Langsam Anschwemmendes, Angeschwemmtes
19.07.2019/ Uwe-Johnson-Förderpreis für Kenah Cusanit
Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis geht in diesem Jahr an Kenah Cusanit für ihren Roman Babel (Hanser Verlag). Die Preisverleihung findet im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage am Freitag, den 27. September, um 19:30 Uhr im Schauspielhaus Neubrandenburg statt. Bei BuchMarkt weiterlesen ...
Robert Koldewey steht im Mittelpunkt von Kenah Cusanits dichtem, vielschichtigen Prosadebüt. „steht“ ist allerdings deutlich übertrieben. Denn als die Handlung 1913 einsetzt, liegt die Hauptfigur kraftlos auf einer Liege, die Teil der Fensterbank seines kleinen Arbeitszimmers ist. Er zieht an seiner Pfeife und blickt auf den vorbeifließenden Fluss, „ohne dabei über etwas anderes, etwas Übergeordnetes nachzudenken“. Beinahe reglos verharrt er, legt in einer theatralischen Anwandlung „Liebermeisters Grundriss der inneren Medizin“ auf seinen Bauch, als könne er damit Symptome lindern, denn er sei, so erfährt man auf den ersten Seiten, an einer akuten Blinddarmentzündung erkrankt und dürfe sich auf gar keinen Fall bewegen.
Der Fluss, auf den er blickt, ist nicht irgendein Fluss, sondern der Euphrat, Koldewey keine frei erfundene Romanfigur, sondern er war ein deutscher Architekt, der auch Kunstgeschichte studiert und vor Abschluss seines Studiums die Universität verlassen hatte. Und er war ein Besessener, der am Beginn des 20. Jahrhunderts als Leiter die Ausgrabungen im Zweistromland Mesopotamien, der Wiege der Menschheit, verantwortete, bis er schließlich 1917 nach dem Einmarsch der britischen Truppen im Zug des 1. Weltkriegs sein Grabungsgebiet verlassen und nach Berlin zurückkehren musste. Besondere Verdienste erwarb sich der Abenteurer und Forscher vor allem mit der Ausgrabung Babylons im Gebiet des heutigen Iraks.
... die Reliefziegel Nebukadnezars, die Reliefziegel des Ischtartors, des Palastes, der Prozessionsstraße, die sich im Hof des Grabungshauses mehrere hundert Kisten hoch stapelten und die von Babylon den Euphrat hinunter über drei Kontinente nach Hamburg, die Elbe, die Havel, die Spree hinauf, bis zum Kupfergraben an den Steg der Berliner Museen zu transportieren waren.
Cusanits Roman spielt in drei verschiedenen Jahren. Er beginnt mit einem wenige Zeilen kurzen Vorspann, als die deutschen Forscher Mesopotamien 1917 verlassen müssen und sich Koldewey in Konstantinopel von seinem Mitarbeiter Buddensieg ruppig verabschiedet. Der Hauptteil der Handlung liegt im Jahr 1913 in Mesopotamien, während ein Abschnitt ins Jahr 1909 zurückblendet, als Koldewey bei einem Aufenthalt in Berlin Kaiser Wilhelm II. einen Besuch abstattete.
Robert Koldewey war im Auftrag der finanziell potenten Deutschen Orientgesellschaft und im Auftrag des Kaisers unterwegs, der persönliches Interesse an der Archäologie, besonders an der archäologischen Erforschung des Vorderen Orients hatte. Für die Deutschen war es eine Aufholjagd, ein koloniales Wettrennen mit den Rivalen Frankreich und England um die Ausgrabungen in Mesopotamien und das damit einhergehende Prestige, der Erste zu sein. Koldeweys Vorgabe war, rasch Forschungserfolge vorweisen zu können, die Ausgrabungen zu skizzieren, zu fotografieren und wissenschaftlich zu publizieren, zudem mit den Funden früherer Zivilisationen deutsche Museen zu bereichern. Die damals verschiffte koloniale Beute befinden sich noch heute als Schatz in Museen Berlins. Neben beweglichen Mauerteilen und Antiquitäten waren es vor allem Inschriften und Texte, die nach Berlin gelangten und von deutschen Philologen erforscht wurden, im Roman festgemacht am Forscher Friedrich Delitzsch, einem Mitbegründer der Deutschen Orientgesellschaft, und seinem Drängen nach einem größeren Nachschub an von ihm wissenschaftlich aufarbeitbarem Material. Delitzsch war es auch, der damals mit seinen Forschungen über die Zusammenhänge der Schriften des Alten Testaments mit Schöpfungsgeschichten des Vorderen Orients den auch aus heutiger Sicht nicht uninteressanten Babel-Bibel-Streit auslöste, der ebenfalls im Buch aufgegriffen wird.
