Glühbirne, Stirnlampe
Es ist so eine Sache mit der Kunsttherapie und allem, was damit gemeinhin in einen Topf geworfen wird. Art brut etwa gilt vielen als Kunst von (und für) Outsider und Laien. Dass sie als anti-elitäre und anti-akademische Abrechnung mit dem Kunstbetrieb und seinen Hierarchien eine durchaus wichtige Position bezieht, kann man da schon mal übersehen. Wenn die Pressemitteilung zu Julia Cohens soeben auf Deutsch erschienenem Buch „ich wurde nicht geboren“ von „Poesietherapie“ spricht, ist das vielleicht nicht weniger als die kontrollierte Sprengung alter Vorurteile. Und doch greift der Begriff zu kurz, denn Cohens Bestandsaufnahme eines Ausnahmezustands beschwört zahlreiche Stimmen und Perspektiven, die (vermeintlich) therapeutische ist bloß eine davon.
Die US-amerikanische Dichterin setzt sich und uns Leser*innen in ihrem Band der schmerzhaften Frage aus, wie man mit jemandem leben kann, der lieber tot wäre. Sie schreibt konsequent aus der Perspektive einer Frau, die nach dem gescheiterten Suizidversuch des Partners ihr Leben neu kalibrieren muss.
Insbesondere wenn es um Stil und Form geht, ist Cohens Schreiben erratisch, flatternd, in Fragmente zersprungen. Protokollhafte Mitschnitte von Therapiesitzungen gehen fast nahtlos über in konventionellere Lyrikpassagen, dann sind da noch Listen („Fragen, die ich nicht stellen kann“, „Nicht vergessen“, usw.) und Theaterstückchen inklusive Regieanweisungen. Eigentlich braucht man es mit der Gattungszuschreibung gar nicht erst zu probieren. Nicht zuletzt, weil das Fragmentarische offensichtlich ein wesentlicher Teil von Cohens poetologischem Konzept ist und der Text sich einer eindeutigen Verortung ganz bewusst entzieht. Dadurch gelingt Cohen der Kunstgriff, dass man sich beim Lesen zumindest ein Stückweit in die Erzählende hineinfühlen kann: Auch uns fehlt der Halt, auch wir sind mitunter hilflos den Umständen ausgeliefert. Leicht zugänglich ist „ich wurde nicht geboren“ nicht und will es auch nicht sein.
Im ersten Teil versucht sich das – nennen wir’s ruhig so – lyrische Ich, J., an einer Inventur dessen, was unmittelbar nach dem Suizidversuch ihres Partners noch greifbar ist. Sie listet die Gegenstände auf, die N. in der Psychiatrie abgenommen wurden. Es folgt die genaue Anzahl mitgebrachter Mahlzeiten und gemeinsamer Scrabble-Spiele. Fast so, als würde all das etwas zur Sache tun. J. sagt: „Ich würde über etwas anderes schreiben, wenn ich an etwas anderes denken könnte als N.“ Alles, was sie wahrnimmt und sagt, verweist auf N.s Selbstmordversuch.
J.s Versuche, eine Sprache für das Geschehene zu finden, werden auch in Maria Hummitzschs Übersetzung greifbar. Sobald sie das sichere Terrain der Protokoll-Sequenzen verlässt, gerät diese Sprache ins Straucheln – um in assoziativ-poetischen, bisweilen sogar ganz schlicht schönen Bildern neuen Halt zu bekommen. „wir glauben, das meer ist unverwundbar & wir irren uns“, heißt es an einer Stelle. Unverwundbar ist hier nichts und niemand. Es wäre zu tröstlich, wenn in dieser Verletzbarkeit auch eine besondere Kraft läge, aber mit solchen Platituden hält Cohen uns nicht auf.
Das Autorinnenfoto auf dem Buchumschlag zeigt Julia Cohen nicht einmal, sondern viermal – immer das gleiche Bild, aber in unterschiedlichen Schieflagen. „I am a fragment in a fragmented age“, lässt die chinesische Schriftstellerin Ran Chen die gebrochene Heldin ihres Romans „A Private Life“ sagen. Auch J., Julia Cohens Erzählerin, ist selbst ein Fragment in einer unwiderruflich zersplitterten Zeit.
„Ich glaube nicht, dass man ohne Gefühl irgendwo hinkommt“, sagt J. Die Erzählerin durchlebt alle möglichen emotionalen Extreme. Von wohlstrukturierten Trauerphasen kann keine Rede sein, schließlich ist N. noch da, verwundbarer und verletzlicher als alles andere. Es gibt Momente der Nähe und der Intimität. Diese Momente sind besonders traurig. Von ihrem Partner erwartet sie weder Entschuldigungen noch Erklärungen, und Cohen tut gut daran, ganz bei der Perspektive dieser Erzählerinnenfigur zu bleiben. „ich habe versagt auf eine art, die noch enthüllt werden muss“, sagt sie. „ersetze mein herz durch eine glühbirne, ein bleichmittel. nichts passt.“ Bei der Enthüllung helfen die Therapeut*innen (und die Protokolle der Therapiesitzungen lesen sich im übrigen spannender, als man meinen könnte), aber eben auch das Schreiben – wie eine Stirnlampe, die auf dem Weg in die inneren Abgründe dafür sorgt, dass man sich nicht permanent den Schädel anschlägt.
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