„sprechen wie Nadeln auf der Haut“
Lavinia Greenlaw wurde 1962 in London geboren und hat die meiste Zeit ihres Lebens auch dort verbracht. Ihr facettenreiches Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Libretti, Reportagen und Arbeiten fürs Radio. Vor allem aber ist die Britin Dichterin und hat bisher sechs Gedichtsammlungen publiziert, die zum Teil ins Deutsche übersetzt wurden. Erinnert sei etwa an die Lyrikbände „Nachtaufnahmen“ (1998) und „Minsk“ (2006), die bei DuMont erschienen sind, von der Kritik begeistert aufgenommen wurden und heute vergriffen sind.
Nun legt die Edition Lyrik Kabinett mit „Eine Theorie unendlicher Nähe“ ein weiteres Werk der Dichterin in einer zweisprachigen Ausgabe vor – die Übersetzerin Wiebke Meier hat Greenlaws Texte ins Deutsche übertragen. Es sind leicht-luftige, dabei hochkonzentrierte Gebilde, die in drei Kapitel gegliedert sind. Schlagwortartig könnte man sie dadurch kennzeichnen, dass sie den weiten Spielraum zwischen drei V-Worten ausloten: Version, Variation und Verwerfung.
Durch die Welt reisen, explizit
durch Verwerfung und Bruch.
So beginnt „Auf dem Berg“, das vorletzte Gedicht dieses Bandes, das mit diesen zwei Versen noch einmal die Essenz vieler der vorangegangenen Gedichte einfasst, die die Unwägbarkeit der menschlichen Existenz nicht nur poetisch umspielen, sondern mitten hinein stechen in unser Geworfensein in die Welt und ins Leben, unser Ausgesetztsein zwischen Alltag, Träumen, Abgründen und vereinzelten „Himmelsinsel“n.
Die Welt ist Versionen, schnell und weit,
abgeleitet, mannigfach
Das vorliegende Buch bezeugt ein waches Sehen und umkreist das wieder und wieder Gesehene. Das „Ich“ dieser Gedichte (er)lebt „die Welt zu schnell, zu weit“ und sehnt sich nach „Heilung von der Lichtgeschwindigkeit“, zugleich erkennt es, dass wir „keine Wahl“ haben und alles Streben nach Ruhe und Verlangsamung zum Scheitern verurteilt ist. Greenlaw wirft ihren nüchtern-lakonischen Blick auf den Menschen, dem „geliehene Zeit“ zur Verfügung steht, um „eine Version des Vollständigen“ werden zu können und zugleich zu „lernen, / sich am Schwinden zu messen“. Im Mittelpunkt der Gedichte steht das ewige Thema Liebe, jene zum eigenen Ich und jene zu einem Du, die in seltenen Momenten in ein Wir mündet, das flüchtig bleibt, alsbald geradezu regelhaft von Verletzungen und Enttäuschungen versehrt wird und wieder in zwei Ichs zerbricht. Die Dichterin bekennt freimütig:
Nicht das Thema interessiert mich,
sondern die Variation
Ihr sezierender Blick sieht Variationen von Lieben, Entfremdungen und Verlusten, die nie gleich sind, sich jedoch bis zum Verwechseln ähneln, wenn Träume auf schattierende Gewohnheiten stoßen und Wünsche mit der Mühsal des Alltäglichen konfrontiert werden. Greenlaw verdichtet den stürmischen Beginn der Liebe, beeindruckend in Szene gesetzt etwa im Gedicht „Essex Kiss“. Wir begegnen hellem Glanz und dem Entgleisen der Geografie, sehen dem Tanz junger Mädchen zu und jungen Männern mit ihren aufgeschossenen, begierigen Körpern. Da ist das wogende Einnehmen und Geben von Räumen, der Eintritt in Terrains, „wo Ungewissheit herrscht“. Bald jedoch flaut der Rausch ab, wir sehen den „Mann, der über seine Frau / hinaus nach der Geliebten greift“, es folgen Vereinsamung, „Das Ende einer Ehe“, Trennung und schließlich in „Stumme Disco“ die vollendete Bewegung einer vitalen, allein tanzenden Frau. Der Wunsch nach Beständigkeit bleibt, klingt wiederholt in den Gedichten an, etwa wenn eine Haarlocke gefunden wird, eingenäht in die Westentasche eines Onkels. Diese Sehnsucht nach Ewigkeit kollidiert mit der Sehnsucht nach Entgrenzung und mit einer utopisch bleibenden Theorie der Freiheit, deren versuchte Einlösung allerdings kaum je den eigenen, eng gezogenen Rahmen überschreitet, uns schon mal in den „Blues“ abrutschen lässt, in dem man sich „klein im Rauschen durch leere Luft“ wähnt oder als erlebte man bloß „Szenen aus einem Roman“. Zugleich weiß man sich mit all den persönlichen „Eigenarten und Variablen“ unsicher verankert im realen Leben, in dem jeder Blick in den Spiegel auch das Potential hätte, ein (neues) Fenster zu öffnen.
Jeder Schritt ein Eintreffen
des Vertrauten im Unbekannten.
Greenlaw webt in ihre Gedichte zahlreiche Bezüge ein, etwa wenn sie die Aktaion-Sage aufruft, Verse von Geoffrey Chaucer oder Elisabeth Bishop zitiert und Anklänge an japanische Kampfkunst oder den englischen Komponisten Coleridge weckt. Sie werden zu Bestätigern, dass man sich nicht entkommt, dass man unentrinnbar nicht anders vermag, als sich stets wieder nur „fürs Neue aufs Alte zu beziehen“ und zu „lernen / sich am Schwinden zu messen“. Selten rutschen der Dichterin dabei abgegriffene Formulierungen dazwischen, etwa wenn es heißt:
... Wir lebten in jedem einzelnen
Augenblick, trugen nichts vom einen zum nächsten.
Bei der Lektüre erstaunt zuweilen, dass nie abgrundtiefer Pessimismus aus Greenlaws Gedichten weht, schon gar nicht Alarmismus. Stattdessen begegnen wir ihrer poetisch aufgeladenen Nüchternheit angesichts unserer Leben und Lieben mit ihren sich nie gleichenden, doch ähnelnden Verläufen. Es sind Wahrnehmungen von Wiederholungen je eigener Erfahrungen, die die Dichterin präzis seziert und mit ihrer knappen Sprache neu zusammenfügt zu so varianten- wie assoziationsreichen Motiven und Bildern, sie geschmeidig hin und her wendet und voranschreibt, während die Welt sich mit uns von all dem ungerührt weiterdreht. Und selbst für diese gilt:
[s]olche Beständigkeit ist keine Jubelfeier.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben