Die Zeit ist eine schlechte Münze
Hier sind sie immer weit weg. Und doch sitzen sie ständig im Nacken und ziehen an den Haaren und pusten in den Ohren. Sitzen mit am See oder lauern in der Küche, am Küchentisch, wie damals, als sie zu Besuch kamen. Wann lässt du die Messe lesen?
Dies schreibt die Erzählerin in Ivna Žics Die Nachkommende über ihre kroatischen Großeltern. Žic, die wie die Erzählerin, in der Schweiz lebt, eine "Nachkommende" ist, lässt ebenjene von Paris nach Kroatien, wie damals, und in einem Bus zurück in die Schweiz fahren, eine Affäre im Gepäck. Es passiert nichts. Das Buch beschreibt Empfindungen, Manifestationen der Leere, kombiniert sie mit ein wenig zeigefingerig vorgetragenen Weisheiten über "junge Leute im Sommer, Kaffeehaustischen dicht nebeneinander und Touristen mit Rucksack". Was genau der erzählerische Wert hier sein soll, eines persönlich gefärbten Erinnerungsbuches, das jede Tiefe scheut, aber auch jede Narration, sich auf Introspektion in einer eckenlosen Sprache verlässt, bleibt etwas rätselhaft.
Dafür hat das Werk eine selbstbewusste Form gefunden, mit eingestreuten Gedichten, kroatischen Passagen, Liedern oder auch leeren Seiten. Auch wird den dortgebliebenen Großeltern und Nachbarn, Freunden und Passanten viel Platz eingeräumt, doch macht das wiederholende Bephrasen von Bäckerspezialitäten, wie sie auf dem Weg zum Flughafen im kindlichen Alter von soundso viel Jahren geschmeckt haben, noch kein Madeleine im Kaffee, beziehungsweise: hätte eine kommentarlose Sammlung privater Fotografien nicht denselben Effekt?
Einer der Rucksackrücken fragt mich plötzlich:
Is this a normal procedure?Und ich möchte Ja sagen.
Und ich möchte Nein sagen.
Und ich kann nur vielleicht denken.
An anderer Stelle:
Ich schaute nur hinaus und sagte zu Jasna: Er hat zu mir gesagt, dass ich jedes Gefühl in einem Vortrag äußere.
Wir fuhren weiter und ich sagte: Ein andermal hat er gesagt, dass ich nicht fähig wäre, meine Wünsche zu benennen.
Für wen ist dieses Buch geschrieben, was will es angehen, was will es errichten? Dieses Dazwischen, dieses Suchen und den Moment des Suchens einfrieren? Es geht um vage Verschollenes, fade Erinnertes, dem letztlich auf diesen wenigen 150 Seiten aber die erzählerische Dichte fehlt, um wirklich eine mutige oder neue Richtung zu finden. Sätze wie "Zagreb ist ein übergroßes Café, eine Promenade des Betrachtens" oder "Wenn ich mich bei niemandem melde, ahnt hier keiner, dass ich durch die Straßen spaziere", helfen nicht weiter, der Blick will nicht weiter gehen, als im eigenen Album zu spekulieren. Selbst wenn die dunkle jüngere Geschichte sich im Erzählten heranschleicht. Das Schicksal des umherirrenden, einst malenden Großvaters, und der zurechtgemachten Großmutter wird nur beiläufig zum Zusammenreimen gebracht.
Es geht Žic um Atmosphäre, doch die will nicht recht aufkommen. Tatsächlich sind am dichtesten die eingestreuten Kurzformen und Gedichte, wie NACHT 1-3, die sich von dem etwas unausgegorenen Prosastil aus Aufzählung einerseits und superkurzen Stakkato- (Ich gehe. Ich träume nicht. Weiter.) Schüben deutlich abheben, zugunsten weggelassener, nicht ausgesprochener Leerstellen.
VERGISS NICHT: DIE LANGSAMEN
Aus dem Hinterhof Musik.
Durch das offene Fenster herein: Musik.
Jemand hört Radio in einer Küche.
Klassik am Mittag.
Ein schwerer Körper im Bett.
Ein klingelndes Telefon im anderen Zimmer.
Irgendwo ein schnaubendes Pferd neben mir.
Ein Tag, der vorangeht.
Ein Tag, der noch nicht beginnt.
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