andererseits aber dennoch mit einiger Gewissheit geäußert:
In all den Jahren hat der Ausblick aufs Transzendente mein Leben gewichtet. Jetzt ist es, als rücke diese Jenseitige immer näher, ja, es beginnt mit dem Alltäglichen hier zu verschmelzen. Wie merkwürdig, dass ich für dieses Andere keine Namen weiß, es das „Religiöse“ oder gar „Gott“ zu nennen, engt das, was da ist, in einen Panzer überkommener Vorstellungen. Es ist erstaunlich, wie dieses Andere in allen Erlebenssphären, in allen Sinnen zuhause ist. Sein Erlebnis umschließt die Bereiche der Schönheit ebenso wie die körperlichen Erfahrungen -- ich könnte es in manchen Augenblicken auch als vitale Körperempfindung, also geradezu biologisch beschreiben.
Es ist der in vielerlei Richtungen offene, ins Physische, ins Ästhetische, ins Religiöse hinein gerichtete Blick, der aus den Gedichten dieser Autorin spricht, der in ihrem Schreiben widerhallt, wenngleich keine ungebremste Emphase zu erwarten ist und Sprache nicht nur als Medium der Verständigung, nicht nur schützend und stabilisierend, sondern bisweilen auch als bedrängend und bedrohlich erfahren wird. So klingt es im ersten Gedichten des Bandes an:
der Harnisch aus Wörtern
das Gitter der Bilder
das Gitter aus Bildern, der Harnisch der Wörter
der Harnisch der Bilder das Gitter der Wörter
das Gitter der Wörter im Käfig bin ich
Nahezu ohne Interpunktion auskommend genügen diesem Gedicht fünf Substantive: „Harnisch“ - „Wörter“ - „Gitter“ - „Bilder“ - „Käfig“ um den Standpunkt des sprechenden Ichs zugleich exakt zu bestimmen und das Nachdenken über Möglichkeiten und Grenzen von Sprache zu stimulieren. Das einzige Verb, das auftaucht, ist das Vollverb „sein“, sodass das Gedicht selbst statisch anmutet, felsenfest. Und tatsächlich definieren die Substantive, die hier in verschiedenen Genitivmetaphern kombinatorisch auftreten, einen engen Raum, einen Käfig, in dem sich das sprechende Ich findet. Dennoch ist der Käfig, der hier beschrieben ist, vom Gedicht aus betrachtet nicht lediglich als freiheitsberaubender Raum zu verstehen. Denn der im ersten Vers zur Sprache kommende „Harnisch der Wörter“ ist durchaus als schützendes Gebilde aufzufassen, gleichsam als Korsett, das das Geschaute hält und stützt und fasst und rahmt: „der Harnisch der Wörter / das Gitter der Bilder“. Man beachte, wie das sprechende Ich hier mit wenigen Worten an ein Problem allen Sprechens rührt: Was erst einmal in Worte gefasst, was auf den Begriff gebracht ist, ist damit zugleich gefasst wie ein Edelstein, aber auch gefasst wie die Beute des Jägers – im Käfig gefangen.
Mit diesem Gedicht am Beginn des Bandes ist die hohe Reflexion des Ichs auf den Akt des Sprechens überaus deutlich, zeigen sich das Rettende und das Einengende der Sprache gleichermaßen. Die Bilder vom Gefangensein des Ichs tauchen in mehreren der Gedichte des Bandes auf. Sie sind verteilt auf vier Kapitel: „Frühe Gedichte“ (ca. 1975 – 1985), „Für Benn“ (1975), „Kindergedichte“ (1970) und „Späte Gedichte“.
Wo verortet Helbich selbst ihre Gedichte in ihrem Werk? Leider ist im Band nichts über die Entstehungsbedingungen zu erfahren, auch nichts über die Motivation der Autorin, aus der heraus sie diese Gedichte geschrieben hat und wie sie sie im Kontext ihrer Prosa verortet. Man vermisst also ein Vor- oder Nachwort.
Ilse Helbich steht in den besten Gedichten dieses Bandes in der Traditionslinie von Hilde Domin, Rose Ausländer oder auch Nelly Sachs klare und sparsam orchestrierte Gedichte geschrieben hat, die in ihrer erfahrungsgesättigten Unmittelbarkeit dringlich sind, ohne dabei je aufdringlich zu wirken. Die Verse und auch die Prosa gewinnen angesichts ihrer Sparsamkeit im Gebrauch der Worte etwas Meditatives und Überzeitliches.
In „Schmelzungen“ heißt es:
Das Bild ist: Sie geht dahin auf der Landstraße, die Bäume rechts und links gehen auch, die Gehende überholt einen nach dem anderen. Sie ist keinem Auto begegnet und keinem Traktor. Die Felder und Wiesen rechts und links liegen jedes in seiner Farbe. Wenn sie manchmal an einem der niederen, in sich gekehrten Gehöfte vorbeikommt, sind Tore und Fenster fest geschlossen, kein Hundegebell, Stille. Ringsum geht alles unter in Grün. Nur die vom Ostwind gekrümmten Bäume sind noch da. So wie jetzt wird sie immer dahingehen.
Gerne läse man weitere Gedichte und Prosa der Autorin. Die abschließende Bemerkung von „Im Gehen“ liest sich daher regelrecht erschütternd:
Es ist gesagt, was zu sagen war. Das Andere, das jetzt ist, entzieht sich den Worten. Tief innen ist jetzt eine Melodie, die sich dem Nachsingen versagt.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben