Schafe, Klage, Liebe, Mond und „Negative Capability“
In Deutschland assoziiert man Romantik am liebsten mit dichten Wäldern, weiten Feldern, dunklen Burgen und freien Geistern. Die Stadt Jena war ein verschlafenes Nest, als dort in der sehr gelehrigen WG der Gebrüder August und Friedrich Schlegel die Frühromantik ihren Ausgang nahm. Als John Keats 1795 in London auf die Welt kam, trieben in den Fabriken bereits Dampf- und Spinnmaschinen die industrielle Revolution voran. „Spinning Jenny“ war ein Wunderwerk der Technik — und verlangte Blut: Die Proletarier müssen die Maschinen hungernd am Laufen halten, und wenn sie dabei ihre Hand verlieren, landen sie auf der Straße. Keats war Sohn eines Stallmeisters, der bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, als der spätere Dichter (und Arzt) noch ein Kind war. Seine Mutter starb als er 14 war an Tuberkulose: 11 Jahre später sollte Keats derselben Krankheit erliegen.
In der kurzen Zeit, die er hatte, schuf Keats ein Werk, das mittlerweile zu den wichtigsten der englischsprachigen Lyrik überhaupt gezählt wird. Seine Oden, 1819, also ein Jahr vor seinem Tod verfasst, gehören zu den meistinterpretierten und -diskutierten Gedichten des anglophonen Kanons. Zu seinen Lebzeiten war ihm wenig Erfolg beschert. Da er keine elitäre Bildungsanstalt besuchen konnte, hagelte es Kritik an seinem Stil, der sich nicht mit dem deckte, was der Gelehrtenstand als Maßstab kannte, sondern (weltfremderweise) als Sprache der Londoner Arbeiterklasse („Cockney“) geschmäht wurde. Während engstirnige Oberlehrer ihr Unvermögen in Verrissen von Keats bewiesen, fand er größeren Zuspruch unter den Dichtern seiner Zeit. Etwa bei Percy Bysshe Shelley, in dessen römischen Anwesen Keats seine letzten Monate verbrachte.
Im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis erscheint nun mit dem Versroman „Endymion. Eine poetische Romanze“ das umfangreichste Werk in zweisprachiger Ausgabe. Das Original entstand in nicht mal einem Jahr an verschiedenen Orten und steht zwischen den ersten veröffentlichten Gedichten und den vollendeten Oden. Die deutsche Übersetzung der mehr als 4000 Verse, die als Heroic Couplets (jambische Fünfheber) gehalten sind, besorgte Mirko Bonné. Nach eigener Aussage übersetzte er als Student fünf Jahre Keats anstatt zur Uni zu gehen. Deutschsprachige Leser konnten davon bereits durch eine Auswahl für Reclam (Werke und Briefe, 1995) profitieren. Jan Wagner hat ein kenntnisreiches Vorwort geliefert, der neben einer längeren Exegese des ersten Verses („A thing of beauty is a constant joy“) und biographischen Hinweisen auch einen recht hilfreichen Abriss der Handlung bietet. Von besonders großem Nutzen ist auch Mirko Bonnés Kommentierung des Texts. Denn neben Anspielungen auf Shakespeare und die Bibel tauchen in Keats Werk zahlreiche antike Figuren auf, die die wenigsten Leser allesamt im Kopf haben.
Endymion ist nämlich ein Hirte aus der griechischen Mythologie, der sehr gut aussieht, weshalb sich die Mondgöttin in ihn verliebt und er sich in sie. Nachdem sie ihm erschien, versucht der durch Liebe „hirnkranke Hirtenfürst“ sie wieder zu finden, denn das Fest für Pan, das am Anfang des Gedichts steht, wie wohl alles nach der jähen Trennung, bereitet ihm keine Freude mehr. Er geht in die Unterwelt sie wieder zu finden, kehrt zurück in die Welt der Menschen und verliebt sich dort in eine indische Magd, die sich als Cynthia herausstellt:
„Sie reichte ihm die holde Hand, und schau!/ Noch eh er ihr drei Küsse gab wie Tau, Entschwanden sie weit fort!“
Endymion lässt seine Schwester Peona, eine Erfindung Keats‘ zurück: und die einsame irdische Welt holt den Mythos in den Zeilen:
„Peona ging/ verwundert heim durch Wald, den Nacht umfing.“
Zuvor sind es das Leid des Verlusts, das Verlangen nach Hingabe, die großen bohrenden Fragen, geboren aus ihrer Abwesenheit, „die Schreckensmacht/ der Liebestyrannei“ auf die man sich in diesem Gedicht einlassen muss — auch wenn seine zauberische Welt, aus der sich Endymion immer wieder in sein Seelenleben zurückzieht, den heutigen Lesern noch weniger Halt bietet als Keats‘ Zeitgenossen.
Man sollte die Herausforderung annehmen, auch wenn Keats selbst sein Werk in seinem Vorwort als misslungen darstellt. Folgen wir besser den Versen. An seine Schwester Peona richtet Endymion nach seiner ersten Begegnung mit der großen Liebe folgende Worte:
„Peona! Meinen Durst zu löschen nach
Dem Lob der Welt war stets mein Ziel. Kein Dösen,
Kein niederes Phantom bloß, konnte lösen
Mein straffes Segeltuch, bereit zu Reise ...
Zerfetzt ist’s, nackt lässt’s meine Barke Kreise
Voll Trägheit Mein höhres Hoffen doch
Zieht weitre (...)
Worin liegt Glück? Wo willigen Gemütern
Gemeinschaft winkt, das göttliche Vereinen,
Gemeinschaft mit Essenz — bis das wir scheinen,
ganz aufgelöst, und frei von Raum. (...)“
Keats gelingt ohne philosophisch abgesegnetes Leitbild, den Unterschied zwischen Natur, Gefühl, Gedanke aufzuheben. „A fellowship with essence“ ist das Ziel der Dichtung für in: Zu erreichen ist es nur durch das, was Keats „Negative Capability“ nennt. Im Gegensatz zu den deutschen Romantikern ist dieser Begriffe nicht Teil eines großen intellektuellen Programms à la progressive Universalpoesie, sondern eine kleine Bemerkung in einem Brief an seine Brüder:
„Dass ein Mensch also fähig ist, sich in einem Zustand voller Unsicherheiten, Geheimnisse und Zweifel zu befinden, ohne sich nervös nach Tatsachen & Vernunft umzusehen.“
Bis heute scheinen diese Worte eine gute Anleitung für Künstler zu sein: Marianne Faithfull nannte ihr neuestes Album „Negative Capability“. In vielen Versen von „Endymion“ bekommt man einen Eindruck, was es für Keats heißen mochte, diesen Zustand auszuhalten:
„Nun vor sich keine neuen Wunder mehr
Und mit sich selbst allein, wie rau und schwer
War da der Heimweg zum gewohnten Ich!
Verrücktes Jagen nach dem Nebelwicht
Und dessen Irrlicht, das durch Nesseln flieht,
Uns in ein Sumpfloch, in ein Feuer zieht,
Hinein in irgendetwas, das man hasst.“
Wer sich auf dieses Werk einlässt, in einen Sog gelangt trotz der der fernen Mythologie und dem — Cockney hin, Cockney her — hohen Ton, kann vielleicht etwas von der Freiheit erfahren, die für Keats in der Dichtung stattfand. Bonnés hervorragende Übersetzung und die sehr gute Ausstattung des Buchs erleichtern deutschen Lesern diesen großen Dichter, für den man unter deutschen Romantikern kaum ein Pendant finden wird, zu entdecken.
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