Der raue Gruß der Krähe
Lars Gustafsson, 1936-2016, zählt zu den bekanntesten Schriftstellern Schwedens und muss einer deutschsprachigen Öffentlichkeit wohl nicht mehr vorgestellt werden. Denn seine Werke, Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, regelmäßig in deutschen Feuilletons besprochen und werden von vielen gern gelesen. Gustafsson lebte zudem einige Jahre in Deutschland und erhielt etliche Auszeichnungen für sein umfangreiches literarisches Werk, darunter die Goethe-Medaille 2009 und den Thomas-Mann-Preis 2015. Nun liegt sein letzter Gedichtband vor, den er knapp vor seinem Tod fertiggestellt hat. Er erschien 2016 unter dem Titel „Etyder för en gammal skrivmaskin“ und wurde von Verena Reichel ins Deutsche übertragen.
Man könnte jetzt den Gedichtband literaturwissenschaftlich fundiert in seine Einzelteile zerlegen, um diese dann, wiederum theoretisch fundiert belegend und erklärend, erneut zusammenzusetzen, ihn im Gesamtwerk des Schriftstellers verorten, darauf kenntnisreich Bezug nehmen. Man könnte etwa über den philosophischen Unter- oder Überbau schreiben – der Schriftsteller war Philosoph, nein, er war ein Philosoph, der auch Schriftsteller war und der einmal über sich sagte:
Ich neige dazu, mich als Philosophen zu betrachten, der die Literatur zu einem seiner Werkzeuge gemacht hat.
Literatur als Werkzeug also, ein eigenwilliger Ansatz mit quasi pädagogischer Färbung! Gustafsson ließ wie nebenbei philosophische Überlegungen in seine Werke einfließen und grundierte damit auch seine letzten Gedichte.
Man könnte nun Details aus diesem Buch herausgreifen, Motive herausarbeiten, etwa die im Titel dieser Besprechung auftauchende Krähe, könnte in diesem Zusammenhang über die mythologische Bedeutung von Raben und Krähen, über ihr Vorkommen und ihre Bedeutung in Sagen und Märchen schwadronieren, um dann irgendwann wieder zurück etwa zu Gustafssons kurzem Gedicht „DIE KRÄHEN“ gelangen, dem die von mir gewählte Titelzeile entnommen ist. Man könnte sich gewiss auch trefflich über den Begriff „Etüde“ verbreitern, der an Geläufigkeitsübungen und das Abmühen von Klavierschüler*innen erinnert, könnte das Klavier mit dem Motiv der Schreibmaschine in Zusammenhang setzen ... allein, es widerstrebt mir, mich auf diese Art und Weise Gustafssons „Etüden für eine alte Schreibmaschine“ zu nähern, die zwar zweckmäßig, vielleicht auch richtiger im Sinne einer Exegese wäre, aber den Kern des Buchs möglicherweise trotzdem verfehlen würde. Denn diese Zusammenstellung entzieht sich einer gängigen Beurteilung, sie ist wahrhaftig und weise, lässt mich respektvoll verstummen.
Ein passender Titel für dieses Buch wäre „Abschiede“. Hier spricht ein Dichter am Ende seines Lebens, der um die Nähe des eigenen Todes weiß und Abschied nimmt. Er tut dies unaufgeregt in meist kurzen Gedichten, die nie hermetisch werden, sondern stets einfach scheinen, zugleich komplex an Lebenswahrheiten rühren. Sie sind von Melancholie grundiert und atmen das Staunen eines alten Mannes, der rege geblieben ist und seine erhalten gebliebene Freude am Leben zeigt, das bald enden wird. Er erinnert sich in nüchternem Ton an Ereignisse seines Lebens, etwa an Szenen seiner Kindheit. So soll er zum Beispiel Erwartungshaltungen entsprechen und als Volksschüler Briefmarken sammeln, weil „man nicht normal“ war, wenn man es nicht tat. Und er hat es widerwillig probiert, dieses vermeintliche Normalsein, um sich bald wieder davon abzuwenden und schließlich zu resümieren:
Noch heute empfinde ich jedes Mal
wenn ich mit Briefmarken umgehen soll
ein schleichendes Unbehagen.
Und ich war nie richtig normal.
Hier gibt es kein Auftrumpfen beim Erinnern, kein Prahlen und keine Feier seiner Andersartigkeit, sondern ein leises Kopfschütteln, ein uneitles Konstatieren seines frühen kritischen Bewusstseins und einer gewissen Aufsässigkeit bei der Konfrontation mit dem von ihm erwarteten Verhalten und dem Entdecken der eigenen Wahrheit. Erinnert werden in poetischen verdichteten Schnipseln Tage, die „aus lauter kleinen Ereignissen“ bestehen, Begebenheiten und Menschen, etwa der kleine schwedische Bahnhofsort Ramnäs, die Schauspielerin Gun Arvidsson, Theateraufführungen oder der Dichter Borges. Gustafssons Erinnerungen zeigen sein waches Bewusstsein, werden zuweilen von Träumen begleitet und mit seiner Phantasie bereichert, die verändert, weiterspinnt und eine andere, ebenfalls mögliche Realität umkreist. Manchmal sind es visuelle Erinnerungssplitter, die er aufruft, manchmal Gehörtes, das zuweilen mit Wehmut poetisch wachgerufen wird und das Vergehen des eigenen Körpers nachbildet, etwa die „wehmütig knarrenden Türen“ der fünfziger Jahre in alten Katen, die nun dem Verfall preisgegeben sind. Oder die Erinnerung an eine alte Schreibmaschine, an
Vereinzelte melancholische Anschläge
oder das muntere Geklapper
Er erinnert sich, wie „eine einsame Remington / in einer Kaskade von Anschlägen aufbrauste“ und resümiert:
Es war eine Zeit,
als man die Menschen
noch denken hörte.
Bei der Lektüre von „Etüden für eine alte Schreibmaschine“ kann man das Denken des Menschen und alternden Dichters nachvollziehen, der um Verluste und Vergänglichkeiten weiß. Er war ein „Logonaut“, der mit wachen Sinnen durch seine Welt ging, sie an Worte band und begreifbar machte, war einer, der langsam aus der Zeit fiel und bis zum Schluss nichts einfach so hinnahm, sondern die Beschwernis durch einen müden Körper und eine müde Seele einfing, zugleich seine querdenkerische Aufmüpfigkeit und seinen trockenen Humor beim Nachdenken über den Tod bewahrte:
Ich frage mich:
Wenn man also in der Hölle ankommt,
woher weiß man, dass man wirklich in der Hölle angekommen ist?
Und nicht nur in einer Ecke
des Üblichen?
Spätestens beim Lesen dieser Zeilen taucht allerdings die Frage auf: Handelt es sich um ein Gedicht? Ist es nicht vielmehr Prosa, die Gustafsson (willkürlich) in Verse bricht? Ja. Mag sein. Doch das Buch liegt nicht anonym vor, wir wissen um den Autor, kennen sein Geburtsjahr, seine Biografie. Ich sehe einen alten Mann, der, schon reichlich kurzatmig, letzte Gedanken formuliert, der immer wieder innehalten und Atem schöpfen muss. So betrachtet scheinen mir die Zeilenbrüche stimmig.
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