Während Koldewey gesundheitlich angeschlagen auf seiner Liege ruht und sich zwingt, im Augenblick zu ruhen und an nichts Übergeordnetes zu denken, machen sich seine Erinnerungen und Überlegungen selbständig. Er gerät in einen Fluss assoziierender Gedankenbewegungen, ein Neben-, Über- und Miteinander, dem Cusanit in einem weiten Bogen Raum schafft, der vom Archäologenwettstreit im Vorderen Orient, Koldeweys neuen Grabungsmethoden und von der Mühsal und der Freude beim Ausgraben antiker Orte aus bis zu 25 Metern Tiefe erzählt, von seinem detektivischen Spürsinn und vom Quäntchen Glück, das ihn unter anderem zur Entdeckung der Fundamente des Turms von Babel, der Prozessionsstraße mit dem Ischtar-Tor oder von Resten des Palastes von Nebukadnezar führte. Und er denkt an den unterschiedlichen Umgang mit dem historischen Erbe zwischen Verwertung des Materials zum Bau neuer Häuser und Fundkonservierung.
Es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit wiederverwendeten, und es gab Kulturen, die ihre Vergangenheit ausstellten.
Koldewey erinnert seinen Widerwillen gegen ihm aufgezwungene Chiffriersysteme, die Lage und Fortschritt seiner Grabungen verschleiern sollten. Auseinandersetzungen mit deutschen Beamten kriechen hoch, sein Aussitzen der Bürokratie im osmanischen Reich und Stammesfehden in der Region. Er sinniert über seine Mitarbeiter Buddensieg, Andrae, Reuther und Wetzel und es wird schnell klar, dass man einen derart kauzigen Mann wie ihn lieber nicht zum Vorgesetzten haben wollte. Koldewey liest Briefe, in denen von Problemen und diplomatischen Kontroversen berichtet wird, schreibt selber welche, rekapituliert verschiedenste Listen. In dieses mäandernde Nebeneinander und Überschneiden von Gedanken fügen sich organisch zahlreiche Exkurse etwa über orientalische Bewässerungsanlagen, antike Müllentsorgung oder Berlin am Anfang des 20. Jahrhunderts ein, aber auch Überlegungen zur modernen Photographie, Erkenntnissen der Medizin, Mathematik und Geschichtsphilosophie sowie ein Vergleich der beiden Metropolen Babylon und Berlin, während im Hintergrund immer deutlicher Anzeichen eines drohenden Weltkriegs wahrzunehmen sind.
Es ist eine Fülle an gründlich recherchiertem Material, das die Altorientalistin Kenah Cusanit auf knapp 270 Seiten vor uns ausbreitet, eine Wissenschaftsgeschichte, die sie erzählend mit Leben und feinem Humor erfüllt. Köstlich etwa die scharfzüngigen Spitzen, die die Hauptfigur immer wieder gegen die Zunft der Philologen richtet. Lesend scheint es bisweilen so, als sitze man einem Fluss, vielleicht an der Spree oder an Euphrat oder Tigris, sieht Geschichten zu, die mit dem Wasser heranfließen. Einige fließen vorbei, andere verankern sich im Gedächtnis, verschränken sich mit heutigen Geschichten. Man vermag auf einmal Hintergründe turbulenter politischer Konflikte zu begreifen, die bis in unsere Gegenwart wirken, mitten in Europa und im Vorderen Orient. Dass Koldewey im zweiten Teil des Buchs aufsteht und sich wundersam geheilt auf den Weg macht, um der geheimnisvollen Gertrude Bell entgegenzueilen, ist nur eine weitere der vielen Wendungen dieses beeindruckend wunderlichen Romans.
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